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Ungebremst in den Anfall

Neurologie. - Der Schläfenlappen umfasst die Hirnstrukturen, die sich von der Schläfe bis hinter das Ohr erstrecken. Rund ein Drittel aller erwachsenen Epilepsiepatienten leidet unter epileptischen Anfällen, die dort ihren Ursprung haben. Die seltsamen Formen, die ihre Anfälle annehmen können, hängen davon ab in welchem Bereich des Schläfenlappens ihr Anfallszentrum liegt. Behandeln lässt sich die Schläfenlappenepilepsie bislang noch nicht. Die gängigen Medikamente wirken nicht. Umso wichtiger ist es, dass Wissenschaftler endlich die Ursachen dieser Epilepsien ausfindig machen. Bonner Forscher haben nun aber auffälliges an den Eingangszentren der Nervenzellen entdeckt.

Von Kristin Raabe |
    Das Eingangszentrum sieht aus wie die Krone eines uralten, weitverzweigten Baumes. Es geht über in einen ovalen bis spindelförmigen Zellkörper - einer Art biologischem Mikroprozessor, der alle eingehenden Signale verrechnet und sich dann für oder gegen ein Ausgangssignal entscheidet. Das eigentliche Ausgangszentrum einer Nervenzelle befindet sich am Ende eines langen Fortsatzes, der vom Zellkörper wegführt. Was dort geschieht, wird aber nicht nur vom biologischen Mikroprozessor im Zellkörper entschieden: Ein winziger Kaliumkanal spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er sitzt in den Membranen der feinen Verästelungen des Eingangszentrums der Nervenzelle. Dort entlässt er positiv geladene Kaliumionen aus der Zelle.

    Kalium, wenn es durch diese Kanäle durchfließt, hat eigentlich eine dämpfende Wirkung auf die Erregung und stabilisiert das Membranpotential von Nervenzellen. Deswegen kann man hier eigentlich von einer hemmenden oder dämpfenden Wirkung dieser Kanäle ausgehen. Und das trifft auch auf Eingänge auf diese Nervenzellen zu. Eingänge auf diese Nervenzellen können nicht mehr ungehindert zum Nervenzellkörper sich fortpflanzen, sondern werden durch diese Kaliumkanäle in ihrer Ausbreitung zum Zellkörper gehemmt.

    Heinz Beck hat an der Universität Bonn die Funktion dieser Kaliumkanäle untersucht. Das Ergebnis ist eindeutig: Der Kaliumkanal ist eine Art Signalbremse. Alle eingehenden Signale müssen diese Bremse am Eingangszentrum einer Nervenzelle erst überwinden. Nur wenn das Eingangsignal groß genug ist, hat es eine Chance, den Zellkörper zu erreichen und dort ein entsprechendes Ausgangsignal auszulösen. Beck:

    Dieses Ausgangssignal ist eine Alles - Oder- Nichts - Entladung und ob diese Alles-oder-Nichts-Entladung stattfindet und an andere Nervenzellen weitergegeben wird, wird eben zum Teil durch diesen Kaliumkanal entschieden. Und man kann sich ganz einfach merken, wenn viel von diesem Kaliumkanal da ist, dann wird so ein Ausgangssignal schwerer generiert, und wenn wenig von diesem Kaliumkanal da ist, dann wird sehr leicht so ein Ausgangssignal generiert.

    Viel oder wenig Kaliumkanal - das entscheidet also über die Alles-oder-Nichts-Antwort einer Zelle. Bei Ratten, die unter einer Schläfenlappenepilepsie litten, fand Heinz Beck viel weniger Kaliumkanäle als im Gehirn gesunder Tiere. Außerdem waren die Kanäle bei den erkrankten Ratten nur eingeschränkt funktionsfähig. Beck:

    Wir haben also zwei Veränderungen, die praktisch konvergent dasselbe machen mit diesem Kanal, nämlich seine Funktion reduzieren. Eine Arbeitsgruppe hat dann gezeigt, dass diese Reduktion des Kanals zur Folge hat, dass es zu einer funktionellen Veränderung in Nervenzellen kommt. Und diese funktionelle Veränderung bewirkt wahrscheinlich, dass eingehende, erregende Informationen von Nervenzellen besser zum Zellkörper durchgeschaltet werden und dort leichter ein Ausgangssignal verursachen. Ganz plakativ kann man sagen, die Eingangs-, Ausgangseigenschaften sind erhöht.

    Wenn die Kaliumbremse nicht funktioniert, kann sich auch ein schwaches Eingangsignal zum Zellkörper ausbreiten und dort ein Ausgangssignal erzeugen. Mit einfachen Worten: Die Zelle flippt schneller aus. Und genau das passiert wahrscheinlich auch während eines epileptischen Anfalls: Übererregbare Nervenzellen fangen schon bei der kleinsten Kleinigkeit an zu feuern, weil ihre Kaliumbremse nicht richtig funktioniert. Das geschieht mit Sicherheit im Gehirn der epilepsiekranken Ratten - und höchstwahrscheinlich auch im Gehirn von Patienten mit Schläfenlappenepilepsie. Beck:

    Grundsätzlich ist es so, dass wir für verschiedene andere Kanalproteine schon diesen Vergleich gemacht haben, zwischen menschlichen Patienten und unseren Epilepsiemodellen. Und in einigen Fällen scheint es so zu sein, dass die Veränderungen an diesen Kanälen bei menschlicher Temporallappenepilepsie sehr, sehr ähnlich sind zu denen, die wir in unserem Tiermodellen sehen, und das hat natürlich eine gewisse Implikation, weil wir sehen, dass unsere Tiermodelle, was diese Dinge anbelangt, sehr gut nutzbar sind.

    Demnächst will Heinz Beck seine Ergebnisse aus dem Tiermodell auch am menschlichen Hirngewebe überprüfen.