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"Unbekannter Bekannter"

Am 29. Juli jährt sich der Geburtstag des französischen Adligen, Staatstheoretikers und Politikers Charles Alexis Henri Clérel de Tocqueville zum 200. Mal. Seine Familie führte ihren Stammbaum bis auf Wilhelm den Eroberer zurück. Berühmt wurde Alexis de Tocqueville durch eine Studie, die er nach einer ausgedehnten Reise in die USA 1831 verfasste: "Über die Demokratie in Amerika".

Von Hans Martin Lohmann |
    Als erste philosophische Untersuchung der modernen Demokratie zählt sie noch heute zur Standardlektüre der Politischen Wissenschaften. Zwei Bücher aus dem Campus Verlag versuchen nun Leben und Werk Tocquevilles in Erinnerung zu rufen. Andre Jardin hat eine umfängliche Biografie geschrieben, während Karlfriedrich Herb und Oliver Hidalgo eine Monographie aus eher wissenschaftlicher Perspektive verfasst haben. Hans-Martin Lohmann hat beide gelesen:
    In Deutschland, so scheint es, hat der französische Schriftsteller und Politiker Alexis des Tocqueville, dessen 200. Geburtstag in diesen Tagen begangen wird, bis heute nur mäßig reüssieren können. Gewiss, in der modernen Amerikanistik und Politikwissenschaft, wie sie an deutschen Universitäten vertreten sind, wird Tocqueville als Klassiker gehandelt. Sein Buch "Über die Demokratie in Amerika" gilt im akademischen Raum seit eh und je als Standardwerk und hat sich seinen unverbrauchten intellektuellen Reiz über mehr als 15o Jahre bewahrt, wovon sich der unvoreingenommene Leser leicht überzeugen kann. Aber sonst? Tocqueville, so notierte jüngst Hans-Peter Müller in der Zeitschrift Merkur, sei in Deutschland immer noch ein "unbekannter Bekannter".

    Dabei war es, wie Müller in Erinnerung ruft, kein Geringerer als der große Gelehrte Wilhelm Dilthey, der schon 1910 die Bedeutung Tocquevilles als einer der wichtigsten Analytiker der politischen Welt würdigte und ihn auf eine Stufe mit Aristoteles und Machiavelli stellte. Diltheys nachdrücklicher Hinweis auf den Franzosen fruchtete allerdings insofern wenig, als das einschlägige "Feld" in Deutschland bereits besetzt war – durch Karl Marx und Max Weber. Müller schreibt:

    "Wenn man bedenkt, dass Marx vom ökonomischen Primat und Weber vom politischen Primat und zuweilen vom kulturellen Primat – der protestantischen Ethik – ausgehen, so sind die wesentlichen Ansatzpunkte bereits abgedeckt, um die 'Große Transformation' zur Moderne zu erklären: Ökonomie, Politik, Kultur. Unter dieser Warte erscheint Tocqueville als früher Protosoziologe mit durchaus fruchtbaren Einsichten, aber eben als Vorläufer der eigentlichen Soziologie, die wir meist mit Durkheim, Weber und Simmel beginnen lassen."
    Schließlich mag zur Ignoranz gegenüber Tocqueville in Deutschland beigetragen haben, dass er einen Typus des Intellektuellen repräsentiert, der schwer einzuordnen ist, was hierzulande immer eher als Makel erscheint. Er gehörte keiner Partei, Schule oder Richtung an, war Aristokrat und Demokrat in einer Person, ein Liberaler, der an die göttliche Vorsehung glaubte, kurzum ein Mann, den der Bielefelder Soziologe Claus Offe in einem kürzlich veröffentlichten Essay als eine Art "multiples Selbst" charakterisiert hat. Das entspricht der Einschätzung eines amerikanischen Soziologen, bei dem von "many Tocquevilles" die Rede ist.

    Ein solch schillernder, ambivalenter Typus hat es rezeptionsgeschichtlich nicht leicht.

    Der deutsche Leser hat jetzt Gelegenheit, die facettenreiche Gestalt des französischen Adligen authentisch kennen zu lernen. Denn die umfangreiche Biografie von André Jardin, in seiner Eigenschaft als Präsident der Nationalen Tocqueville-Kommission Frankreichs und Mitherausgeber der großen französischen Tocqueville-Werkausgabe als Autor bestens empfohlen, ist auch gut zwanzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung immer noch die zuverlässigste und erschöpfendste Gesamtdarstellung von Leben und Werk Tocquevilles. Jardin hat umfangreiches und schwer zugängliches Quellenmaterial gesichtet und ausgewertet, darunter die zum Teil unveröffentlichte Korrespondenz und handschriftliche Aufzeichnungen Toquevilles, dazu Materialien aus privaten Archiven der Familie, so dass sich alles in allem ein sehr komplettes Bild eines Mannes ergibt, der als Autor bis heute lebendig geblieben ist. Trotz der stupenden Gelehrsamkeit, die Jardin mit großer Souveränität vorführt, ist sein Buch in der deutschen Übersetzung ausgezeichnet lesbar.

    Charles-Alexis-Henri Clerel de Tocqueville, geboren am 29. Juli 18o5 in Verneuil, entstammte einer aristokratischen Familie aus der Normandie. Zu seinen mütterlichen Vorfahren gehörte Malesherbes, der Ludwig den XVI. vor dem Revolutionstribunal verteidigt hatte. Im Strudel der Ereignisse des Jahres 1794, als der jakobinische Terror seinen Gipfel erreichte, wurde Malesherbes hingerichtet, während Tocquevilles Eltern der Guillotine nur durch den Sturz Robespierres am 9. Thermidor entgingen. Unter Napoleon, als sich auch für den französischen Adel wieder vieles normalisierte, scheint die Familie weithin unbehelligt gelebt zu haben, im Sommer auf dem Land, im Winter in der Hauptstadt. Nach dem Sturz Napoleons und der Rückkehr der Bourbonen im Zeichen der Restauration machte Toquevilles Vater Hervé, der offenbar stets Royalist geblieben war, Karriere als Präfekt verschiedener Departements. Jardin deutet an, dass er trotz seiner Loyalität gegenüber dem Bourbonismus sich stets eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt habe.

    Wie sein Vater befolgte Tocqueville, der Jura und Geschichte studierte, um als Richter in den Staatsdienst zu treten, die Maxime, dass es gerade die Tugend des Aristokraten ausmache, das gesamte Leben dem Staat zu widmen, andernfalls es einer Art Dekadenz und Nutzlosigkeit verfalle. Um so erstaunlicher ist, dass er schon als junger Mensch begann, Zweifel an den sozialen Werten und der Überlebensfähigkeit des aristokratischen Universums zu hegen – der lange Schatten der Französischen Revolution wirkte nach. Jardin schreibt:

    "Diese Bewusstwerdung führte Alexis zur allmählichen Entdeckung jenes großen Problems, das ins Zentrum seines Denkens rücken sollte, nämlich der Ablösung der aristokratischen durch die demokratische Welt."
    Auch in anderer Hinsicht entsprach Tocqueville keineswegs den Erwartungen des adligen Milieus, indem er die Engländerin Mary Mottley heiratete, die nicht nur erheblich älter war als er, sondern als Mitglied der britischen Bourgeoisie auch alles andere als "standesgemäß". 1827 wurde Tocqueville Hilfsrichter in Versailles und versah damit eine Tätigkeit, der er offenbar ohne Begeisterung nachging und bereits 1832 wieder aufgab. Zuvor aber erreichte er bei seinen Vorgesetzten im Justizministerium, dass er unter dem äußeren Vorwand, das Gefängnissystem der Vereinigten Staaten zu studieren und diese Studien für eine Reform des maroden französischen Strafvollzugs fruchtbar zu machen, zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont in offizieller Mission in die USA reisen konnte. Es sollte sich rasch zeigen, dass der Grund der neunmonatigen Reise tatsächlich nur vorgeschoben war: In Wahrheit war Tocqueville, ein genauer und glänzender Beobachter, neugierig auf die gesellschaftlichen und politischen Institutionen der Neuen Welt und darauf, wie sich diese auf die Lebensweise der Menschen auswirken. Denn in der jungen demokratischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten erkannte er die unausweichliche Zukunft der Alten Welt, d.h. die notwendige Ersetzung der aristokratischen Lebensform durch die demokratische.

    "Seit wir hier sind, haben wir im Grunde nur einen einzigen Gedanken: das Land kennen zu lernen, das wir durchreisen; um das zu erreichen, müssen wir von vornherein die Gesellschaft zergliedern, müssen herausfinden, aus welchen Bestandteilen sie sich zusammensetzt, damit wir hier sinnvolle Fragen stellen können. Da wir genau wissen, was wir fragen wollen, sind auch die kürzesten Gespräche aufschlussreich, und wir können sagen, dass es keinen Menschen gibt, gleich auf welcher Stufe der Gesellschaft er steht, der uns nicht etwas lehren kann."
    Der zentrale Teil von Jardins Biografie befasst sich denn auch mit Tocquevilles USA-Reise im Jahre 1831/32 und mit deren intellektueller Verarbeitung in den beiden Bänden seines Hauptwerkes "Über die Demokratie in Amerika". Der erste Band erschien 1835 und wurde sofort ein großer Erfolg. Fast alle großen französischen Zeitungen brachten Ankündigungen und Rezensionen, der bekannte Kritiker Sainte-Beuve, so etwas wie ein Reich-Ranicki seiner Zeit, lobte das Werk überschwänglich, und die Académie Française sprach Tocqueville den mit 12ooo Francs dotierten Prix Montyon zu. Der zufällig in Paris weilende spätere Ministerpräsident des Königreichs Sardinien und führende Politiker der Einigung Italiens, Camillo Cavour, ließ sich zu einem enthusiastischen Urteil hinreißen:

    "Dies ist sicherlich das bemerkenswerteste Werk der Neuzeit. Meiner Meinung nach erhellt es wie kein anderes die politischen Fragen der Zukunft. De Tocqueville ist ein junger Mann, er hat eine glänzende Zukunft vor sich."
    Der fünf Jahre später erschienene zweite Band hingegen wurde von der Öffentlichkeit wesentlich reservierter aufgenommen. Obwohl die Grundidee dieselbe wie die des ersten Bandes ist – nämlich die Auslotung der Frage, wie in einer egalitären Gesellschaft, als welche sich für Tocqueville die US-amerikanische Gesellschaft darstellt, die Freiheit bewahrt werden könne –, erweist sich hier die Perspektive als abstrakter und damit unzugänglicher. Jardin legt die Lesart nahe, dass Tocquevilles pessimistischere Sicht auf die menschliche Natur und ihre Begrenztheiten sowie auf die indolente Haltung der Massen, die der Autor durch eine erneute Lektüre Pascals und Rousseaus gewonnen hatte, die französischen Leser und Kritiker eher abgeschreckt habe. Währenddessen sorgte in England John Stuart Mill mit einer überaus positiven Besprechung dafür, dass Tocquevilles Ruf als großer Schriftsteller noch unangefochtener wurde. Mill rühmte das Amerika-Buch als das erste große Werk der politischen Philosophie, das der Demokratie in der Neuzeit gewidmet sei.
    Gemäß seinen Vorstellungen von den Pflichten eines Aristokraten gegenüber dem Staat betrat Tocqueville im Jahre 1837 die Bühne der aktiven Politik. Jardin schildert ausführlich seine Zeit in der Abgeordnetenkammer, seine Haltung zur französischen Kolonialpolitik in Algerien und seine Tätigkeit als Oppositionsabgeordneter während der Julimonarchie. Tocquevilles große, wenn auch kurze Stunde als Politiker schlug im Anschluss an die Februarrevolution 1848 und die Ausrufung der zweiten Republik, die ihn auf der Seite der Liberalen und gemäßigten Republikaner sah – mit ausgeprägtem Affekt gegen alles Proletarische und Umstürzlerische. Nach dem blutigen Sieg der bourgeoisen Ordnungspartei über die Pariser Arbeiterschaft im Juni 1848 und der Wahl Louis-Napoleons zum Präsidenten avancierte Tocqueville Anfang Juni 1849 zum Außenminister, konnte sich in diesem Amt aber nur gerade fünf Monate halten. Jardin zufolge scheiterte der adlige Demokrat an den Komplikationen der französischen Außenpolitik im europäischen Mächtespiel, insbesondere an der römischen Krise und der intransigenten Haltung Pius IX.

    Der Staatsstreich Louis-Napoleons am 2. Dezember 1851, den Marx in seiner Schrift über den "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" scharfsinnig kommentiert hat, warf Tocqueville endgültig aus der politischen Sphäre. Als entschiedenem Gegner der bonapartistischen Diktatur blieb ihm nichts anderes übrig, als sich, wie Jardin schreibt, ins innere Exil zu begeben. In seinen letzten Jahren verfasste er ein grundlegendes historisches Werk über das Ancien Régime und die Revolution, das gerade in den letzten Jahren, im Zeichen der von François Furet angeregten Neubewertung der Französischen Revolution und ihrer Vorgeschichte, eine überraschende Aktualität erfahren hat. Tocqueville starb, für heutige Verhältnisse relativ jung, am 16. April 1859 an Tuberkulose.

    Jardins Tocqueville-Biografie vereint alle Vorzüge dieses literarischen Genres. Sie ist umfassend, genau und urteilsstark, lässt aber auch manches in der Schwebe, wo Zweifel und Vorsicht angebracht sind. Vor allem aber ist sie temperamentvoll und lebendig geschrieben und wird damit ihrem Gegenstand aufs Schönste gerecht.

    Wer aus politikwissenschaftlicher und -theoretischer Sicht mehr über Tocquevilles Werk, in erster Linie natürlich über seine Amerika-Studie, erfahren will, sei auf die knappe Monographie von Karlfriedrich Herb und Oliver Hidalgo verwiesen. Aus ihr erfährt der Leser in gedrängter Form alles, was die neue politische Wissenschaft Tocquevilles ausmacht und warum es sich auch heute noch lohnt, sich damit zu beschäftigen. Als wahrhaft prophetisch mag jener Satz gelten, den der Autor von Über die Demokratie in Amerika in der Einleitung zum ersten Band formuliert hat:

    "Ich gestehe, in Amerika habe ich mehr als Amerika gesehen; ich habe dort ein Bild der Demokratie selbst, ihres Strebens, ihres Wesens, ihrer Vorurteile, ihrer Leidenschaften gesucht; ich wollte sie kennen lernen, und sei es auch bloß, um zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben."
    Hans-Martin Lohmann war das über: André Jardin: Alexis de Tocqueville. Leben und Werk. Aus dem Französischen von Linda Gränz, erschienen im Campus Verlag.
    524 Seiten für 29.90 Euro. Außerdem über: Karlfriedrich Herb/Oliver Hidalgo: Alexis de Tocqueville, ebenfalls bei Campus erschienen. Das Buch hat 176 Seiten und kostet 12.90 Euro.