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Und sie wachsen doch

Medizin. - Verletzte Nervenbahnen im Rückenmark bedeuten für die Betroffenen in den meisten Fällen den Verlust der Beweglichkeit, der Selbständigkeit und - zumindest bislang - wenig Aussicht auf Heilung. Bislang gehen Mediziner davon aus, dass erwachsene Nervenzellen im Rückenmark nicht mehr wachsen können. Neueste Untersuchungen des Zürcher Neurophysiologen Martin Schwab deuten jedoch darauf hin, dass das nicht immer so sein muss.

    Martin Schwab und sein Team wollen nachweisen, dass sich bestimmte Arten von Querschnittslähmungen durch intensive Bewegung besser behandeln lassen als andere. Schwab vermutet nach seinen bisherigen Forschungen: Wenn das Rückenmark nicht vollständig durchtrennt ist, können selbst erwachsene Nervenzellen noch aussprossen, sich also regenerieren: "Der wichtigste Befund ist, dass die alte Vorstellung, dass das Rückenmark so etwas ist wie ein fest verdrahtetes System, wie ein sehr kompliziertes Computer- oder Telefonzentralensystem, nicht stimmt und zwar insofern, als nach einer Verletzung, wenn zum Beispiel 60 oder 80 Prozent der Nervenbahnen im Rückenmark ausfallen, die restlichen 20 Prozent, die noch da sind, neue Schaltkreise bilden können." Zwar bleiben auch dann die großen Nervenbahnen, die vom Gehirn bis in die Beine reichen, unterbrochen. Aber die kleinen Nervenbahnen, die bisher das Zusammenspiel von Armen und Beinen koordiniert haben, finden offenbar neue Wege.

    Der Zürcher Forscher untersucht querschnittsgelähmte Ratten, die in ihren Käfigen Treppchen steigen müssen, um an Futter zu kommen. Die gezielte Förderung der Bewegungsfähigkeit hilft bei der Neuordnung der Nervenbahnen, vermutet Schwab: "Diese Reorganisationsfähigkeit ist wahrscheinlich gesteuert vom Ziel der funktionellen Erholung. Das heißt, wenn das Tier trainiert wird, so wie ein querschnittgelähmter Patient während seiner Rehabilitation durch die Physiotherapie und die Rehabilitation neue Funktionen wieder lernen kann, dann bilden sich unter diesem Training neue Schaltkreise aus."

    Martin Schwab will die Nervenfunktion auch auf anderen Wegen verbessern, etwa mit einem Hemmstoff, der die natürliche Wachstumsblockade von Nervenfasern im Rückenmark aufhebt. Im Tierversuch haben die alternativen Methoden schon Erfolge gezeigt. Am besten klappt es, wenn gute Rehabilitation und der neue Hemmstoff kombiniert zum Einsatz kommen. So konnten bereits Ratten und sogar Affen nach Teilverletzungen des Rückenmarks wieder laufen. Bevor aber die ersten Versuche an menschlichen Patienten starten können, muss der Hemmstoff hundertprozentig sicher sein. Eine Prognose, wann das geschehen kann, will Martin Schwab nicht abgeben. Mit einem Augenzwinkern schätz er aber: "Es wird eher kürzer als länger dauern."

    [Quelle: Sabine Goldhahn]