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Ungebremste Kraft

Sieben Jahrzehnte umspannt das Werk von Louise Bourgeois, das die Tate Modern in London in einer mehr als 200 Exponate umfassenden Ausstellung zeigt. Die 1911 geborene Künstlerin lebt seit den späten 30ern in New York. Und wer die alte Dame auf der Straße sieht, wird ihr nicht ansehen, dass sie verstörende, emotionale, alle Grenzen der Konvention sprengende Kunstwerke schuf, als noch längst nicht alle Tabus gebrochen und vermarktet waren.

Von Hans Pietsch |
    Das erste Objekt, dem man sich gegenübersieht, ist eine Guillotine, bereit, auf das darunter stehende Modell eines französischen Herrenhauses aus rosa Marmor zu fallen. In dem Haus in Choisy südlich von Paris wuchs Louise Bourgeois auf. So beginnt die Schau, und mit ihr die Lebensgeschichte der Künstlerin, die sie in ihrem Werk immer wieder neu erzählt. "Alles, was ich tue, geht auf meine Kindheit zurück", hat sie gesagt, "Meine Kindheit hat nie ihre Magie, ihr Geheimnis, ihr Drama verloren" - der tyrannische Vater, der ihre Englischlehrerin zur Geliebten machte, die "intelligente, geduldige" Mutter sah weg, um den Hausfrieden zu erhalten.

    In den Vierzigerjahren entstand eine Serie von Gemälden, die alle den Titel "Femme Maison" tragen - Hausfrau. Stehende weibliche Akte, der Kopf ein Haus. Es wird von der Frau gestützt, ohne sie würde es, und damit die Familie, zusammenstürzen, doch gleichzeitig löscht es ihre Individualität aus.

    Und dann die ersten Skulpturen. In New York, wohin sie 1938 umgesiedelt war, arbeitete sie zunächst auf dem Dach ihres Apartment-Hauses, umgeben von Wolkenkratzern. Noch erinnern ihre aufrechten Plastiken aus Holz und Gips an den menschlichen Körper - sie nennt sie "Personages". Dann gehen sie ganz in die Abstraktion über, werden Architektur. Und doch beschreibt sie sie als "die Menschen, die ich in Frankreich zurückließ."

    Wieder ändert sie die Richtung. Anthropomorphe Formen entstehen, aus leicht manipulierbarem Material wie Latex und Gips. Sexuelle Anspielungen zuhauf. Ein von der Decke hängender gelblicher Penis scheint gleichzeitig eine Vagina sein zu wollen. Der Titel: "Fillette" - "Töchterlein". Diese Doppeldeutigkeit ist überall - ist dies ein Auge oder ein weibliches Geschlecht, sind das zwei Pilze oder Brüste? Eindeutig dagegen ist das 1974 entstandene Tableau "Die Zerstörung des Vaters", ihre erste Installation - runde Formen sind um einen Tisch versammelt, blutrot ausgeleuchtet. Auf ihm liegen Gliedmaßen. Die gedemütigte Familie ertrug die Tyrannei des Vaters nicht mehr, zerhackte und verspeiste ihn.

    Um 1980 bezog sie ein neues Atelier, wo sie zum ersten Mal Platz hatte, großformatig zu arbeiten. Das Resultat: ihre "Zellen" - Käfige aus Metall, Glas und Holz, raumgroß. Sie sind vielleicht ihre autobiografischsten Arbeiten, gefüllt mit Erinnerungen: Kleidungsstücke, Stühle, Spielzeug, ihr Kinderbett, das Bett der Eltern, aber auch eigens hergestellte Objekte aus Latex, hier ein Penis, dort ein abgehackter Arm, immer wieder Prothesen. Der zentrale Raum mit insgesamt fünf dieser Zellen ist der Höhepunkt der Schau. Doch die Künstlerin bleibt noch immer nicht stehen. Mit ihren jüngsten, aus Stoff genähten Porträtköpfe und Stelen kehrt sie zu einem kleineren Format zurück. Sie sind zart, zerbrechlich, verwundbar. Auf einer in diesem Jahr entstandenen Zeichnung stehen die Worte: "Es ist nicht so wichtig, wo meine Motivation herkommt, sondern wie sie es fertig bringt zu überleben."

    Den letzten Raum der Schau bezeichnen die Kuratoren als Wunderkammer. In zwei großen Glasvitrinen präsentieren sie kleinere Arbeiten der Künstlerin, aus allen Werkphasen - Skulpturen, Zeichnungen, Grafiken, die ihre rastlose Kreativität zeigen. In der Mitte des Raums, auf einem Sockel, liegt ein groteskes kopulierendes Paar, aus pechschwarzer Wolle gestrickt, kopflos, die unten liegende Frau hat eine Beinprothese. Ein höllisches Paar, und doch so burlesk, dass man fast schmunzelt. Auf ein Taschentuch in einer der Vitrinen hat sie die Worte gestickt: "Ich bin zur Hölle gefahren und wieder zurück, und ich kann nur sagen: es war wundervoll."