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Uneingelöste Versprechen

Während andere Länder in der Region bereits wieder Wachstum verzeichnen, steckt Venezuela noch immer tief in der Krise - trotz der vielen Versprechen, die Hugo Chávez gerade den Armen gegeben hat. Am Sonntag wählen die Venezolaner ein neues Parlament. Und es wird sich zeigen, ob Chávez Sozialisten auch in den Elendsvierteln ihre Stammwähler halten werden.

Von Nicole Kohnert | 25.09.2010
    Der Regen kam nachts und er dauerte stundenlang. Es war nur einer dieser starken Regen, wie es sie oft gibt in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Aber er hatte schlimme Folgen für Familie Gonzales. Ihre Wellblechhütte stand am steilen Abhang des Slums Hueco, am Stadtrand von Caracas. Und die Wassermassen schwemmten ihr Zuhause einfach weg. Die Familie ist heute obdachlos – und das nicht zum ersten Mal. Ana steht barfuss vor den letzten Resten ihrer Hütte:

    "Immer, wenn es regnet, rutscht alles runter, es öffnet sich der Boden und die Häuser werden zerstört. Wir können die Hütten, die wir für unsere Kinder hatten, auch nicht mehr reparieren. Wir brauchen Hilfe, haben darum auch gebeten, aber wir bekommen noch nicht einmal Antwort."

    Zu zehnt sitzen sie nun in der Nachbarhütte. Hoffen, dass der nächste Regen nicht auch dieses Zuhause zerstört. Draußen im Slum liegt der Dreck der Hauptstadt. Es riecht nach Fäkalien und Müll. Die Kinder spielen zwischen weggeworfenen Dosen und zerfetzten Plastiktüten am Rande des Abwasserkanals. Sie verbringen den ganzen Tag im Slum, Krankheiten wie Dengue-Fieber oder Malaria gehören für sie zum Alltag. Vater Antonio wohnt hier mit seinen drei Kindern:

    "Keines meiner Kinder geht zur Schule. Eigentlich möchte ich, dass sie etwas lernen. Doch die Gegend hier ist gefährlich, es gibt viel Gewalt auf der Strasse. Es passieren schlimme Dinge an den Schulen. Schon wenn wir den Berg hoch gehen Richtung Stadt, warten dort immer 3, 4 Typen, die uns bedrohen – Männer und Frauen. Immerhin haben sie uns noch nicht umgebracht."

    Die Situation in den Slums spitzt sich zu – und sie wird damit - kurz vor den Parlamentswahlen – zum Problem für Chávez. Gerade die sozial Schwachen waren seine treuesten Anhänger, doch viele sind nun enttäuscht: Oft schon haben die Bewohner von Hueco die Regierung um Hilfe gebeten und Chavez’ Parteimitglieder in den Slum bestellt:
    "Das schwarze Abwasser der Stadt fließt in unsere Hütten rein. Die Haut der Kinder entzündet sich. Es gibt viel Ungeziefer hier, auch Ratten. Wir haben die Politiker gebeten, eine Lösung zu finden."

    "Es gab von der Regierung ein Versprechen nach dem anderen, aber keines hat sie eingehalten. Wir warten immer noch drauf. Die aus dem Ausland kommen, denen hört sie zu, den Peruanern, den Kolumbianern. Die haben Autos, Häuser und alles. Warum aber helfen sie uns nicht?"

    Schon vor Jahren hatte Präsident Chavez gerade ihnen, den Armen, versprochen, dass er sie mehr unterstützen werde. Er wollte für mehr Arbeitsplätze sorgen – durch den Sozialismus des 21 Jahrhunderts. Unter dieser Parole enteignet der Präsident immer mehr private Firmen, um sie in Arbeiterhand zu legen. Doch nach wie vor ist die Schere zwischen Arm und Reich groß, sind Arbeitsplätze rar.

    Auch das Versprechen, ein Großteil der Armen medizinisch besser zu versorgen, konnte Chavez nicht einlösen. Zwar schaffte er so genannte "Barrio Adentros", medizinische Hilfestellen in den Slums. Doch die Hilfe kommt nicht überall an.

    Das Vertrauen in die Regierung sinke, meint Kai Boetticher. Er ist Chef der deutsch-venezolanischen Industrie- und Handelskammer in Caracas und beobachtet die Entwicklung des Landes seit Langem:

    "Herr Chavez ist schon fast 11 Jahre an der Macht. Ich sehe nicht, dass die Bevölkerung sehr, ich glaube sie glaubt an guten Sozialismus, aber nicht an Kommunismus. Sie wollen ein soziales Land, wo die Hilfe an die Bevölkerung kommt. Es ist ein sehr reiches Land. Was die Bevölkerung braucht, das ist Hilfe."

    Dass die vielfach ausbleibt, schlägt sich negativ in den Umfragen nieder. Wirklich unabhängige Wahlprognosen gibt es nicht. Das der Opposition nahestehende Institut "Hinterlaces" sagt ein Kopf-An-Kopf-Rennen zwischen Opposition und sozialistischer Regierungspartei voraus.

    32 Prozent der Wähler würden für die Regierungspartei stimmen, 34 Prozent für die Opposition. Viele sind noch unentschlossen, doch die meisten sind sich einig: Die Lebensbedingungen werden immer schlechter. Die Inflation ist so hoch wie nie, die Lebensmittel sind knapp, die Preise gestiegen. Das Sozialforschungsinstitut Cendas gibt an, dass die Kosten für Nahrungsmittel allein in den letzten zwölf Monaten um mehr als 50Prozent in die Höhe geschossen sind – ohne dass die Löhne damit Schritt gehalten hätten. Vor allem in der Grenzregion Táchira sind die Lebensbedingungen schwierig. Alexis Balza, Verantwortlicher für die Region:

    ""Wir müssen Lebensmittel im Nachbarland Kolumbien kaufen. Es ist uns eigentlich zu teuer, da drüben Produkte zu kaufen, aber wir müssen es. Wir kaufen Essen wie Milch, Eier, Bohnen und Kaffee und sogar Toilettenpapier, weil wir es hier nicht mehr bekommen."

    In den Provinzen ist die Lebensmittelknappheit besonders gravierend. Dort ist Chavez auf Stimmenfang. Er bringt mehr denn je vom Staat subventionierte Lebensmittel unter das Volk, propagiert, dass keiner Hunger leiden müsse.

    Das alles, um die zwei Drittel Mehrheit im Parlament zu erreichen. Denn die braucht er, um wichtige Vorhaben durchsetzen zu können.

    Die Opposition will das verhindern. Sie konnte dieses Mal ein Einheitsbündnis schmieden, die Allianz "Mesa de Unidad", die Parteien von ganz links nach ganz rechts umfasst. Sie tritt mit einem 100-Punkte-Plan an. "Vivir y progresar en paz" – "in Frieden leben und weiterkommen", heißt es in der Kampagne. Eine Gegenrevolution sei nicht geplant. Vielmehr hofft die Opposition, die unentschlossenen Wähler noch für sich zu gewinnen.

    Bei den Wahlen vor fünf Jahren war die Opposition gar nicht erst angetreten. Dieses Mal, glaubt der einstige Präsidentschaftskandidat Teodoro Petkoff, könne das Wahlergebnis die Geschicke des Landes tatsächlich beeinflussen:

    "Es ist gut möglich, dass die Opposition an Bedeutung gewinnt und stärker im Parlament sein wird, überhaupt mehr Präsenz zeigen kann. Bisher gibt z.B. nur wenige Oppositions-Bürgermeister. Auch aus intellektueller Sicht wäre eine stärkere Opposition im Parlament nur zu begrüßen."

    Trotz der positiven Umfragewerte fühlt sich die Opposition nicht sicher. Selbst für den Fall, dass Chavez Sozialisten die Zweidrittelmehrheit verlören, vergehen noch drei Monate, bis das neue Parlament zusammentritt. Genug Zeit, um Gesetze zu erlassen, die die Arbeit der Oppositionspolitiker behindern oder ganz aushebeln könnte.