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Und die Welt hielt den Atem an

Corrigan, einer der Protagonisten in Colum McCanns Werk "Die große Welt", entdeckt schon früh die Leidenschaft für das Gute in sich, seine Zuneigung zu den Abgestürzten. Vielleicht zieht es ihn gerade deshalb in die New Yorker Bronx. Obwohl ungewöhnlich, wirkt ein asketischer Charakter besonders in einem modernen Roman erfrischend.

Von Walter van Rossum |
    Beginnen wir doch einfach mit dem auf Anhieb auffälligsten Aspekt dieses Romans: ein Foto auf der 369. Seite – ein offensichtlich älteres Schwarz-weiß-Foto. Man sieht darauf zwei zwischen zwei sehr hohen, ziemlich weit voneinander entfernten Betonblöcken parallel gespannte Seile. Über diesen Seilen liegt ein drittes. Darauf läuft in entrückten Höhen, kaum erkennbar, ein Mensch mit einer langen Balancierstange. Und links oben scheint ein Flugzeug geradewegs in eines der beiden hohen Häuser zu fliegen. Denn bei näherem Betrachten sind es zwei Hochhäuser.

    Kaum ein Mensch auf Erden wird beim Anblick dieses Fotos nicht sofort an das World Trade Center denken. Und tatsächlich handelt es sich um die später schwer geschändeten Türme. Aber das Foto ist keine Montage, es ist eine Aufnahme aus dem Jahre 1974. Am 7. August 1974 spazierte wirklich ein gewisser Philippe Petit eine Stunde lang über die Seile in über 300 Metern Höhe. Und die Stadt hielt den Atem an.

    "Sie fragt sich oft, was den Mann so hoch in der Luft hält, welche Art von ontologischem Klebstoff. Dort oben ist seine gespenstische Silhouette, ein dunkles Pünktchen vor dem Himmel, eine winzige Figur in der endlosen Weite. Dahinter das Flugzeug. Das dünne Fädchen des Drahtseils zwischen den beiden Gebäuden. Die Stange in seinen Händen. Das Klaffen des Abgrunds. (...) Ein Mann hoch oben in der Luft, während ein Flugzeug scheinbar in das Gebäude fliegt. Ein kleiner Fetzen Geschichte trifft auf einen größeren. Als würde der Mann auf dem Seil irgendwie vorwegnehmen, was später geschah. Die Durchdringung von Zeit und Geschichte. Der Punkt, an dem Geschichten miteinander kollidieren. Wir warten auf die Explosion, doch sie kommt nicht: Das Flugzeug fliegt weiter, der Mann geht bis zum Ende des Seils. Alles bleibt heil. Es kommt ihr vor, wie ein Augenblick der Bestand hat: ein Mann allein und jedem Maßstab entrückt, der trotz allem, was gegen Mythen spricht, imstande ist, etwas Mythisches zu tun."

    Da schwebt ein Mann über dem Kreuz und unten auf der Weltwiese kollidieren die Geschichten. Das ist die kürzest mögliche Inhaltsangabe von Colum McCanns Roman "Die große Welt". Allein Romane haben keinen Inhalt, Romane erzählen Geschichten, die sich nicht auf einen Stoff verkürzen lassen. Geschichten handeln von der Welt anders als alle anderen Weltbeschreibungen. Sie handeln von den Geheimnissen dieser Welt und nicht von ihren Gesetzen. Sie handeln vom Imaginären des Realen. Deshalb erzählen sie magische Geschichten von Menschen.

    Nehmen wir mal Corrigan, der eigentlich John Corrigan heißt, aber immer nur Corrigan genannt wird. Er wächst mit seinem jüngern Bruder Ciaran bei seiner Mutter in Dublin auf. Früh und unerklärlich entdeckt Corrigan so etwas wie seine Leidenschaft für das Gute, für die Zuwendung vornehmlich zu den Armen und Abgestürzten. Diese Leidenschaft ist nicht die logische Folge einer religiösen Indoktrination, nicht der Gehorsam gegenüber einem Glauben, sondern der Glaube selbst:

    Was Corrigan wollte, war ein durch und durch glaubhafter Gott, einer, den man auch im Schmutz des Alltäglichen finden konnte. Der Trost, den er aus der harten klaren Wahrheit, aus Dreck, Krieg und Armut schöpfte, war, dass das Leben zu kleinen Schönheiten imstande war. Er interessierte sich nicht für wunderbare Geschichten über das Leben nach dem Tod oder für die Vorstellung von einem in Honig gebadeten Himmel. Für ihn war so etwas bloß die Umkleidekabine für einen Auftritt in der Hölle. Lieber tröstete er sich damit, dass er in der Finsternis der wirklichen Welt ein Licht finden konnte, wenn er nur gründlich genug danach suchte – ein schwaches malträtiertes Licht, aber dennoch ein Licht. Er wollte ganz einfach, dass die Welt ein besserer Ort wurde, und hatte sich angewöhnt, darauf zu hoffen. Das verschaffte ihm eine Art Triumph, der keine theologischen Klügeleien brauchte und Grund für einen allen Widrigkeiten trotzenden Optimismus war."

    Man mag sich wundern, in einem modernen Roman noch einmal die altmodische Figur des purlauteren Asketen, des Missionars der Liebe, des selbstlosen Heiligen zu finden. Wissen wir nicht längst, dass der Fimmel des Guten am Sichtbeton des Realen scheitern muss? Doch Colum McCann wäre nicht der großartige Schriftsteller, der er ist, wenn er nicht wüsste, dass er dem Publikum da eine reichlich abgestandene Größe aus einem längst verblichenen Heiligenkalender präsentiert. Es geht ihm gerade um einen, der "der trotz allem, was gegen Mythen spricht, imstande ist, etwas Mythisches zu tun". Und folgerichtig landen wir bald bei den Huren – an keinem grausameren Ort als in der Bronx in New York City. Dorthin folgt Corrigan später sein jüngerer Bruder:

    "Unter einem flammenden Himmel fuhr Corrigan mich durch die South Bronx. Der Sonnenuntergang hatte die Farbe bloßgelegter Muskeln: rosarot und streifiges Grau. Brandstiftung. Die Hausbesitzer, sagte er, seien auf Versicherungsbetrug aus. Ganze Straßenzüge mit leer stehenden Miets- und Lagerhäusern schwelten vor sich hin. An den Ecken hingen Jugendgangs herum. Ampeln standen permanent auf Rot. An den Hydranten riesige Pfützen. Ein Gebäude an der Willis Avenue war halb auf die Straße gestürzt. Ein paar verwilderte Hunde staksten durch die Ruine. Eine ausgebrannte Neonreklame stand kopf. Feuerwehrwagen fuhren herum, und Streifenwagen folgten einander, wie um sich zu trösten. Hin und wieder erschienen aus den Schatten Gestalten, irgendwelche Obdachlosen, die hoch mit Kupferdrähten beladene Einkaufswagen schoben. Sie sahen aus wie Männer auf dem Treck nach Westen – sie schoben ihre Wagen durch die nächtlichen Welten Amerikas. "Wer sind die?" "Sie plündern die Gebäude, ziehen die Kupferdrähte aus den Wänden und verkaufen sie", sagte er. "Für ein Pfund gibt's zehn Cent oder so."

    Hier also lebt Corrigan. Und sein jüngerer Bruder Ciaran erzählt seine Geschichte. Die Geschichte eines Mannes, der einem Orden beigetreten ist, der sich der Nächstenliebe verschrieben hat – ohne dass er dabei als Geistlicher nach außen erscheint; die Geschichte eines Mannes, der in einer verwahrlosten Wohnung unter ärmlichsten Bedingungen lebt, der aber doch stets darauf bedacht ist, dass die Wohnungstür offen steht, damit die Straßenmädchen sich hier frisch machen können oder wenigstens pinkeln. Corrigan lässt sich widerstandslos von den Zuhältern verprügeln, bis selbst die von ihm ablassen – irgendwie erschüttert von seiner Unangreifbarkeit.

    Jeder erzählt seine Geschichte: Ciaran die seines Bruders und die schwarze Hure Tillie Henderson erzählt ihre Geschichte und die ihrer Tochter Jazzlyn, die beide gemeinsam in der Bronx auf den Strich gehen und sich bei Corrigan aufwärmen. Jazzlyn ist 18, fixt und hat zwei kleine Töchter. Schon Tillies Mutter war Hure. Die Geschichte war nie gut und sie wird nicht gut enden. Nachdem Jazzlyn zusammen mit Corrigan bei einem Autounfall stirbt, ist Schluss. Wenn Tillie Henderson von ihrem Leben erzählt, dann um mit ihm abzurechen. Gegen diese Abrechnung verblasst jeder irdische und himmlische Richterspruch. Auch eine Form der Überschreitung. Doch noch im Zeichen dieses zornigen letzten Gerichts kann Tillie schwärmen von ihrer Zuneigung zu dem durchgeknallten Apostel der Liebe, zu Corrigan:

    "Er hat mir mal gesagt, die meisten Menschen gebrauchen das Wort "Liebe" als ein anderes Wort für Hunger. Er hat es ungefähr so ausgedrückt: Sie verherrlichen ihre Gelüste. Er hat das einfach so gesagt, aber mit seinem wunderbaren Akzent. Ich hätte alles gefressen, was er sagt, ich hätte es einfach so runtergeschlungen. "Hier ist ein Kaffee, Tillie", und ich fand, es war das Netteste, was ich je gehört hatte. Meine Knie wurden weich. Er war wie ein Motown-Weißer. – Jazzlyn hat immer gesagt, sie liebt ihn wie Schokolade."

    Es mag nach Märchen klingen. Und es soll nach Märchen klingen. Doch Colum McCann zeigt den Preis für die Eintrittskarte in den Märchenwald: Man muss über seine Ränder hinaustreten, die Spielregeln verletzten, die Karten neu mischen, dann verändert sich was, aber es gelingt noch keineswegs. Nur der Seiltänzer schwebt über dem Kreuz.

    "Er tastete erst mit dem Ballen, dann mit der Sohle des Fußes nach der Rundung des Seiles. Ein zweiter Schritt, ein dritter. Er ging vorbei an den ersten Abspannseilen, alles in perfektem Gleichgewicht. - Innerhalb von Sekunden war er Reinheit in Bewegung und konnte tun, was er wollte. Er war in seinem Körper und zeitgleich außerhalb von ihm und genoss, was es hieß, der Luft zugehörig zu sein: ohne Zukunft, ohne Vergangenheit, und das verlieh seinem Gang diese schlendernde Lässigkeit. Er trug sein Leben von einer Seite zur anderen. Auf der Suche nach dem Moment, in dem er sich nicht einmal mehr seines Atems bewusst war. Der eigentliche Grund dafür war Schönheit. Das Gehen auf dem Seil war ein göttliches Vergnügen. Wenn er dort oben in der Luft war, wurde alles umgeschrieben. Der menschlichen Gestalt standen neue Möglichkeiten offen. Es ging um mehr als reines Gleichgewicht. – Für einen Augenblick fühlte er sich unerschaffen. Auf eine andere Art wach."

    Und unter ihm dreht sich die große Welt. Fünf Frauen zum Beispiel, denkbar verschieden, teilen eine Geschichte: Sie haben Söhne in Vietnam verloren. Eine dieser Frauen hatte eine Anzeige im "Village Voice" aufgegeben: Mutter sucht andere Mütter von toten Soldaten. Und so kommen sie zusammen. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive von Gloria und Claire. Gloria ist eine fette schwarze Mami, die ihre Chancen hatte, wenn man denn das Leben unbedingt als Markt betrachten will. Aber sie hat die Arena der Gewinner nicht betreten, irgendetwas hielt sie in ihrem schwarzen Südstaatenmilieu, hinderte sie, den Radius der Erfahrung einer ehemaligen Sklavenfamilie zu durchbrechen. Fast gleichgültig steckte sie die Schläge ein, die das Schicksal für sie bereit hielt. In Schokolade und Oper suchte sie Trost. Gloria wohnt in der Bronx, ganz in der Nähe der Gegend, wo Tillie und ihre Tochter am Straßenrand auf Freier warten.

    Claire hingegen wohnt in Manhattan, Park Avenue. Sie ist verheiratet mit einem jüdischen Richter, dem der Zufall den Fall des festgenommenen Seiltänzers vor den Richterstuhl weht. Claire ist von Hause aus begütert, aber über den Tod ihres Sohnes kommt sie nicht hinweg. Der war eigentlich nicht mal richtiger Soldat: Er war ein jugendliches Computergenie. Und die Army brauchte ihn, weil ihr bei der Registrierung ihrer Toten dauernd schauerliche Fehler unterliefen. Claire und Gloria, das ist wieder so ein Paar, das den Gesetzen des Realen spottet. Und Colum McCann lässt sie den Parcours der Widrigkeiten durchlaufen, bis sie am Ende jede auf ihre Weise das angestammte Terrain überschreiten:

    "Und in diesem Augenblick weiß sie, was mit dem Mann auf dem Seil ist. Die Erkenntnis sitzt tief und fest und lässt sie erzittern. Es hat nichts mit Engeln oder Teufeln zu tun. Nichts mit Kunst oder Verwandlung oder der Balance eines Menschen auf einem Vektor, nichts damit, dass ein Mensch die Natur überwunden hat. Nichts von alledem. – Er ist aus einer Art Einsamkeit heraus auf das Seil getreten. Sein Geist, sein Körper: eine Art Einsamkeit. Ohne irgendeinen Gedanken an den Tod."

    An jenem Tag, da der Seiltänzer zwischen den beiden Türmen des World Trade Center balanciert, gerät die Welt ein bisschen aus den Fugen, und es fügt sich so einiges neu. Nach und nach bildet sich ein Zusammenhang zwischen den unterschiedlichsten Figuren, kollidieren Geschichten und fusionieren zu neuen Mustern. Wie zum Beispiel jenes Künstlerpaar, das nach einer schwer verkoksten Nacht mit dem Auto nach Hause fährt und dabei jenen Unfall mit verursacht, bei dem Corrigan und Jazzlyn den Tod finden. Dieses Ereignis lässt ihr bisheriges Leben platzen und auf wundersame Weise vermischt sich das Leben der Frau mit dem Leben der anderen Figuren.

    Der Roman erzählt von vielen rätselhaften kleineren und größeren Ereignissen im Zeichen des Seiltänzers. Zum Beispiel von einer Gruppe junger ausgebuffter Computerfreaks in Paolo Alto in Kalifornien. Die hacken sich in öffentliche Telefone rund um das World Trade Center, rufen an und lassen sich schildern, was in New York gerade vor sich geht. Sie haben nämlich eine Wette laufen, ob der Akrobat abstürzt oder nicht. Wäre nur eine Dummejungs-Geschichte, wenn nicht einer der Jungs sich in die Stimme einer Frau in New York verliebte, die zufällig auf das klingelnde Telefon reagierte. Die Aura des Seiltänzers funktioniert auch über gehackte Telefonleitungen zwischen New York und Kalifornien.

    "Let the great world spin" heißt dieser Roman im Original: Lass die große Welt sich drehen. Great bedeutet allerdings nicht nur groß, sondern tendiert zu großartig. Und für Colum McCann ist New York der Inbegriff einer großartigen Welt – allerdings auf eine Weise, die wenig gemein hat mit den touristischen Mythen über die Stadt.

    "Es war einer jener nicht so gewöhnlichen Tage, die zahllosen gewöhnlichen Tagen einen Sinn verliehen. New York war imstande, sie hervorzubringen. Hin und wieder lüftete die Stadt ihre Seele. Sie sprang einen an, mit einem Bild, einem Tag, einem Verbrechen, einem Schrecken, einer Schönheit, die so schwer zu begreifen waren, dass man nur ungläubig den Kopf schütteln konnte."

    So räsoniert Richter Salomon Soderberg über seine Stadt, in der er resigniert die Flut der Verbrechen verwaltet. Soderberg ist der Richter, der über die Anklage gegen den Seiltänzer zu entscheiden hat. Und er ist der Gatte von Claire, beide haben ihren Sohn in Vietnam verloren.

    "Er hatte eine Theorie dazu. So etwas geschah und geschah immer wieder, weil es eine Stadt war, die sich nicht für Geschichte interessierte. Seltsame Dinge ereigneten sich hier, weil es an der notwendigen Achtung vor der Vergangenheit fehlte. Die Stadt lebt in einer Art immerwährenden Gegenwart. Sie brauchte nicht an sich selbst zu glauben wie London oder Athen, sie war nicht einmal ein Symbol der neuen Welt wie Sydney oder Los Angeles. Nein, dieser Stadt war es vollkommen gleichgültig, wo sie stand. Er hatte ein T-Shirt mit dem Aufdruck: New York Fuckin' City gesehen. Als wäre es die einzige Stadt, die je existiert hatte und je existieren würde."

    Das ist jenes New York, dem der 44-jährige Ire Colum McCann in fast allen seinen Romanen huldigt. Er lebt übrigens selbst seit vielen Jahren in Manhattan. In Brooklyn endet sein erster Roman "Der Gesang der Kojoten", die Geschichte eines irischen Auswanderers. In New York lässt er seine Romanversion des Tänzers Rudolf Nurejew einerseits erhaben tanzen und andererseits im Schlachthofviertel brutal seine Homosexualität ausleben. Hier spielt auch die Geschichte von Himmel und Hölle, der Roman "Der Himmel unter der Stadt" , der von den Arbeitern erzählt, die in schwindelerregender Höhe Wolkenkratzer errichten und deren Geschichte sich kreuzt mit den Geschichten von denen, die im Schattenreich hausen, in stillgelegten U-Bahnschächten weit unter die Erde und selten das Licht der Stadt erblicken. Und wie in all diesen Romanen spielt auch "Die große Welt" in der Vergangenheit dieser Stadt.

    Doch es geht nicht um Geschichtsunterricht.

    "New York bewegte sich vorwärts, weil es sich einen Dreck darum scherte, was es zurückließ. – Er hatte schon oft zu seiner Frau gesagt, in dieser Stadt verschwinde die Vergangenheit. Darum gab es hier auch nicht sehr viele Denkmäler. ( ... ) - All das brachte Richter Soderberg auf den Gedanken, auch der Seiltänzer sei ein solcher Geniestreich. Schon per Se ein Monument. Er hatte sich zu einem Denkmal gemacht, wie es nur in New York möglich war, zu einem temporären Denkmal hoch in der Luft, über der Stadt. Zu einem Denkmal, das sich nicht für Geschichte interessierte."

    Dieses New York, das sich nicht für Geschichte interessiert, ist die Stadt in der McCann seine Geschichten findet. Geschichten so grausam und so schön wie Märchen. New York ist weniger ein genau umrissener Ort, sondern eher Chiffre für eine Welt, in der Normalität nur vorübergehende Deckung bietet.

    In jedem Menschen arbeitet eine Metaphysik. Kein Lehrbuch, kein philosophisch elaboriertes Traktat, sondern eher eine Art Richtungsanzeige, wohin die Lebensenergie fließt – und worum sich alles drehen soll. Ein Sinnmotörchen, dass jede Sekunde darüber entscheidet, warum wir das machen und nicht jenes. Darin steckt eigentlich alles, was uns ausmacht. Wir leben auf vertrautem Fuße mit dieser Identitätsinstanz und begreifen sie doch nicht. Grundloser Grund. Doch wir kommen alle ständig an Punkte, wo wir uns entscheiden müssen, nein: entscheiden können. Dann geht es um etwas, auf das unser metaphysisches Programm keine Antwort kennt – wir müssen uns selbst überschreiten. Colum McCanns große Welt handelt fast ausschließlich von Menschen, bei denen die Routinen des Lebens nicht mehr greifen, die aber im gleichen Augenblick vom Seiltänzer gewissermaßen märchenhaft erleuchtet werden.

    Nämlich von seinem Akt äußerst meisterhafter Beherrschung, der zugleich ein Akt verschwenderischer Verausgabung ist. Das Hasardspiel des Balancekünstlers besteht weniger darin, sich und andere zu gefährden, schließlich hat er jahrelang intensivst trainiert und er darf sich seines Könnens ziemlich sicher sein. Das grandios Spielerische besteht darin, dass sein Wagnis keinen Sinn macht: Es ist nichts als ein hinreißender Akt der Vergeblichkeit, und der macht dann wieder Sinn: Wir sind weder auf Erden um zu gewinnen noch um Recht zu haben. Das Kunststück besteht darin, sich als Vorübergehende hervorzubringen.

    "Sie bestürmten ihn, riefen und fragten nach seinem Namen und seinen Gründen, wollten ein Autogramm. Er stand reglos da, blickte nach oben und fragte sich, wie die Zuschauer es wohl gesehen hatten, welche Himmelslinie für sie unterbrochen worden war. Ein Journalist mit einem flachen weißen Hut rief: "Warum?", doch das Wort spielte keine Rolle. Das Konzept des "Warum" gefiel ihm nicht. Die Türme standen da. Das reichte doch. Am liebsten hätte er den Reporter gefragt, warum er ihn nach dem Warum fragte. Ein Kindervers ging ihm durch den Kopf, eine Abfolge von Warums und Darums."

    Colum McCann: "Die große Welt." Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt Verlag, Reinbeck 2009, 539 Seiten, 19,90 Euro