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Ungefähres Gleichgewicht

Das ist ne große Leistung, wenn die Tarifvertragssysteme auf der einen Seite wirklich diesen Standard an Sicherheit bieten für die Leute, auf der anderen Seite die Betriebe atmen lassen. Da seh ich auch kein Aufweichen der Tarifautonomie, für mich ist das ne ganz klare Weiterentwicklung und Modernisierung.

Eine Sendung von Günter Rohleder |
    Das Tarifkorsett, das wir im Augenblick haben, hat sich in vielen Fällen – nicht in allen, bei weitem nicht in allen Fällen - als zu starr erwiesen und deswegen muss es den Betriebsparteien unter Einschluss des Betriebsrates möglich werden, von tariflichen Regelung abzuweichen.

    Wie geht man eigentlich um mit Betrieben, die sich bewusst über Normen des für sie gültigen Tarifvertrages hinwegsetzen. Also diese so genannten Bündnisse für Arbeit, die unter Tarifbruch zustande kommen, also rechtswidrig sind, auch nichtig sind, aber aufgrund einer eingeschüchterten Belegschaft seitens der Belegschaft nicht angegriffen, sondern erduldet werden. Wie geht man damit um?

    Im Juli 1995 stellt das Bundesverfassungsgericht fest:

    Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Funktionsfähig ist die Tarifautonomie folglich nur, solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres Gleichgewicht - Parität - besteht.

    Das formale Recht eines Arbeitssuchenden, nach Belieben einen Arbeitsvertrag mit irgendeinem Unternehmer abzuschließen, würde in der Praxis wenig Freiheit bedeuten. Einfache Vetragsfreiheit erlaubt dem Mächtigeren, die Arbeitsbedingungen zu diktieren.
    Das Bundesverfassungsgericht hat also anerkannt: Der einzelne abhängig Beschäftigte hat ohne die kollektive Verhandlungsmacht einer Gewerkschaft im Rücken schlechte Karten. Und nach deutscher Rechtsprechung darf ja auch nur eine Gewerkschaft einen Arbeitskampf ausrufen, um ihren Tarifforderungen Nachdruck zu verleihen.

    In der Bundesrepublik werden Tarifverträge von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden autonom ausgehandelt. Ein hochdifferenziertes System von Tarifverträgen bestimmt die Grundvergütung, legt Lohngruppen fest und regelt die Arbeitsbedingungen: Von Kündigungsfristen über Urlaubsansprüche bis zur Wochenarbeitszeit. Mehr als 59.000 Tarifverträge waren Ende 2003 in Kraft, gültig für rund 70 Prozent der westdeutschen und 55 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmer.
    Typisch für die Bundesrepublik ist der Flächen- oder Verbandstarifvertrag, den eine Gewerkschaft mit einem Arbeitgeberverband abschließt.

    Seit Jahren steht die Tarifautonomie unter starkem politischen Druck. Aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik werden immer wieder Vorwürfe laut, das Tarifvertragssystem sei verkrustet, das Tarifkartell müsse aufgebrochen werden. Tarifkartell? Michael Sommer, DGB-Vorsitzender, hält solche Vorwürfe für realitätsfremd:

    Wir haben durch das Grundgesetz in Deutschland die Rechtsautonomie der Tarifvertragsparteien, die Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen untereinander durch Vertrag zu regeln. Wenn man so will, beauftragt uns das Grundgesetz, Recht zu setzen. Und das nehmen wir wahr. Im übrigen als freiwillige Veranstaltung, niemand zwingt in Deutschland jemanden, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden und kein Arbeitgeber wird gezwungen, in einen Arbeitgeberverband zu gehen. Und dieses Freiheitsrecht, abgeleitet aus dem Grundgesetz, abgeleitet daher, dass das Grundgesetz sehr bewusst die Staatsferne bei der Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen wollte – die werden wir weiter verteidigen. Deswegen ist der Begriff Tarifkartell im Prinzip ne Unverschämtheit.

    Als Kartell wird üblicherweise der Zusammenschluss von Unternehmen bezeichnet, um den Wettbewerb zu umgehen und dadurch einen höheren Preis zu erzielen. D.h. die Marktanbieter beschränken den Markt zu Lasten der Nachfrager. Aber bei Tarifverhandlungen setzen sich ja Arbeitskraftanbieter, vertreten durch Gewerkschaften, und Nachfrager, also Unternehmerverbände, zusammen. Insofern kann von einem klassischen Kartell, in dem eine Seite zu Lasten der anderen Preisabsprachen trifft, bei Tarifverhandlungen keine Rede sein.

    Der Kartellvorwurf zielt auf etwas anderes ab: Er wendet sich gegen die kollektive Verhandlungsmacht der Gewerkschaften.
    Die überbetriebliche gewerkschaftliche Interessenvertretung soll zugunsten von betrieblichen und individuellen Vereinbarungen zwischen Belegschaft und Geschäftsführung zurückgedrängt werden.
    So fordert Roland Wolf, Rechtsexperte der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), zentrale Themen bei Tarifauseinandersetzungen, wie Lohn- und Arbeitszeit, stärker individualrechtlich zu regeln:

    Insbesondere die Frage nach den klassischen Elementen des Arbeitsvertrages, die ja auch durch das Kollektivrecht aufgegriffen werden, nämlich durch Tarifverträge wie z.B. Arbeitsentgelt und Arbeitszeit. Da müssen wir zwischen den individuellen Interessen der einzelnen Arbeitnehmer und zwischen den Interessen der Koalitionen, insbesondere der Gewerkschaften an der Gültigkeit und dem Erhalt ihrer Tarifverträge, sicherlich zu einer neuen Gewichtung, zu einem neuen Ausbalancieren kommen.

    Vorstöße, das Tarifvertragssystem zu deregulieren, hat es seit Jahren immer wieder gegeben. Aus neoliberaler Sicht hemmen Tarifverträge das freie Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Tarifverträge sollten deshalb, wenn überhaupt, nur sehr allgemeine Rahmenbedingungen festlegen dürfen, mit großem Spielraum für die Unternehmen, davon abzuweichen.


    Damit wird die Tarifautonomie in Frage gestellt, so wie sie bisher durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes und durch das Tarifvertragsgesetz gewährleistet ist. Denn Tarifverträge greifen ja tatsächlich ins Marktgeschehen ein: Sie legen verbindliche Mindeststandards für individuelle Arbeitsverträge fest und schränken dadurch die Konkurrenz zwischen Arbeitnehmern um den Preis der Arbeitskraft zumindest ein. Und hier haben Tarifverträge tatsächlich eine Art Kartellfunktion entwickelt, Kartell im Sinne eines Schutzes vor den Härten des Marktes. Detlef Hensche, Arbeitsrechtler und ehemaliger IG-Medien-Vorsitzender, zur Besonderheit des Arbeitsmarktes.

    Gäbe es keinen Tarifvertrag, keine arbeitsrechtlichen Schutzgesetze, würden gleichwohl die typischen Marktgesetze beim Arbeitsmarkt nie greifen, weil das Perverse und das Wolfsgesetz des Arbeitsmarktes ist, dass in dem Maße, in dem Dumping geschieht, in dem Löhne gedrückt werden, d.h. Arbeitskraft verbilligt wird, nicht etwa mal ein breaking point erreicht ist, in dem dann auch das Angebot knapper wird, wie das ja bei Gütermärkten der Fall ist, sondern das Angebot wird immer breiter, je niedriger die Löhne sind, bis hin zur Kinderarbeit.

    Auch die Unternehmen ziehen Nutzen aus Tarifverträgen. Tarifverträge schaffen Übersicht und Kalkulierbarkeit durch einheitliche Wettbewerbsbedingungen bei den Arbeitskosten. Sie zwingen die Unternehmen dazu, ihren Wettbewerb über Fortschritte in Produktivität und Produktqualität auszutragen anstatt über Dumpinglöhne. Hans-Werner Busch, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, sieht den Hauptvorzug von Flächentarifvertragen in der Friedenspflicht:

    Ich glaube, der größte Vorteil des Flächentarifvertrages ist die so genannte friedensstiftende Wirkung. Solange ein Flächtentarifvertrag gilt, solange ist ein Arbeitskampf ausgeschlossen und das ist der ganz große Vorteil. Und das ist auch der wesentliche Grund, warum nach wie vor so viele Unternehmen bereit sind, den Flächentarifvertrag anzuwenden.

    Doch die Zeichen aus dem Unternehmerlager stehen auf Deregulierung. CDU/CSU und FDP haben Entwürfe vorgelegt, das Tarifvertragsgesetz zu ändern. Und inzwischen schreckt auch die SPD vor solch einem Schritt nicht mehr zurück. In der Rede zur Agenda 2010 im März letzten Jahres hat zum ersten Mal ein sozialdemokratischer Bundeskanzler damit gedroht, per Gesetz in die Tarifautonomie einzugreifen, wenn die Gewerkschaften keine betriebliche Öffnung zuließen. Ein Versuch, die Tarifautonomie zurückzubauen, besteht darin, das Günstigkeitsprinzip neu zu auszulegen. Bisher besagt das Günstigkeitsprinzip:

    Vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen sind nur zulässig, soweit sie für die Arbeitnehmer günstiger ausfallen. D.h. der Tarifvertrag legt den Mindeststandard fest und betriebliche oder individuelle Vereinbarungen dürfen diesen nicht unterlaufen. Gelingt es den Arbeitnehmern allerdings, mit ihrem Arbeitgeber günstigere Bedingungen auszuhandeln: mehr Lohn, mehr Urlaub oder kürzere Arbeitzeit, ist das zulässig, denn dann sind sie auf tarifvertraglichen Schutz nicht angewiesen.

    Immer wieder ist versucht worden, das Günstigkeitsprinzip auch auf kollektivrechtliche Fragen wie den Erhalt des Arbeitsplatzes auszudehnen. Was, wenn betriebsbedingte Kündigungen geplant sind, Firmenteile stillgelegt oder ins Ausland verlagert werden sollen?
    Ist es dann nicht günstiger für die Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz zu retten, indem sie – Tarifvertrag hin oder her – weniger Lohn und Mehrarbeit in Kauf nehmen? Klassischer Fall eines so genannten Bündnisses für Arbeit. Berühmt wurde der Fall Burda.

    Offenburg, Südbaden, 1996. Die Geschäftsleitung einer Druckerei des Burda-Konzerns stellt die Belegschaft vor die Wahl: Entweder vier Stunden Mehrarbeit pro Woche, davon zwei unbezahlt, und dafür den vorläufigen Erhalt ihres Arbeitsplatzes oder die Produktion wird ins Ausland verlagert und 400 Mitarbeiter werden entlassen. Der Betriebsratsvorsitzende stellt sich hinter diese tarifwidrige Betriebsvereinbarung. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, zeigt Wirkung: nur 14 von 1 200 Mitarbeitern weigern sich, die neuen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.

    Die Gewerkschaft IG-Medien klagte vor dem Arbeitsgericht gegen eine solche Auslegung des Günstigkeitsprinzips und bekam 1999 in der letzten Instanz, beim Bundesarbeitsgericht, Recht.

    Thomas Dieterich, damals Präsident des Bundesarbeitsgerichtes,
    war an der Grundsatzentscheidung beteiligt:

    Wir haben gesagt, dieses hier ist gar kein Fall des Günstigkeitsprinzips. Es geht gar nicht darum, dass einzelne Arbeitnehmer bessere Verhandlungsergebnisse erzielen können, sondern der Arbeitgeber ist es, der die Arbeitnehmer unter Druck setzt und sagt: Entweder - Oder. Das ist genau die Sache der Tarifpartner, das abzufedern. Wie das Verhältnis von Arbeitsplatzsicherheit und Lohnstandard oder Arbeitszeitregime ist, das ist der klassische Streitpunkt, den die Tarifpartner geregelt haben und in den können wir nicht eingreifen, ohne die Tarifpartner zu zensieren, ohne unsererseits zu sagen, das war aber Blödsinn, das hättet ihr besser anders gemacht, das ist nicht Sache des Richters.

    Das Bundesarbeitsgericht hat damit den Tarifvorrang für die Arbeitsplatzfrage bestätigt. Das Günstigkeitsprinzip würde somit zweckentfremdet, wenn die Fragen des Arbeitsplatzerhalts dazu gehörten. Würden Tarifverträge hier nicht mehr gelten, wären sie ihrer Schutzfunktion beraubt. Dann wäre günstig, was der Arbeitgeber diktiert. Hans-Werner Busch von Gesamtmetall sieht das anders und fordert eine Korrektur der Rechtssprechung durch den Gesetzgeber:

    Es ist eine absurde Situation. Wenn wir feststellen, dass beispielsweise der Erhalt des Arbeitsplatzes oder die Sicherung von Arbeitsplätzen kein Moment von günstig oder ungünstig für den Arbeitnehmer sein soll, im Vergleich zu fast banalen Materien, wie ob ein Tag länger arbeiten oder zwei Cent mehr oder weniger verdienen. Das passt einfach nicht mehr zusammen.

    Außerdem steht die Tarifautonomie durch eine gesetzliche Öffnungsklausel unter Druck. So sieht der christdemokratische Entwurf vor, eine Öffnungsklausel im Betriebsverfassungsgesetz zu verankern. Danach soll es grundsätzlich möglich sein, durch Vereinbarung eines so genannten betrieblichen Bündnisses für Arbeit von einem geltenden Tarifvertrag abzuweichen. Die Vereinbarung soll wirksam werden, wenn mindestens zwei Drittel der Beschäftigten zustimmen und ihr keine Tarifvertragspartei innerhalb von vier Wochen widerspricht. Nach geltendem Recht ist eine vom Tarifvertrag abweichende Abmachung nur gültig, wenn ausdrücklich durch den Tarifvertrag gestattet.

    Ähnlich wie bei der Neuauslegung des Günstigkeitsprinzips würden die Gewerkschaften durch eine gesetzliche Öffnungsklausel entmachtet und auf eine Beobachterrolle zurückgestutzt. Tarifpolitische Fragen würden auf die Betriebsräte verlagert. Die Betriebsräte hätten dann auch die nicht gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter eines Unternehmens zu vertreten, wären Verhandlungsführer ohne Streikrecht und leicht erpressbar.
    Obwohl mit dem Ziel einer solchen gesetzlichen Öffnungsklausel grundsätzlich einverstanden würde Gesamtmetall-Geschäftsführer Hans-Werner Busch dies lieber im Einvernehmen mit den Gewerkschaften, also nicht auf dem Gesetzesweg, erreichen:

    Wir sind nicht der Auffassung, dass die gesetzliche Öffnungsklausel in allen Fällen das Beste ist. Denn wenn wir über Gesetze öffnen, ist es immer bei den Betriebsparteien, Unternehmensführung und dem Betriebsrat, sich darauf zu verständigen. Wenn wir eine gesetzliche Öffnungsklausel haben, laufen wir immer das Risiko, dass, wenn die beiden sich nicht verständigen, wir dann auf einmal im gerichtlichen Gang sind.

    Und es gibt sie ja längst, die per Tarifvertrag zugestandenen Öffnungsklauseln für Härte- und Krisenfälle. Da ist es möglich, die Wochenarbeitzeit zu verlängern oder zu verkürzen, da darf in schwieriger Auftragslage die vereinbarte Lohnerhöhung ausgesetzt werden, da stehen zahlreiche Sonderregelungen bereit, um Arbeitsplätze zu sichern oder Insolvenzen zu vermeiden.
    Kaum ein Wirtschaftszweig, in dem nicht bereits eine, wenn nicht sogar mehrere Öffnungsklauseln gleichzeitig zum Tragen kommen.
    Das sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung hat ermittelt, dass im Jahr 2003 35 Prozent der privaten und 22 Prozent der öffentlichen Betriebe Öffnungsklauseln anwandten.
    Grundsätzlich sieht der DGB-Vorsitzende Michael Sommer keine Gefahr in dieser zunehmenden Verbetrieblichung der Tarifpolitik:

    Was ja bei der Diskussion verkannt wird, ist, dass es ja auch innerhalb der Gewerkschaften, und zwar völlig unabhängig von der politischen Diskussion, immer die Diskussion gegeben hat zwischen Tarif- und Betriebsautonomie; immer auch Betriebsräte gesagt haben, die Tarifvertragsregelungen sind für meinen Betrieb nicht anwendbar oder die sind zu starr. Klar war allerdings immer eine Grenze, nämlich die, dass die Tarifautonomie dafür sorgt, dass der Betriebsrat nicht erpressbar wird.

    Die Gewerkschaften sind betroffen von Massenarbeitslosigkeit und Mitgliederschwund. Und der Druck nimmt zu: Globalisierung, Billiglohnkonkurrenz, Standortverteidigung – die Arbeitsbedingungen müssen flexibler werden, die Lohnkosten müssen runter, so die Forderungen der Arbeitgeber.
    Arbeitsrecht und Tarifautonomie werden für Arbeitslosigkeit und lahmende Konjunktur verantwortlich gemacht. Und tragen die Gewerkschaften nicht selbst zu diesen Vorwürfen bei, wenn sie tarifpolitische Zugeständnisse, z.B. Lohnzurückhaltung, als ihren Beitrag zur Krisenbewältigung ins Feld führen?


    Der im Frühjahr 2004 verabschiedete Tarifvertrag zwischen Gesamtmetall und IG-Metall ist ein Siebenmeilenschritt in Richtung Verbetrieblichung der Tarifpolitik. Die Metallarbeitgeber setzten eine umfassende Öffnungsklausel durch, die es erlaubt, Tarifstandards grundsätzlich zu unterschreiten, von der Arbeitszeit bis zur Vergütung. Und begründet wird diese Öffnungsklausel nicht wie bislang mit wirtschaftlichen Härte- und Krisenfällen, sondern mit der Notwendigkeit, die Wettbewerbs-, Investitions- und Innovationsfähigkeit zu verbessern.
    Hans-Werner Busch von Gesamtmetall:

    Im Hinblick auf kommende Entwicklungen des Unternehmens, im Hinblick auf Entscheidungen, die über die Zukunft des Unternehmens - jetzt nicht im Sinne von Rettung vor dem Abgrund -, sondern Stabilisierung und eine strategische Perspektive nach vorne, dass unter diesen Bedingungen auch die Betriebsparteien sagen können, das schaffen wir eigentlich nur, wenn wir beispielsweise die Arbeitszeit verlängern und da nicht unbedingt einen vollen Lohnausgleich haben müssen. Oder wenn wir bestimmte bisher feste Zusatzleistungen wie Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld abhängig machen von bestimmten Erfolgskriterien.

    Deregulieren, Kosten senken, flexibilisieren. Nicht nur auf den Export ausgerichtete Branchen wie Metall und Chemie, sondern auch binnenmarktorientiertes Gewerbe bis zum öffentlichen Dienst melden verstärkt einen so genannte Flexi-Bedarf an. Außerdem gerät das Tarifsystem mehr und mehr durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors unter Druck. Und das nicht nur durch Millionen Billiglöhner, die mit Tarifzonen gar nicht in Berührung kommen.

    Der Niedriglohnsektor selbst wird zunehmend tariffähig und schlägt Schneisen in Hochlohngebiete. Auf dem Wege der Arbeitnehmerüberlassung zum Beispiel. So es kommt immer häufiger vor, dass ein Leiharbeiter am Montageband eines Industriebetriebs dieselben Handgriffe tut wie ein fest Angestellter, beide nach Tarif bezahlt werden, aber der Tarif des Leiharbeiters nur ein gutes Drittel seines fest angestellten Kollegen ausmacht.
    Jürgen Ulber vom Bundesvorstand der IG-Metall räumt selbstkritisch ein:

    Auch die Arbeitnehmerüberlassung, die jetzt tarifiert ist, zeigt, dass der Niedriglohnbereich, auch wenn er tarifiert ist, nichts daran ändert, dass die Arbeitnehmer faktisch in ihrer überwiegenden Zahl auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind; nicht aus einem Vollzeitarbeitsverhältnis mehr ihre Existenzgrundlage sichern können. Das sind natürlich Entwicklungen, die wir mit Sorge betrachten, und wo wir als Gewerkschaften alleine auch über tarifliche Regelungen die Situation nicht grundlegend werden verbessern können.

    Die Tarifautonomie ist Teil eines Systems aus arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftspolitischer Regulierung. Wo Tariflöhne nicht einmal mehr zum Leben reichen, könnten andere sozialpolitische Instrumente greifen, etwa ein gesetzlicher Mindestlohn. Auf welche Art und Weise reguliert wird, hängt vom politischen Willen ab und von der Durchsetzungskraft.

    Der Kampfbegriff `Deregulierung´ suggeriert einen Befreiungsschlag von unnötigem Ballast. Aber letztlich läuft Deregulierung auf eine Umverteilung hinaus: Wo die einen Rechte verlieren, springen die anderen in die Bresche und setzen ihre eigenen Regeln.
    Und in Zeiten, in denen Deregulierung zum politischen Programm erhoben wird, geraten die abhängig Beschäftigten immer mehr in die Konkurrenzmühle des Arbeitsmarktes, je weniger es den Gewerkschaften gelingt, über Tarifverträge verbindliche Regeln für menschenwürdige Arbeitsbedingungen festzulegen.