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Unfall entfacht britische Atomstrom-Debatte

Der eben erst wiedergewählte britische Premier Tony Blair wollte sein Land gerade auf den geplanten Verzicht auf Atomkraftwerke einstimmen. Da kommt ihm ein neuer Unfall in der Wiederaufbereitungsanlage von Sellafield in die Quere. Dort sollen im April 200 Tonnen uran- und plutoniumhaltiger Salpetersäure ausgelaufen sein. Aus London berichtet Martin Zagatta.

    Langsam manövriert ein Roboter-Arm ein Stück Metall nach oben. Mikrophone übertragen die Aktion im Innern des Reaktors in die Kontrollstation. Ohrenbetäubender Alltag in der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield, wo auf die Techniker, die hier die Bildschirme überwachen, nun allerdings noch mehr zukommt.

    Die 20 Tonnen an Uran- und Plutoniumhaltiger Säure, die ausgelaufen sein sollen bei dem Rohrbruch in der Atomfabrik, können nur mit Hilfe solcher Roboter entsorgt werden. Ein kompliziertes Verfahren, räumen selbst die Betreiber ein, betonen gleichzeitig aber, dass keine Gefahr bestehe für Menschen und Umwelt, weil die Flüssigkeit in ein abgedichtetes Becken gelaufen sei. Dennoch hat der Unfall die strittige Diskussion um die Atomkraft neu belebt. Und die britische Nuklearindustrie ist vorgeprescht mit einer Warnung, aus dem Vorfall in Sellafield keine falschen Schlüsse zu ziehen. Im Gegenteil: Großbritannien drohten Energie-Engpässe, und deshalb sei es höchste Zeit, den De-facto-Ausstieg aus der Kernkraft rückgängig zu machen.

    Es bestehe dringender Handlungsbedarf, so Keith Parker von der Vereinigung der Nuklearindustrie; denn Atomkraftwerke benötigten Zeit, für die Genehmigung wie für den Bau, und an neuen Anlagen führe kein Weg vorbei. Allerdings setzt auch die gerade im Amt bestätigte Labour-Regierung bisher auf einen Atomausstieg. Die ältesten Nuklearfabriken auf der Insel sind schon stillgelegt worden in den vergangenen Jahren. Bis 2014 soll die Hälfte der jetzt noch existierenden 16 Anlagen außer Betrieb gehen, was den Anteil der Atomkraft an der Energieerzeugung von jetzt noch 22 Prozent auf dann unter 10 Prozent absenken könnte.

    Großbritannien verfüge über 40 Prozent der Windmenge in ganz Europa, die Kosten für erneuerbare Energien würden sinken, das sei allemal günstiger als Atomkraft, so plädiert der frühere Energieminister Michael Meacher dafür, an dem Ausstieg aus der Kernkraft unter allen Umständen festzuhalten. Die Regierung hat die Stromerzeuger gesetzlich zu jährlichen ansteigenden Anteilen von erneuerbaren Energien verpflichtet, bis 2020 soll die Quote auf 20 Prozent steigen. In dem Anfang des Jahres vom Industrieministerium veröffentlichten Weißbuch zur Energiepolitik wird aber auch davor gewarnt, dass Großbritannien in den kommenden Jahren zu einem Netto-Importeur von Gas und Erdöl werden könnte, mit entsprechenden Preissteigerungen. Und Tony Blair hat zum Entsetzen der Atomkraftgegner in seiner Partei inzwischen erklärt, die – so wörtlich – "nukleare Option" offen halten zu wollen. Der Premierminister hat damit auf Kritik reagiert, zu wenig zu tun, um den Schadstoffausstoß zu vermindern.

    Großbritannien könne stolz darauf sein, als eines von ganz wenigen Ländern die Kyoto-Verpflichtungen bereits erfüllen, so rechtfertigt sich Blair. Allerdings sind die Kohlendioxyd-Emissionen in seiner Regierungszeit nicht verringert worden, sondern zuvor schon durch das Schließen von Kohlebergwerken. Und von dem selbst gesetzten Ziel, 20 Prozent weniger Schadstoffe, ist London noch so weit entfernt, dass dies sogar zu einem Problem werden könnte beim Weltwirtschaftsgipfel in knapp zwei Monaten. Bei dem Treffen im schottischen Gleneagels will Blair als G-8-Vorsitzender nämlich den Klimaschutz in den Mittelpunkt stellen. Bis dahin, also in den nächsten Wochen, sollen jetzt auch die Weichen für die britische Energiepolitik gestellt werden.

    Ob sich die Labour-Regierung nun allerdings für oder gegen neue Kernkraftwerke entscheidet – ein Problem bleibt den Briten auf alle Fälle erhalten: schon jetzt lagern auf dem Gelände von Sellafield mehr als 3000 Kubikmeter atomarer Müll und auch die Insel verfügt über kein Endlager.