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Unbekanntes Universum

Es ist wieder ruhig geworden um die französischen Problemsiedlungen. Die Zahl der brennenden Autos ist auf ein Normalmaß von rund 50 Pkw pro Nacht zurückgegangen; die in- und ausländischen Journalisten sind wieder abgezogen. Doch eine Redaktion harrt weiterhin aus: Das Schweizer Nachrichtenmagazin "L´Hebdo" berichtet täglich über den Alltag einer Trabantensiedlung. Ein Bericht von Bettina Kaps.

    Graue Wände, ein schmuddeliger Teppichboden, vergitterte Fenster, ein Fahrrad. An der Wand klebt das Foto einer Fußballmannschaft und im Regal steht ein gold glänzender Pokal. Seit den Unruhen vom November ist das Vereinslokal des Fußballclubs von Bondy Büro und Wohnstätte für die Redakteure des Schweizer Nachrichtenmagazins "L´Hebdo". Jede Woche zieht hier ein anderer Journalist ein. Derzeit hat Michel Audetat seinen Schlafsack auf der Klappliege ausgebreitet. In Lausanne arbeitet der 48-Jährige als Kulturjournalist, jetzt feilt er an einem Essay über die Straßennamen dieser Nordpariser Vorstadt.

    "Technisch und materiell ist es reichlich kompliziert. So können wir unseren Computer nicht ans Netz anschließen. Wir müssen ziemlich viel ausprobieren und herum basteln. Genau diesen Kontrast finde ich spannend: Wir leben und arbeiten hier mit ganz einfachen Mitteln, aber unser Experiment stößt auf enormes Interesse."

    Michel Audetat ist selten allein in seinem Büro. Akim, Mustafa und andere Mitglieder des Fußballclubs schauen täglich vorbei, plaudern mit dem Schweizer Korrespondenten, liefern ihm Ideen und surfen ein bisschen im Internet. Oder aber sie gehen hinaus auf den Parkplatz und erklären den Jüngeren aus der Siedlung, warum die Schweizer hier eingezogen sind, sagt Akim. Der 20-Jährige ist in der Cité Blanqui, aufgewachsen.

    "Hier gibt es Leute wie Mustafa und mich: wir nehmen die Journalisten freundlich auf und helfen ihnen. Aber andere lehnen es ab, dass sich Michel und seine Kollegen in der Siedlung einnisten. Sie rufen ihnen Beleidigungen nach oder werfen Steine. Die sagen: "Den Journalisten bringt es was ein, aber uns nicht. Warum sollten wir sie ihre Arbeit machen lassen?" Und wir, wir wissen nicht, was wir darauf antworten sollen."

    Kürzlich hat das französische Fernsehen in der Siedlung eine Reportage gedreht. Die hat den Bewohnern nicht gefallen, sagt Mohamed.

    "Die Journalisten zeigen immer, was sie zeigen wollen, und zwar die negative Seite. Das bringt uns nicht voran und das ändert nichts an dem schlechten Bild, das die Franzosen von den Vorstadt-Siedlungen haben."

    Genau das wollen die Schweizer Journalisten anders machen: Sie wollen die Banlieue nicht als Reservat mit exotischen Menschen betrachten und auf deren Kosten schnelles Geld verdienen.

    Als Literaturkritiker ist Michel Audetat schon oft von Lausanne nach Paris gereist. Das Quartier Latin mit seinen Verlagshäusern kennt er gut, doch die Ringautobahn hatte er zuvor nicht überquert. Wozu auch?

    Inzwischen fühlt er sich in Bondy ein bisschen heimisch und hat Gewohnheiten entwickelt. So isst er regelmäßig beim Asiaten und kauft seine Zeitungen beim Marokkaner. Jamal hat den Schweizern schon manchen interessanten Kontakt vermittelt. Er vertraut ihnen.

    "Ich bin angenehm überrascht. Es ist ja eine Premiere, wie mir scheint. Die Journalisten, die sich hier niederlassen, behandeln die Information objektiver als andere, sie geben wahrheitsgetreu wieder, was die Menschen sagen. L´Hebdo ist eine ehrliche Zeitung."

    Zu viel Nähe kann auch blauäugig machen. Doch dass die Banlieue keine heile Welt ist, haben die Schweizer am eigenen Leib erlebt: Ein Vorgänger von Michel Audetat wurde abends in seinem Büro überfallen: Als er Unbekannten die Tür öffnete, wurde ihm Tränengas ins Gesicht gesprüht. Nur mit Mühe konnte er die Eindringlinge zurückdrängen. Auf seine Hilferufe reagierte niemand im Haus – auch das eine Erfahrung, die für viele Bewohner der Banlieue alltäglich ist.

    Der Journalist erzählte sein Erlebnis im Blog - und auf einmal interessierten sich alle französischen Medien für das Experiment. Gewalt in der Banlieue, das passt ins Bild. Sogar die Hilfsorganisation "Reporter ohne Grenzen", die sich für bedrohte Journalisten einsetzt, rief an, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Für Michel Audetat ist die Woche in Bondy eine vollkommen neue journalistische Erfahrung und eine echte Bereicherung.

    "Mit unserem Experiment wollen wir nicht so sehr die Unruhen vom November erklären, sondern vor allem ein differenziertes Bild der Banlieue zeichnen. Wir erleben die Gewalt, aber wir erleben auch die Menschlichkeit, die es hier gibt und die Alltäglichkeit. Wir beschreiben dieses unbekannte Universum, für das sich kaum jemand wirklich interessiert. Und vielleicht lassen sich ja in dieser differenzierten Wirklichkeit die Lösungen von morgen erkennen."

    Dann nimmt er sein Fahrrad und bricht wieder auf, um Menschen zu treffen und neue Geschichten zu finden.