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Unerwarteter Besuch

Ein Gedicht, so Günther Eich einmal, kann vier Verse haben, oder in einem Roman von 400 Seiten bestehen. Das einzige Kriterum: Der Text müsse "genügend anarchisch" für die "Welt- und Ich-Versicherung seines Autors" sein. Unter diese Perspektive genommen ist der neue, knapp vierhundert Seiten starke Roman von Aras Ören mit dem Titel "Unerwarteter Besuch" in der Elephanten-Press Berlin tatsächlich ein "Gedicht".

Reinhard Knodt | 22.12.1997
    Anarchisch genug ist er jedenfalls, und passend zu einer Rubrizierung als "Gedicht" ist auch, daß die Erzählung aus der Perspektive eines mit dem Aspekt der ”Welt und Ich-Versicherung” gründlich zerfallenen "Dichters" geschrieben ist. "Weder Phantasie noch Realität waren Orginale" so heißt es gleich zu Anfang in einer Selbstbetrachtung des ”Dichters”, der erkennt, daß er ”seine Geschichten aus Filmen und Erzählungen anderer hat” und daß auch seine sogenannte Biographie nicht aus dem Lügengeflecht des Selbstbetrugs zu lösen ist. ”Als der Dichter das erkannte", so lesen wir weiter, "betrachtete er sein bisheriges Geschreibsel als Zeitvergeudung auf den Spuren einer abwegigen und nutzlosen Phantasie".

    Insbesondere besteht die ”Zeitvergeudung” des "Dichters” nach Aras Ören darin, daß er zwischen Betrunkenen, Halbinteressierten, Barfrauen und ‚ehemaligen‘, das heißt nun eher verhaßten Freunden nächtens unablässig und zwanghaft erzählt: - von seiner Entführung durch Männer im Kaftan durch einen Fluchttunnel zwischen seiner Wohnung in der Schillerstraße bis ins Topkapi Serail, vom Nachlaß des glücklosen türkischen Sultan Cem aus dem 15. Jh., "der erst im Exil zu sich fand, indem er sich eine Welt ganz aus Sprache baute", vom real exisitierenden Sozialismus der DDR, den Brüsten Dorotheés, dem Fall der Mauer - aber eben nicht nur. Die Handlung nämlich - wenn das Gesplitter aus Perspektiven, bizarren Rahmenkonstrukten, wirbelnden Vor- und Rückholungen denn so genannt werden darf, konzentriert sich auf ein Doppelschicksal, das man durchaus als literarischen Fund bezeichnen darf:

    Da ist einerseits der "junge Dichter", der mit auswendig gelernten Eliot-Gedichten im Kopf und also "wohlversorgt mit Sprache" in den Berliner Osten fährt, um die weißen Brüste einer Edel-Kadersozialistin namens Dorothee zu erobern; und da ist - zwanzig Jahre später - die deprimierende Begegnung einer Nutte namens Dorotheé mit demselben, mittlerweile auch nicht gerade in Würde gealterten Dichter auf der Toilette einer Prominentenkneipe im Berliner Westen. Zwischen den beiden Begegnungen: die sogenannte "Wirklichkeit ". Auf diese Wirklichkeit ist im übrigen weder in der Erinnerung noch im Erzählen Verlaß, vielmehr mutet sie an, als würde ein Filmprojektor verrückt spielen, einmal schnell und einmal langsam laufen, meist vorwärts, aber gelegentlich doch auch rückwärts, und auch, als wäre der Film an manchen Stellen falsch geschnitten, was der Autor oder – sagen wir lieber, der Vorführer dieses völlig ruinierten und verschnittenen Films auf einem völlig ruinierten Vorführgerät, zwar bemerkt, aber eben doch hilflos mit ansehen muß, weil er schließlich ein Publikum hat - jene Betrunkenen in der Berliner Kneipe nämlich, die er bei Laune zu halten hat.

    Inhaltlich betrachtet ist die ”unerwartete Begegnung” eine Explosion imaginativen Erzählens und die Ausweitung und Auffüllung bisheriger Arbeiten. Da sind die alten Bekannten aus der Trilogie der Naunystraße, da ist Ali und Frau Kutzner und der türkische Kellnerjunge, der jetzt Kandir heißt, da ist Lambert auf der Flucht vor eingebildeten und echten Verfolgern. Doch da ist noch Wichtigeres: ganz en passant zum Beispiel gelingt nämlich die Ausweitung des "türkischen" Problems ins "islamische", und sogar eine weite historische Dimension wird hinter allen Asylanten- Künstler- und Migrantenproblemen sichtbar, wenn die zweite Grenzüberschreitung gelingt, die aus den Straßen Berlins hinaus in die frühere DDR.

    Formal gesehen ist das Buch ”postmodern” im besten Sinne. Der Verlust der einsträngigen klassischen Erzählstruktur im Gesplitter der ”Wirklichkeit”, die permanente Engführung des Erhabensten mit dem "Milieu", des Grellsten und Ordinärsten mit der Zärtlichkeit privater Empfindung und des Schockierendsten mit dem Banalsten – wobei im übrigen nie ausgemacht ist, daß das zunächst Banale sich nicht zum Schockierenden wandelt, wenn etwa der Freier der Nutte Dorothée just in dem Moment durch Kopfschuß stirbt, als der Autor seine Perspektive übernommen hat, oder wenn die junge Kadersozialistin Dorothee beim Schlittschuhlaufen in einem Eisloch versinkt und an den Haaren wieder hervorgezogen wird, just als die Erzählung schon anheben wollte, kitschig zu werden.

    Zwischen dem filmähnlichen Geflacker eines immer wieder umgewälzten szenischen Spiels, in dem Berlin als "Freiluftklosett" und die multikulturelle Gesellschaft als der Niedergang Habgieriger erscheint, wird es dann auch etwas problematisch, wenn sich der Roman sentenzenweise zum philosophischen Vademecum wandelt, denn da flattern durch die Szenen doch immer wieder, wie zerfliegende Mansukriptfetzen, die zu Phrasen gewordenen Verbindlichkeiten des 20. Jahrhunderts: Geschichte? Fortschritt? Identität? Der Wert des Wissens? Nichts gilt mehr, erfahren wir - und das wäre jedenfalls zu wenig, wenn Aras Ören den Schaden nicht auch gleich wieder gutmachen würde, denn die Vernichtung des Glaubens ans Wahre, Gute und Schöne gewinnt doch auch ihre unauslöschliche Bildkraft in der Figur Dorotheés:

    Diese nämlich sitzt irgendwann mit ihrer ersten Regelblutung am Rand eines Sportplatzes der alten sozialistischen DDR und denkt darüber nach, wie sie trotz ihrer Schmerzen ein Pionierabzeichen, die "silberne Medalle des Wissen",erringen könnte. Der Ort, an dem uns diese Sehnsuchtshoffnung einer jungen Frau wie eine Erinnerung an bessere Zeiten präsentiert wird, ist das Klosett jener Prominentenkneipe, aus dem die Nutte Dorotheé samt dem ”Dichter” nun nicht mehr herauskommt, weil sich vor der Klotür eine Meute Betrunkener drängelt.

    "Unerwarteter Besuch" beendet eine Reihe von Romanen, die Aras Ören 1987, nach der Trilogie der Naunystraße mit "Granatapfelblüte" aufnahm und die er einmal seine "Arbeit an der Jetztzeit" nannte. Das Buch ist, wie fast alles von Aras Ören, eine Art prächtig schillernder Geste, nichts einfach Faßliches und eben daher in einem postmodernen Sinne eine Art Basis des Lesenden, sich selber Geschichten zu erzählen. Die Erzählung wirkt etwas schwärzer und vielleicht auch elegischer als vieles bisherige, doch gilt auch hier wieder die Botschaft, die Aras Ören schon mehrfach untergebracht hat. Sie lautet: "Was bleibt, ist das Wort". Die Sprache ist ”stärker als alle Wirklichkeit”, denn sie gestattet uns, uns unsere Leben gegenseitig immer wieder in einer neuen Fiktion zu erzählen. - Und dies ist, wer weiß, unsere einzige Möglichkeit, überhaupt weiterzuleben.