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Unbemerkte Rodungen auf hoher See

Ozeanologie. – Seetang dürfte bei vielen etwa so beliebt sein wie Moos. Dennoch sprechen Experten den ausgedehnten Braunalgenwäldern eine Bedeutung zu, die dem Regenwald vergleichbar ist. Doch den so genannten Kelpwäldern drohen ernste Gefahren. Die globale Überfischung verändert die Beziehungen zwischen Räubern und Beutetieren radikal und beeinflussen indirekt auch die Lebensbedingungen der riesigen Algenkolonien nachhaltig.

    Der Laie denkt bei Meeresalgen vermutlich vor allem an angespültes, schleimiges Kraut, das viele kaum beeindrucken wird und eher für Unbehagen sorgt. Dabei umfasst die Vielfalt der Meeresalgen durchaus erstaunliche Exemplare, weiß der US-Amerikaner Bob Steneck zu berichten: "Meeresalgen können mehrere hundert Meter lang werden. Sie wachsen vom Meeresgrund bis an die Wasseroberfläche und können dort ein regelrechtes Kronendach ausbilden." Der Professor für Ozeanographie und Meeresbiologie an der Universität Maine ist ein ausgewiesener Experte für das unterseeische Grün, das alle Weltmeere bevölkert. Selbst ein eigenes marines Ökosystem wurde nach den gigantischen Algen benannt: die so genannten "Kelpwälder" erstrecken sich sowohl im Atlantik wie auch im Pazifik zwischen dem 40. und 60. Breitengrad. Wo die Pflanzen in den kälteren Ozeanen der gemäßigten Breiten im küstennahen, steinigen Boden Fuß fassen können, sind sie anzutreffen, vor der Kaliforniens genauso wie vor Norwegen oder Helgoland.

    Das erste Kennzeichen der "Kelpwälder" sind die großflächigen Teppiche aus dem braunen Seetang. Die Algen-Weiden sind fast so weit verbreitet wie Korallenriffe und erfüllen eine wichtige ökologische Funktion, konstatiert Bob Steneck: "Ähnlich wie etwa bei Mangrovenwäldern können sich Fische zwischen den Pflanzen verstecken und dort heranwachsen. Weil hier auch die Strömung gedämpft wird, bietet ein Kelpwald vielen Organismen Schutz." Würden die Ozeane diese produktiven Pflanzengemeinschaften verlieren, dann käme dies der Rodung der Regenwälder gleich, unterstreicht der Meeresbiologe. Doch die wichtigen Meeresbiotope stehen bereits unter erheblichem Stress. Der Grund hierfür liegt in der Überfischung: "In Kelpwäldern gab es immer große Raubfische, die den Bestand von See-Igeln und anderen Pflanzenfressern regulierten und damit die Algen vor Fraß schützten. Durch die Überfischung der Meere wurden Räuber wie Dorsch und Kabeljau bis hin zu See-Ottern zurückgedrängt, während ihre Beute, die See-Igel, weltweit überhand nehmen und die Kelpwälder angreifen."

    So seien die Kelpwälder vor Norwegen und Island schon komplett abgegrast, und auch vor der nordamerikanischen Atlantik-Küste gebe es ähnliche Fälle, konstatiert Bob Steneck. Allerdings zeichne sich jetzt auch ein anderer Trend ab: Weil See-Igel inzwischen selbst begehrte Fangobjekte seien, die vor allem von japanischen Fangflotten gefischt werden, ersetze jetzt der Mensch quasi die Raubfische des Biotops. Dennoch werde das Ökosystem auf diese Weise nicht gerettet: "Mit der Reduktion der Raubfische wurde bereits die Spitze der Nahrungskette gekappt. Wenn jetzt auch noch deren Beutetiere entfernt werden, dann verliert das Ökosystem seine Struktur. Ein Kelpwald verarmt und verändert sich so völlig." Den einzigen Ausweg sieht Bob Steneck in einem Stopp der Überfischung. Dies sei nicht einmal völlig utopisch. So habe beispielsweise die Fischerei in seiner Heimat Maine erkannt, dass etwa der Hummer – eine Delikatesse und wichtige Einnahmequelle – nur überlebe, wenn auch die dortigen Kelpwälder bestehen blieben.

    [Quelle: Volker Mrasek]