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Unendlich schön, unendlich grausam

Wir alle leben mitten in der Welt. Wo sonst kann man leben? Genau wie der Fluss immer vor der Tür ist, so ist die Welt immer draußen. Und in der Welt müssen wir leben.

Von Siggi Seuß | 27.11.2004
    Sie ist scheu. Sie liest nicht aus ihren Büchern und sie gibt ganz, ganz selten Interviews. Gillian Rubinstein alias Lian Hearn.

    Warum Lian Hearn? Ich wollte einen passenden Namen benützen, weil die Otori-Geschichten zu schreiben etwas völlig anderes war als das, was ich zuvor gemacht hatte. Lian ist die zweite Hälfte meines Vornamens Gillian und war der Spitzname aus Kinderzeiten. Und Hearn ist das altenglische und irische Wort für "Reiher". Der Reiher ist ja eine wichtiges Symbol, das sich durch alle drei Bücher zieht. Außerdem ist Hearn der Name einer irischen Amerikaners, der im 19. Jahrhundert nach Japan kam, sich sofort in alles Japanische verliebte, eine Japanerin heiratete, von ihrer Familie adoptiert wurde, einen japanischen Namen annahm und den Rest seines Lebens in diesem Land lebte. Deshalb weckt Hearn auch eine Menge Gedankenverbindungen zu Japan.

    Die Schriftstellerin nennt einen plausiblen Grund für ihre Zurückhaltung: Sie glaubt, dass jeder Kontakt eines Schriftstellers mit der interessierten Öffentlichkeit das Wesen des Schreibens verändert. Besonders, wenn er sich gerade wieder einmal auf einer Forschungsreise durch imaginierte Welten befindet. Lian Hearn tut das zur Zeit, wie wir noch erfahren werden.

    Nackt und schlammig zeigte sich die Welt und wartete darauf, wieder mit Klängen und Farben gefüllt zu werden.

    Die Welt ist unendlich schön, die Welt ist unendlich grausam, in die Lian Hearn ihre jungen Helden Takeo und Kaede setzt. Es ist eine Welt voller Farben, Geräusche, Gerüche, Stimmungen wie man sie selten so differenziert in der Jugendliteratur findet. Hearn:

    Ich wollte dem Ganzen einen überaus authentischen Charakter verleihen. Das bedeutete, dass ich eine Menge Zeit damit verbrachte, die Jahreszeiten richtig zu erkunden. Wie das Licht ist, wie sich die Luft anfühlt in einer bestimmten Zeit des Jahres. Und weil ja mein Held Takeo dieses übernatürlich genaue Gehör hat, wollte ich herumgehen und einer Menge von Geräuschen lauschen. So verbrachte ich viel Zeit damit, mit geschlossenen Augen herumzuwandern und auf die Töne zu achten, die ich hörte. Aber die Sache mit den Nachforschungen ist die: Man muss die Ergebnisse sehr natürlich gebrauchen und man muss herausfinden, wofür sich seine geschaffene Figur interessiert. Es ist nur wichtig zu wissen, was sie denkt.

    Seit zehn Jahren pflegt Lian Hearn ihre Leidenschaft - sie nennt sie "Obsession" - für japanische Kultur. Sie besucht das Land Jahr für Jahr, manchmal mehrere Monate lang, sie lernte japanisch, verständigt sich inzwischen leidlich gut und liest besser als sie spricht. Und so verwundert es nicht, wenn Geschichte, Landschaften, Sitten und Traditionen des feudalen Japan den Hintergrund des Romans bilden. - Die Trilogie des "Clan der Otori", die sich über einen Zeitraum von zwei Jahren erstreckt, führt die Leser in ein imaginäres japanisches Inselreich am Ende des 15. Jahrhunderts, das von Clans beherrscht wird. Zwei junge Menschen - beide 15 Jahre alt - werden in diese Welt voller Grausamkeit und Schönheit geworfen.

    Ich begann in meinem Kopf nur mit den beiden Hauptfiguren, Takeo und Kaede. Ich hörte eine ziemlich energische innere Stimme, dass Takeo die Geschichte erzählt. Ich konnte seine Stimme wirklich hören. Im ersten Buch wusste ich, dass beide auf einer Art Reise sein würden und dass, obwohl man vermutete, sie würden heiraten, sie es am Ende des Buches nicht taten. Das war fast alles, was ich hatte und dann setzte ich mich hin, schrieb und fand heraus, was geschah.

    Takeo und Kaede leben in einer von Männern dominierten Welt voller Machtgier, Intrigen und Gewalt. Der Junge hat als einziger Dorfbewohner das Massaker eines Clans überlebt, das den sogenannten "Verborgenen", einer christlichen Glaubensgemeinschaft, galt. Ein Herr aus dem Clan der Otori rettet ihn in letzter Sekunde. Otorilord Shigeru gibt dem Jungen den Namen Takeo, macht ihn zum Ziehsohn und Erben und hofft, mit seiner Hilfe das Land zu einen. Ein geheimnisvoller Bund magiebegabter Menschen - "der Stamm", dem legendären Bund der Ninjakrieger nachempfunden - erhebt jedoch ebenfalls Ansprüche auf Takeo. Der Junge spürt, welch ungewöhnliche Talente in ihm schlummern, zum Beispiel die Fähigkeit eines äußerst hellen Gehörs. Gleich dem Mädchen Kaede, Tochter eines Grundbesitzers, fühlt sich Takeo aber wie eine Schachfigur im Spiel der Mächtigen.

    Wenn wir dir sagen, du sollst den Schmutz unter deinen Fingernägeln aufkochen und trinken, dann tust du es. Wenn wir sagen, iss, dann isst du. Und du machst nichts anderes. Diese Art Gehorsam haben wir als Kinder gelernt. Du musst sie jetzt lernen.

    Das sagt eine Angehörige des Stammes. Takeo hat sich im zweiten Teil der Geschichte von seiner Geliebten getrennt hat, um sich dem Stamm anzuschließen und seine Fähigkeiten zu perfektionieren. Doch bald spürt der junge Mann, dass er dem mörderischen Regiment dieses Geheimbundes entfliehen muss, dessen Broterwerb es ist, im Auftrag verschiedener Clanchefs zu spionieren, zu morden und Attentate zu begehen. Zur gleichen Zeit schwindet in Kaede, die von Takeo ein Kind erwartet und die das Erbe einer großen Domäne antreten soll, die Hoffnung, ihren Geliebten je wieder zu sehen.

    Sie, die sich mit provokantem Mut von der Herrschaft der Männer zu lösen im Begriff war, gerät in die Fänge eines obskuren Grundherrn, der von ihr Besitz ergreifen und sie heiraten will. Derweil wird Takeo mehr und mehr in die Rolle gedrängt, das ideelle Erbe seines toten Ziehvaters Lord Shigeru anzutreten und für die Befreiung und Einigung des Landes zu kämpfen. Die Prophezeiung einer alten Wahrsagerin scheint Takeos Schicksal zu bestätigen:

    Dein Land wird sich von Meer zu Meer erstrecken. Aber der Frieden kommt um den Preis des Blutvergießens. Fünf Schlachten werden dir den Frieden bringen, vier Mal wirst du den Sieg davontragen, ein Mal musst du dich geschlagen geben. Viele müssen sterben, doch du bis sicher vor dem Tod außer durch die Hände deines eigenen Sohnes.

    Lian Hearns Roman ist zu komplex angelegt, als dass man ihn überhaupt komprimiert darstellen könnte. Die Motive der Menschen erscheinen so vielfältig wie die Lichter des Tages und der Nacht und erzählen dennoch immer wieder die uralte Geschichte menschlicher Irrungen und Wirrungen, voller Gewalt und Grausamkeit, voller Liebe und Hoffnung.

    Die japanische Geschichte ist äußerst kompliziert und die Gesellschaft ist sehr komplex und schwer zu durchschauen. Deshalb wollte ich lieber einen Fantasyroman als einen historischen Roman schreiben. Und so hab ich in meiner erfundenen Welt alles vereinfacht.

    Lian Hearn ist eine großartige Erzählerin. Wie sie Mythos und Realität mit ihrer Fantasie verknüpft und in lebenspralle, impressionistische Bilder fasst, das hat etwas von der Eindringlichkeit der Bilder in Akira Kurosawas Filmkunstwerk "Die sieben Samurai": Die gleiche sensible Balance zwischen Deutlichkeit und Diskretion in der Darstellung von Gewalt. Die gleiche traumwandlerische Sicherheit, mit der die Tönungen des Lebens ins Blickfeld gerückt werden, vom Duft der Zypressen bis zum Gestank des Aborts, vom Liebesgeplänkel bis zur Gräueltat - Bilder von Shakespeareschem Format.

    Deshalb ist, glaube ich, ein Großteil der Geschichte nicht im Sinne des Buchstabens präzise, aber im Geiste.

    Lian Hearn arbeitet zur Zeit an einem, sozusagen "autonomen" fünften Buch der Otori-Sage, das die Geschichte 16 Jahre nach den in der Trilogie erzählten Ereignissen beschreibt. Ein viertes Otoribuch - es behandelt das Leben des Otorilords Shigeru ein paar Jahre vor dem Beginn des ersten Teils der Trilogie - ist bereits fertiggestellt. Gillian Rubinstein schreibt also schon wieder. Seite für Seite handschriftlich in ihre DIN-A-4-Klatten, rechts die Geschichte, links die Anmerkungen und andere Kritzeleien. Am besten kann sie das, wenn sie in Flughafenlounges sitzt und wartet. Dort kennt sie niemand, dort stellt ihr niemand kluge Fragen und sie kann gänzlich in ihrer imaginären Welt verschwinden. Da wollen wir nicht weiter stören und verlassen auf leisen Sohlen den Raum. Wir hoffen nur, dass Takeo und Kaede überleben. Aber so sicher ist das auch wieder nicht, denn Lian Hearn mag "offene Enden, bei denen der Leser selbst herausfinden muss, was als Nächstes geschieht."

    Und schließlich, egal ob sie schön ist oder grausam:

    Wir alle leben mitten in der Welt. Wo sonst kann man leben? Genau wie der Fluss immer vor der Tür ist, so ist die Welt immer draußen. Und in der Welt müssen wir leben.