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Underground Railroad

Viele Farbige, die aus der Gefangenschaft der amerikanischen Sklavenstaaten flohen, nutzten dabei die sogenannte "Underground Railroad". Dabei handelte es sich aber keineswegs um eine Eisenbahnlinie nach Norden, sondern um ein verzweigtes Netz von engagierten Helfern, die den Exodus unterstützten.

Von Hajo Goertz |
    Swing low, sweet chariot, coming for to carry me home ...

    Es war kein Zug, korrigiert David. Keine Eisenbahn? Aber an einer Straßenecke in Oberlin, einem Städtchen nahe Cleveland, unweit des südlichen Ufers vom Erie-See, ragt aus dem Rasen ein Stück Gleis heraus, als käme es geradewegs aus dem Boden. Keine Untergrundbahn?

    "Underground railroad war ein Netzwerk von Leuten, die zusammenarbeiteten. Sie waren Abolitionisten, Gegner der Sklaverei. Sie sahen ihre Mission darin, Sklaven zu helfen, aus dem Süden über den Ohio-River hinweg zu entkommen und dann ihren Weg nordwärts nach Kanada zu finden. Kanada hatte die Sklaverei ja abgeschafft. Und das war's, was die Leute der Underground railroad machten."

    David betreut Besucher des "National underground railroad freedom center" in Cincinnati. Die bedeutende Industriestadt mit gut 300.000 Einwohnern liegt in der Südwest-Ecke des US-Bundesstaates Ohio, der von seinem südlichen Grenzfluss seinen Namen hat. Das vor vier Jahren eröffnete Freiheitszentrum steht direkt am Ufer des Ohio, gleich neben der sehenswerten Roebling-Hängebrücke, die hinüber führt nach Kentucky. Die beiden Gebäudekomplexe des Center mit ihren dunkelbraunen Fassaden, durchsetzt von beigefarbenem italienischen Travertin, sind miteinander verbunden durch Glas-Passagen: Sie symbolisieren mit ihrer geschwungenen Architektur den gewundenen Lauf des Ohio und seine Bedeutung als Grenzfluss zwischen den südlichen Sklaven-Staaten und den freien Nordstaaten. Die Brücken zwischen den Gebäudeteilen versinnbildlichen den Weg in die Freiheit.

    "Der Ohio war die Grenze, er trennte den Norden und den Süden, nicht zuletzt während des Bürgerkriegs. Kentucky war ein Staat, in dem viele Leute selbst Sklaven hielten und viele, die die Sklaverei verteidigten, gerade im Bürgerkrieg."

    David erläutert den Besuchern des Freedom center, dass der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 zwischen den Nord- und den Südstaaten nicht nur um die Einheit der USA geführt wurde, sondern vornehmlich um die Beibehaltung oder Abschaffung der Sklaverei. Schon in den Jahrzehnten zuvor galt der Ohio den Sklaven im Süden als der Jordan aus den Gospelsongs und das andere Ufer als ihre Heimat. Wenn sie entfliehen konnten und den Ohio überquert hatten, waren sie schon fast in Sicherheit.

    I'm gonna lay down my burden down by the riverside ...

    Jenseits des Jordan, des Ohio waren die entlaufenen Sklaven allerdings noch nicht ganz gerettet. Sklavenjäger hatten das Recht, auch in Ohio nach Flüchtlingen zu suchen und sie, wenn gefunden, erneut gefangen zu nehmen. Bewohner der sklavenfreien Nordstaaten waren per Gesetz verpflichtet, flüchtige Sklaven anzuliefern. Sie verhielten sich also illegal, wenn sie den armen Menschen halfen, und sie waren genötigt, heimlich, im Untergrund zu agieren, eine Underground railroad zu unterhalten.

    "Der Begriff hat mit vielen Geschichten zu tun. Eine Story handelt von einem Sklavenbesitzer, der in Ohio einen Entlaufenen verfolgte und ihn fast erwischt hätte. Aber plötzlich war der Sklave verschwunden, und sein Besitzer verlor jede Spur von ihm. Erfolglos nach Hause zurückgekehrt, erzählte er: Ich hatte ihn fast und hätte ihn am nächsten Baum aufgehängt. Aber plötzlich war er weg, wie vom Erdboden verschluckt, wie bei einer Untergrund-Bahn. Diese Redeweise wurde aufgegriffen, sprach sich herum, und so nannten sie das Netzwerk Underground railroad."

    Das Netzwerk war Mitte des 19. Jahrhunderts in Ohio und in den Nachbarstaaten wie Indiana weit verzweigt. Und mit der Faszination der ersten Eisenbahnen verbreiteten sich nach 1830 rasch deren Begriffe für die Underground railroad: Mit Stationen wurden Häuser von Bürgern, den Stationsvorstehern, bezeichnet, die Sklaven versteckten, sie verpflegten, ihnen zur nächsten Haltestelle weiterhalfen: Sie wiesen verborgene Pfade Richtung Erie-See und kanadischer Grenze, oder brachten sie weiter in Pferdewagen, oft mit doppeltem Boden, geführt von einem conductor, dem Schaffner oder Lokführer. Passagiere waren die Sklaven. Das alles erfahren Besucher des Freedom center in Cincinnati; Kernstück ist das Museum der Unterground railroad.

    Stolz des Museums ist der slave pen, ein Blockhaus aus roh behauenen Holzbalken mit acht kleinen Fenstern, sieben mal zehn Meter im Grundriss und im First über acht Meter hoch. Es stand einst in Kentucky. 1830 hat es damals erfolgreichste Sklavenhändler Amerikas errichtet, der mit dem Menschenhandel nach heutiger Währung eine Million Dollar im Jahr verdiente. Im slave pen lagerte er seine "Ware", schwarze Jugendliche im Alter zwischen zwölf und zwanzig, Kinder von Sklaven, die er von den Farmern kaufte. Hatte der Sklavenhändler genügend junge Männer und Frauen zusammen, setzte er eine Versteigerung an oder verschiffte er sie über den Mississippi in den Süden, bis nach New Orleans, dem damals bedeutendsten Sklavenmarkt.

    In den neunziger Jahren entdeckten Archäologen, dass der slave pen im Orginalzustand erhalten war, bauten ihn sorgfältig ab und errichteten ihn im Freedom Center von Cincinnati neu. An seinen Wänden läuft eine Kette entlang mit Eisenringen, an denen die Gefangenen angekettet waren - Zeugnisse der unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Sklaven gezahlten wurden. Es sei so etwas wie ein geweihter Ort, sagt David. Unwillkürlich kommen die Besucher ins Flüstern oder verstummen.

    Nobody knows the trouble I've seen…

    In anderen Räumen des Museums sind Gegenstände ausgestellt, die die Underground railroad illustrieren, bis hin zu kleinen Wohnhäusern, Stationen eben mit den unterschiedlichsten Verstecken für Flüchtlinge, ein Transportwagen für Mais oder Getreide, unter dessen doppeltem Boden die Sklaven verborgen blieben. In einem kleinen Kino zeigen Filme verbürgte Sklavenschicksale und wie sie mit der Underground railroad zu entfliehen suchen:

    "Um 1860 gab es rund vier Millionen Sklaven in Amerika. Ein Sklave zu sein bedeutete, jemandem zu gehören, der das ganze Leben vorschrieb: Wo du zu leben und zu arbeiten hast, ja sogar wen du heiraten darfst. Jederzeit konnte ein Sklave von seiner Familie gerissen und verkauft werden. Manche haben sich dagegen aufgelehnt. Wer die Möglichkeit und den Mut hatte, lief weg. Und manche erlangten die Freiheit dank der beharrlichen Hilfe jenes Netzwerks von Verbündeten, genannt die Underground railroad."

    Mit Sprechautomaten kann der Besucher autobiographische Statements berühmter Gegner der Sklaverei anhören. Eine Schauspielerin zitiert Harriet Beeecher Stowe, die in Cincinnati lebte:

    "Als Schriftstellerin wurde ich in Amerika bekannt, als die Wochenzeitung National era in Washington meine Beobachtungen über das bedrückende Übel der Sklaverei veröffentlichte. Aus meinen Informationen und Aufzeichnungen schrieb ich eine Geschichte, Onkel Toms Hütte. Sie erzählt von den Leiden einer Sklavenfamilie, die sie erdulden musste, nachdem sie bei der Versteigerung auseinandergerissen wurde. Bald waren über 300.000 Exemplare verkauft, und das Buch heizte die Diskussion über die Sklaverei gehörig an. Manche sagen sogar, der Roman habe den Bürgerkrieg entfacht."

    Es war kein geringerer als Präsident Abraham Lincoln, der bei einer Begegnung mit Harriet Beecher-Stowe gesagt haben soll: Sie sind also die kleine Frau, die den großen Bürgerkrieg verursacht hat. - An mehreren Audiogeräten im Museum wartet eine Entdeckung, die viele Besucher überrascht.

    "Viele Spirituals wurden als Signale gebraucht: Wo man sich treffen sollte, wo man zusammen entfliehen konnte, wo man die Leute finden konnte, die einem helfen würden."

    Die biblischen Lieder, die die Sklaven bei ihrer Arbeit auf den Plantagen im Süden sangen, bekamen an der Grenze zwischen den Süd- und den Nordstaaten neue, aktuelle Bedeutungen: Mit dem Jordan war der Ohio gemeint, der "sweet chariot", der ersehnte Wagen, der die passengers, die Passagiere mitnehmen sollte, rollte auf der Underground railroad, die "band of angels" bezeichnet stationmasters und conductors, die Stationsvorsteher und die Zugführer, die einem halfen, ans andere Ufer, nach Hause, nach Kanada, endlich in die sichere Freiheit zu kommen.

    If you are there before I do, coming for to carry me home, tell all my friends I'm coming too, coming for to carry me home.

    "Die Ufer des Erie-Sees galten als die Haltestelle 100, denn Kanada war das endgültige Ziel. Und so war Oberlin bekannt als die Station 99 der underground railroad."

    Erklärt Laurie Stein, eine hübsche junge Frau Anfang zwanzig. Die Geschichtsstudentin am Oberlin College führt ehrenamtlich Touristen zu den historischen Plätzen des Städtchens. Es liegt rund 500 Kilometer nördlich von Cincinnati, bis zum Erie-See sind es nur noch ein paar Meilen. Minutiös erläutert Laurie das Haus von James Monroe, einem Quäker, der in Oberlin Theologie studierte und lehrte, dann in den 1850ern in die Politik ging. Er war ein Mitbegründer der Republikaner-Partei und einer bekanntesten Gegner der Sklaverei.

    "An dieser Stelle reden wir über die Geschichte von Oberlin, besonders über die Zeit um den Bürgerkrieg. Oberlin galt damals als eine Brutstätte radikaler Abolitionisten. Weil die Einwohner praktisch geschlossen gegen die Sklaverei waren."

    Schon damals konnten Afroamerikaner hier studieren, das College von Oberlin war damit das erste in ganz Amerika. Schwarze und weiße Kinder gingen gemeinsam in die Schule. Schon bald nach der Stadtgründung 1833 gab es einen beträchtlichen Anteil freier Farbiger unter der Bevölkerung. Und wenn sich entlaufene Sklaven darunter mischten, fielen sie kaum mehr auf. Nahezu jedes zweite der Häuser aus dem 19.Jahhundert in Oberlins historischem Zentrum war eine Station.

    "Oberlin spielt eine besondere Rolle bei der Underground railroad. Weil eben die ganze Stadt gegen die Sklaverei stand. Wenn Sklaven bis hierher fliehen konnten, brauchten sie sich nicht mehr zu verstecken. Die Railroad war in Oberlin sozusagen nicht mehr im Untergrund."

    Das Denkmal für die Underground railroad hat seinen historischen Hintersinn: Vor einem College-Gebäude ragt schräg aus dem Rasen ein Gleisstück mit wohl fünf Meter Schienen und Schwellen heraus. Als könne die "Untergrundbahn" jetzt oberirdisch fahren.

    Als Central station des Netzwerks galt das Haus von Levi Coffin, er selbst als Präsident der Underground railroad. Es steht in Fountain City, das seinerzeit Newport hieß, ein Dorf nahe Richmond in Indiana, hart an der Grenze zum Nachbarstaat Ohio. Knapp 30, siedelte der Quaker mit seiner Familie hier in einer Gemeinde von Glaubensgenossen an, um Landwirtschaft zu betreiben und einen Handel aufzuziehen, wie Sandra Jackson vom Team der ehrenamtlichen Betreuerinnen des kleinen Museums erläutert:

    "Alles was er tat, beruhte auf seinem Glauben. Und wenn jemand ihm vorhielt, er sei ein Rechtsbrecher, dann entgegnete Levi: Menschliche Gesetze können mich nicht kümmern, wenn ich mich auf Gottes Recht einlasse, dass nämlich alle Menschen gleich geschaffen sind."

    Coffin nahm die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die darauf beruhende amerikanische Verfassung von 1779 ernster als die Rechtsprechung seiner Zeit. Richter urteilten, Neger seien keine Bürger und könnten daher auch keine Rechte beanspruchen. Sogar der Oberste Gerichtshof erklärte noch 1857 ein Sklaverei-Verbot für verfassungswidrig. Dagegen sah Coffin die Neger als Geschöpfe Gottes und daher gleichberechtigte Bürger. In seiner Autobiographie schreibt er:

    "Ich wollte so vielen flüchtenden Sklaven beistehen, wie sie bis zu meinem Haus durchkamen, und ich wusste, dass meine Frau dieselbe Einstellung hatte. Im Winter 1826-27 kamen die ersten bei uns anklopfen. Bald sprach sich auf den verschiedenen Routen herum, dass sie in unserem Haus gut aufgenommen und versorgt, und dass sie von hier aus sicher fortgeleitet würden. Als der Verkehr auf der Underground railroad zunahm, musste ich ständig einen Wagen mit Besatzung abfahrbereit halten, um die Flüchtlinge weiterzubefördern. Das hatte immer nachts zu geschehen, oft durch tiefen Schlamm, auf schlechten, wenig benutzten Wegen. In meinem Haus kreuzten sich drei Hauptlinien, die stark frequentiert waren, die Verbindungen waren bestens und die Zugführer engagiert bei der Sache. Es verging selten eine Woche, ohne dass Passagiere auf der geheimnisvollen Route bei uns ankamen."

    Rund 3000 Sklaven habe Levi Coffin zur Freiheit verholfen, berichtet Sandra. Das rostfarbene zweistöckige Gebäude im amerikanischen Landhausstil mit einem querliegenden Anbau, bis heute ausgestattet mit originalem Mobiliar und Ausstattungen von Mitte des 19. Jahrhunderts, hat erstaunlich viele Ausgänge:

    "Übrigens die vielen Ausgänge: Die Coffins haben dieses Haus entworfen und errichtet, nachdem sie hier ihre Arbeit mit der Underground railroad begonnen haben. Daher glauben wir fest daran, dass sie daran dachten, was dazu nötig wäre, als sie dieses Haus hier bauten."

    Sandra begeistert sich selbst an Levi Coffin, während sie durchs Haus führt. Sie freut sich diebisch, wenn Besucher die diversen Verstecke hinter einem Bücherregal oder neben einem offenen Kamin nicht von sich aus entdecken. Auf einer verborgenen zweiten Treppe konnte man unbemerkt von einer Etage zur anderen kommen. Im Keller findet sich eine Quelle mit frischem kristallklaren Wasser, die bis heute nicht versiegt ist: So fiel draußen nicht auf, wenn mehr Wasser als gewöhnlich gebraucht wurde. Im Schlafzimmer oben, neben zwei Betten eine offene Tür, in der Dachschräge erweist sich die niedrige Längswand als Drempel:

    "Diese Kammer hier reicht von der einen bis zur anderen Ecke. Sie ist lang, aber sehr eng und niedrig. Die Menschen konnten darin nur sitzen. Eine Kerze durften sie nicht anmachen, das wäre zu gefährlich gewesen. Es war heiß im Sommer und kalt im Winter. Stellen sie sich vor, zehn, zwölf, 14 Menschen, auch Kinder, mussten in dieses Kabuff, wenn Kopfgeldjäger in der Stadt hinter den Sklaven her waren. Dann stellten die Coffins die Betten davor und die Tür war nicht mehr zu sehen."

    Und nie wussten die Leute drinnen, wie lange sie Enge und stickige Luft aushalten mussten, ohne sich zu mucksen. Eines Nachts, erzählt Sandra, habe es am Hintereingang geklopft. Catherine Coffin öffnete vorsichtig, aber sie erkannte den conductor und fragte: Wen bringst du heute?

    "Seine Antwort war: Ich glaube, ich habe ganz Kentucky dabei. Und Catherine bestimmte: Dann bring halt ganz Kentucky herein. In dieser Nacht kamen 17 flüchtige Sklaven auf einmal, die größte Gruppe, von der wir wissen. Und Levi bemerkt, sie hätten nach der Rechnung des Südens 17.000 Dollar um seinen Esstisch sitzen gehabt. Denn jeder einzelne wäre seinem Besitzer einen Tausender wert gewesen."

    Ich möchte von Sandra noch wissen, wie Amerikaner sich verhalten, wenn sie Levi Coffins Haus besichtigen.

    "Die meisten kommen, um sich die Geschichte der Underground railroad anzuschauen, und natürlich gibt es unterschiedlichste Reaktionen. Manche zeigen sich wenig interessiert, andere sind fasziniert davon, wenn wir erzählen, und für uns ist das die Geschichte der Underground railroad: weiße und schwarze Menschen, reiche Leute und arme, Quäker und Gläubiger anderer Religionen haben sich da zusammen engagiert, Gruppen von so verschiedenen Mitgliedern haben gegen die Sklaverei gekämpft, und wir denken, das ist ein gutes Vorbild für die Gesellschaft von heute."