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Unfreiwilliger Handlanger

Die Geschichte des Geigers Burkhard Keller steht stellvertretend für große Teile der deutschen Bevölkerung. Er war kein Anhänger der Nazis, dennoch ließ er das Regime machen, was es wollte.

Von Martin Ebel | 03.08.2010
    Die Zeit der deutschen Besetzung hat Jean-Paul Sartre unmittelbar nach Kriegsende gesagt, war eine moralisch gute Zeit, weil man gewusst habe, was gut und böse sei. Ganz so einfach war es allerdings nicht. Klar waren die Nazis böse, war es gut, gegen sie zu sein. Aber die schlimmen Verhältnisse schufen doch oft genug Situationen, in denen man nur die Wahl zwischen zwei schlechten Entscheidungen hatte. Auf einen ganz anderen und wohl eher zutreffenden moralischen Nenner bringt diese Zeit eine Figur in Eugene Druckers Roman "Wintersonate". Es ist ein jüdischer Musiker, der es geschafft hat, aus dem Dritten Reich ins sichere England zu fliehen, und der in einem Brief an seinen früheren Kollegen Burkhard Keller seine Erfahrungen so zusammenfasst:

    Unsere Zeit bringt das Beste und das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein.

    Diese Zeit forderte die Menschen aufs Äußerste. Einer, den sie überforderte, ist eben dieser Burkhard Keller. Eugene Drucker hat ihn als mittleren Charakter angelegt; unauffällig, nicht sehr sympathisch, aber auch nicht abstoßend. Wir lernen ihn kennen, als das Ende des Zweiten Weltkrieges sich schon abzeichnet. Als Geiger ist Keller vom Kriegsdienst befreit; sein Beitrag zum "Endsieg" besteht darin, vor verletzten Soldaten in Lazaretten zu spielen. Diese zeigen sich nicht alle begeistert von dem Kulturprogramm; er stößt auf Abgestumpftheit, Desinteresse, ja offene Aggression. Da fordert ihn eines Tages der Kommandant eines nahegelegenen Konzentrationslagers an. Keller soll für eine ausgesuchte Gruppe von Häftlingen spielen. Der Kommandant braucht ihn für ein perfides Experiment: Er will sehen, ob man in den durch den Prozess der Vernichtung durch Arbeit völlig entkräfteten und jeder Hoffnung beraubten Menschen die Lebenskräfte wieder wecken, ob man diesen Prozess also umkehren kann. Durch Musik. Keller stimmt zu, er hat auch gar keine Wahl.

    Was der Roman "Wintersonate" beschreibt, sind die Auftritte Kellers vor den Häftlingen, deren Los für die Dauer des Experiments etwas erleichtert wird, seine Reflexionen über die Moralität seines Handelns und, in jedem zweiten Kapitel, Rückblicke. Diese erweitern den klaustrophobischen Raum der Handlung räumlich und zeitlich, komplettieren aber vor allem das Bild, das wir vom Helden haben. Burkhard Keller hatte nämlich in den 30er-Jahren eine leidenschaftliche Affäre mit einer jüdischen Pianistin, Alina. Da klar war, dass es für sie keine Zukunft in Hitlers Deutschland geben würde, dachte er daran, mit ihr nach Palästina zu gehen. Er bemühte sich um einen Platz in einem geplanten jüdischen Orchester, wollte sich sogar, um seine Chancen dafür zu erhöhen, eine falsche jüdische Großmutter zulegen. Doch dann ließ er den Vorspieltermin sausen und Alina sitzen. Dieser Verrat zehrt noch immer an ihm, lässt ihn, zu Recht, moralisch klein von sich denken. Er sieht in der einstigen Liaison aber auch einen Angriffspunkt des Regimes gegen ihn. Ein Grund dafür, warum der dem Kommandanten so wenig Widerstand, nicht einmal passiven Widerstand, entgegensetzt.

    Mit Burkhard Keller hat der Autor Eugene Drucker eine Figur geschaffen, die eine individuelle Biografie hat und zugleich exemplarisch für große Teile der deutschen Bevölkerung steht: Er war kein Anhänger der Nazis, hatte sich zu Anfang sogar ein wenig exponiert, war dann aber in eine Art Schockstarre gefallen, in eine Mischung aus Angst, Schuldgefühl und Apathie. Mit solchen konnte das Regime machen, was es wollte.

    Eugene Drucker hat mit seinem Roman auf zwei Fragen antworten wollen. Die erste: Wie konnte ein so kultiviertes Volk wie das deutsche so tief sinken? Die zweite: Wie hätte ich mich verhalten? Auf solche Fragen gibt es keine wirklichen Antworten, nur Geschichten; wie ja auch die unendliche jüdische Weisheit für die Jahrhunderte der Verfolgung keine Erklärung hat, sondern nur Geschichten und Gleichnisse. Drucker hat mit Keller einen Durchschnittsmitläufer geschaffen, der etwas kann, also verwendbar ist, und dem zugleich jener Kern fehlt, der ihn zur Persönlichkeit macht und der Keim des Widerstandes hätte sein können.

    Dass Drucker diese Frage so beschäftigt, trotz der unübersehbaren Menge historischer Literatur über die Hitlerzeit, so sehr beschäftigt, dass er 30 Jahre an diesem Roman gearbeitet hat, immer wieder neu angesetzt hat, zehn Versionen angefertigt: Das hat tiefe persönliche Gründe. Drucker ist selbst Geiger, ein hervorragender und weltberühmter Geiger, Mitglied des großartigen Emerson Quartetts. Die Erfahrungen Kellers in Lazaretten hat er selbst in Krankenhäusern gemacht. Er wollte, wie er selbst erklärt hat, das seltsam asymmetrische Verhältnis des auftretenden Musikers zu seinem Publikum in einer extremen Verzerrung zeigen - im KZ sind Keller und die Häftlinge nicht frei, zu spielen oder zuzuhören; dort erklingt die Musik nicht um ihrer selbst willen, sondern zu einem perversen Zweck, ist überhaupt das Ganze Unternehmen eine ungeheure Perversion - wie alles, was im Vernichtungsuniversum des Dritten Reiches passierte. Deshalb ist es auch müßig, Drucker Unwahrscheinlichkeiten in seiner Konstruktion vorzuwerfen. Ist doch das Vernichtungslager selbst das in seiner Schrecklichkeit Unglaublichste, das menschliche Hirne je ersonnen haben. Ein einfacher Schriftsteller muss dahinter ohnehin zurückbleiben. Die Frage, ob dieser Schauplatz der richtige für ein literarisches Experiment ist, darf man aber sehr wohl stellen. Zumal Druckers literarische Fähigkeiten hinter seinen geigerischen deutlich zurück stehen. Die Sprache ist zwar angenehm unangestrengt, aber auch sehr stereotyp und oft ihrem Gegenstand schlicht nicht gewachsen. Dass Drucker, dieser amerikanische Topmusiker des Jahrgangs 1952, dieses Buch schreiben musste, hat seinen Grund darin, dass sein Vater Drucker hieß. Ernst Drucker, deutscher Jude, der 1938 emigrieren konnte, und nicht nach Palästina ging, obwohl er dort schon einen Posten als Konzertmeister hatte, sondern in die USA, wo er dann 37 Jahre im Orchester der Metropolitan Opera spielte. Seine Erlebnisse mit deutschen Musikerkollegen haben die Rückblicke des Romans mit Stoff versorgt.

    Es macht Literatur nicht besser, wenn man weiß, was die Autoren inspiriert hat und warum sie ein bestimmtes Buch unbedingt schreiben mussten. Aber es macht einen zweifellos nachsichtiger gegenüber ihren Schwächen.

    Eugene Drucker: Wintersonate. Roman. Aus dem Englischen von Inge Leipold. Osburg Verlag, Berlin 2010. 272 Seiten, 19,95 Euro.