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‚Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen...&dquot; Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte'

Konrad Latte wußte gar nicht, daß er Jude ist. Erst seit der Klassenlehrer 1933 in Breslau gesagt hatte: "Arier melden", und Konrad eine Stunde Arrest wegen Irreführung abzusitzen hatte, wußte er es besser. Als Lattes Vater, der schon 1938 für sechs Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert war, Anfang 1943 erneut von Deportation bedroht ist, folgt die Familie dem Rat des Sohnes, nach Berlin zu ziehen und dort unterzutauchen. Wie kann sich ein knapp 20jähriger 1943 dem Würgegriff der Nazis entziehen? Konrad Latte spielt als Organist bei Trauerfeiern im Krematorium Wedding, und macht Dienst als Aushilfsorganist in vielen Kirchen Berlins. Er arbeitet als "Eisträger, Aktmodell, Nachtwächter und Zeitungsjunge". Konrad Latte will aber Dirigent werden. Also nimmt er Kontakt zu einem Kapellmeister der Staatsoper auf, Johannes Schüler. Da gleichzeitig an der Staatsoper Gottfried von Einems Ballett "Prinzessin Turandot" einstudiert wird und man keinen brauchbaren Korrepetitor für das schwierige Werk findet, das in Dresden uraufgeführt werden soll, meldet sich Konrad Latte. Ob Konrad Latte unter normalen Umständen diese Position erhalten hätte, steht dahin (- nach dem Dafürhalten des Komponisten spielt der junge Pianist erbärmlich - ), aber es gibt für Komponist und Choreographin keine Alternative: was an Männern zur Verfügung steht, ist an der Front. Die Arbeit in der Oper ist das eine, die Frage der Versorgung und Unterkunft eine andere. Am Ende sind es über 50 Anlaufstationen, die Lattes Überleben ermöglichen.

Mathias Sträßner |
    Konrad Latte wirkt bei seinen Helfern aber auch wie ein Ferment, das Abkapselungen des Widerstands aufbricht und für neue Öffnungen sorgt. Durch Latte werden Kontakte zwischen Teilen des Widerstandes hergestellt, die von ihrer Ausgangsposition zunächst unvereinbar sind. Eine wichtige Rolle spielte dabei Harald Poelchau, Gefängnispfarrer in Tegel. Eine der Gruppen ,die ihren Widerstand ideologisch schärfer formulieren, ist die sog. "Gruppe Ernst", zu der auch Wolfgang Harich gehört. Als Konrad Latte bei einer Razzia der Wehrmachtsstreife festgenommen und in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße gebracht wird, entgeht er der Deportation nur, weil ein untergestellter Koffer von Wolfgang Harich bei ihm gefunden wird, der ihn für die Ermittlungsbeamten interessant macht. Konrad Latte soll im Kontext des "Falles Harich" in Berlin verfügbar bleiben. Das ist sein Glück, denn am 23.November kann er bei einem Bombenangriff aus der Haft fliehen.

    Danach versucht er, sein bisheriges Leben als U-Boot fortzusetzen. Der Komponist Gottfried von Einem überläßt ihm sogar Juni 1944 seinen Staatsopernausweis und verschafft ihm einen Ausweis der Reichsmusikkammer, ausgestellt auf den Namen Konrad Bauer. Doch Konrad Bauer alias Konrad Latte wird es in Berlin schließlich zu heiß: er verläßt Berlin, um als Kapellmeister mit dem Hessischen Volkstheater Frankfurt auf Wehrmachtstournee zu gehen. Die dafür notwendige Garderobe leiht er sich u.a. bei Erich Kästner und Hans Söhnker zusammen.

    So weit die Geschichte, die in Peter Schneiders Buch noch einmal erzählt wird. Es gibt mehrere Gründe, warum auf dieses Buch hinzuweisen ist:

    Erstens ist Schneider ein guter Erzähler, der ein feines Gespür für den verständlichen historischen und aktuellen Zynismus seiner Hauptperson hat: so, wenn die Rede von den "Aufbewahriern" ist, also den Deutschen, die für bedrohte Juden Sachen aufbewahren. Oder wenn gerade das ironisch-distanzierte Verhältnis zur eigenen Religion Echtheit verbürgt: die Kenntnis der Schriften des jüdischen Gelehrten Moses Ben Moimon Maimonides wäre kein Erkennungszeichen, ihn dagegen kurz und knapp "Rambam" nennen zu können schon.

    Schneider fügt bekannten Fakten aber auch weitere hinzu und schafft neue Zusammenhänge. Da Konrad Latte mit den Lasker-Schwestern die Jugend in Breslau verbringt, bezieht Schneider auch die neueren Veröffentlichungen von Inge Deutschkron (Sie blieben im Schatten Berlin 1996) und Anita Lasker-Walfisch (Ihr sollt die Wahrheit erben Bonn 1997) mit ein.

    Und schließlich interessiert sich Schneider auch für die inner-familiäre Nachkriegs-Geschichte Lattes: warum kann ein mit viel Glück überlebender Jude seine eigene Geschichte noch nicht einmal seiner eigenen Tochter erzählen? Warum erfährt Tochter Gabi erst 1958, was ihren Eltern widerfahren ist? Woher kommt dieses neuerliche Schweigen und die Scham ausgerechnet des Überlebenden?

    Schneiders Buch ist wichtig: es gehört zu den Veröffentlichungen, die uns immer mehr klar machen, daß unsere oberflächliche Sicht auf die Täter- ,Opfer- und Helfer -Psychologie differenziert werden muß. Weder die Überlebenden noch die Helfer taugen dabei zu Helden, zu denen wir sie gern formen möchten. Es ging um spontane Mitmenschlichkeit - und die war in Deutschland selten. Schlimm genug, daß im Rinnsal des Widerstands jeder Tropfen gezählt werden muß, aber gerade Konrad Lattes Schicksal zeigt, daß der Widerstand auf der untersten privaten Ebene unterschätzt wird. Konrad Latte zählt an die 50 Helfer auf, die den Mut zur Unterstützung hatten. Von der Quäkerin bis zum Hausmeister, vom Laubenpieper bis zum Drucker, von einer Journalistin bis zu einem Komponisten oder Dirigenten. Niemand kann so naiv sein, und einfach multiplizieren, aber eine ungefähre Größenordnung des "kleinen" Widerstands ergibt sich daraus schon.