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Undurchschaubarkeit und Unsicherheit

Die islamische Republik Iran bezeichnet sich selbst als Gottesstaat. Dieses System hat unendlich viele Facetten, von denen eine im neuen Streifen des Regisseurs Asghar Farhadis enthalten ist.

Von Rüdiger Suchsland |
    Eine Geschichte wie von Fontane, oder von Tschechow. Sie spielt fernab von Teheran, der Hauptstadt. Fernab von der Politik, am Meer. Sie handelt von bürgerlichen Menschen auf dem Land, fernab der Großstadt, in der sie wohnen. Upper Class könnte man sagen, jedenfalls wohlhabend. Man fährt einen roten BMW und hat ein Ferienhaus am Meer. Drei Paare fahren hinaus für ein Wochenende mit ihren Kindern. Mit dabei ist auch Ahmad, der frisch geschiedene Bruder der Hausherrin Sepideh und Elly, das Kindermädchen. Denn nebenbei hat Sepideh auch noch einen Plan: Ahmad soll mit Elly verkuppelt werden. Die Atmosphäre ist ungezwungen, offen und locker: Man lacht und scherzt, die Laune ist prächtig, die Sonne scheint, und der Wind erfrischt in der Hitze; ein Papier-Drachen steigt, die Kinder toben, die Erwachsenen spielen Volleyball und Scharade, am Abend tanzen sie - doch am nächsten Tag ist Elly irgendwann plötzlich spurlos verschwunden...

    Wie der Regisseur Asghar Farhadi diese überraschende Wendung einleitet und inszeniert, ist hohe Filmkunst: Der Einbruch des Unerwarteten in die Idylle enthüllt diese als Schein. Und plötzlich wird aus "Alles über Elly" ein Psychothriller der iranischen Gesellschaft.

    Denn alle suchen nun nach der Verschwundenen, und als sie nicht wieder auftaucht, zerfällt das harmonische Puzzle der schönen jungen Teheraner Yuppie-Gesellschaft in seine Einzelteile: Lügen und Halbewahrheiten treten zutage. Es kommt zu gegenseitigen Beschuldigungen, Anklagen, Schuldzuweisungen.
    Und es kommt zu Vermutungen über den Charakter von Elly und ihren Verbleib: Ist sie ungesehen im Meer ertrunken, als sie versuchte, ein Nichtschwimmerkind aus den Wellen zu holen? Hat sie Reißaus genommen, weil ihr der soziale Druck und die Verkuppelungsabsichten Sepidehs zu viel wurden? Oder ist gar "etwas vorgefallen"? Die Wahrheit bleibt offen - und jede dieser Vermutungen verrät jedenfalls mehr über ihren Urheber, als über Elly.

    Nichts ist politisch in diesem Film. Und alles ist politisch in diesem Film.

    Denn "Alles über Elly" zeigt ein fragiles Idyll. Der Film zeigt in einer scheinbar privaten Geschichte, von der bis zum Ende nicht klar ist, ob es sich mehr um eine Tragödie oder doch um eine Komödie handelt, eine ganze Gesellschaft, die aus kleinen und großen Lügen, aus Notlügen und Halbwahrheiten besteht, aus Wunschprojektionen und Unkenntnis. Und der Film zeigt vor allem die moralische Repression, die hinter alldem steht. Eine Unterdrückung, die sich in den hohen Ton der Moral und der Tugend und der Religion kleidet. Und in die Selbstgerechtigkeit der Sittenwächter.

    Vor zwei Jahren gewann diese vierte Regiearbeit des Iraners Asghar Farhadi bei der "Berlinale" einen "Silbernen Bären" für die beste Regie.

    Seitdem ist viel im Iran passiert. Das ein wenig liberalere Klima, das seinerzeit herrschte, ist Vergangenheit: Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 und der anschließenden blutig niedergeschlagenen Revolte der "grünen" Demokratiebewegung weht der eisige Wind der Repression. Das Mullahregime mit seiner Marionette Achmadinedschad, das doch einige Jahre lang eine Art Rechtsstaatlichkeit und freie Debatte zugelassen hatte, hat die eigenen Reihen wieder fest geschlossen und herrscht mit Mord, Folter und Willkürurteilen - wie erst vor wenigen Tagen wieder klar wurde, als man den bekannten Regisseur Jafar Panahi mit sechs Jahren Gefängnishaft und einem 20-jährigen Berufsverbot belegte. Anderen ergeht es noch viel schlimmer. Dabei ist Panahi noch nicht einmal ein Aktivist, er sagt einfach seine Meinung.

    Das tut auch Asghar Farhadi, der seit diesem Film mit erheblichen Schwierigkeiten im eigenen Land zu kämpfen hat, wie seine Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani, die inzwischen ins US-Exil vertrieben wurde.

    Auch Farhadis Filmsprache, erzählt mit den schnellen, flüchtigen, leicht nervösen Bewegungen einer Handkamera, die eine sehr intime, persönliche Atmosphäre erzeugt, bringt uns seine Figuren nahe - auch in ihren Schwächen. Und diese Filmsprache korrespondiert mit der Offenheit, oder - wenn man so will - auch Unsicherheit, von der seine Geschichte erzählt.
    Denn "Elly", das ist eben nicht der Name der Heldin dieses Films, sondern der einer Leerstelle. Und man erfährt hier gerade nicht "alles über Elly", wie der Filmtitel bewusst irreführt. Dafür erfahren wir in diesem hervorragenden, bewegenden Film viel über die iranische Gesellschaft, über die Irrungen und Wirrungen des Lebens in der Diktatur.