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"Ungeheure tragische Düsternis"

Nach seinem Tod 1848 wurde Steen Steensen Blicher lange Zeit nur als Regionaldichter seiner Heimat, der jütländischen Heide, wahrgenommen. Heute gilt er als virtuosester Erzähler des dänischen Biedermeiers. Die bislang umfangreichste Auswahl seiner Texte erscheint nun in neuer Übersetzung.

Von Peter Urban-Halle | 17.09.2007
    Die Geschichte der dänischen Adligen Frau Marie Grubbe kennen wir durch den gleichnamigen Roman von Jens Peter Jacobsen, 1876. Er beließ seiner Heldin den Namen, die Zeit und das Schicksal: zwei unglückliche Ehen, eine ebenso freudlose Affäre mit ihrem Schwager und schließlich das selbstbestimmte Leben mit einem einfachen Mann; Marie Grubbe ist bei Jacobsen eine durchaus emanzipierte Frau.

    Etwa fünfzig Jahre zuvor hatte ein 42jähriger Gemeindepfarrer schon einmal über den Fall geschrieben – und damit die vielleicht erste tragische Prosa der dänischen Literatur geschaffen. Steen Steensen Blicher, so sein Name, zeichnet ein recht pessimistisches Bild der Marie Grubbe, sie heißt bei ihm Sophie und seine Novelle, wörtlich übersetzt, "Bruchstücke aus dem Tagebuch eines Dorfküsters". Er behandelt darin ein altbekanntes literarisches Motiv, das ihn nie so ganz losließ: das Motiv der verbotenen Liebe; nicht umsonst steht die Meistererzählung auch in der vorliegenden Sammlung im Mittelpunkt. Die Liebestragik war für Blicher ein Ausdruck seiner Zeit, einer Zeit zwischen Bauernbefreiung und Absolutismus, zwischen Aufklärung und dänischem Nationalbewußtsein; auf dem Himmelberg, nach dem auch die Titelgeschichte benannt wurde, hielt Blicher selbst patriotische Feste ab. Die gesellschaftliche Polarisierung schlägt sich für den Herausgeber und Mitübersetzer der Erzählungen, den Innsbrucker Germanisten Walter Methlagl, auch in Blichers Stil nieder:

    "Meiner Ansicht nach ist der Stil Blichers sehr geprägt durch seine in sich äußerst widersprüchliche Persönlichkeit. Ich habe ihn deswegen mit Georg Trakl verglichen, weil Trakl einmal davon gesprochen hat, dass ein Dichter neurasthenisch dichten solle, und ich bin der Auffassung, dass Blicher neurasthenisch gedichtet hat, d. h. dass er nie aus eigener Identität heraus gedichtet hat, sondern aus eigenem Widerspruch heraus. Das äußert sich in seinem Sprachstil, in der Verwendung äußerst gegensätzlicher Motive, von Dur und Moll in einem […], und er hat es fertiggebracht, Erzählungen von ungeheurer tragischer Düsternis zu schreiben und dasselbe Motiv dann in einer komischen Manier wieder als eine Komödie zu beschreiben, und diese Gegensätzlichkeit hat mich immer sehr, sehr fasziniert."

    Tatsächlich werden Blichers tragische Novellen oft von komischen Elementen aufgelockert, manchmal haben ganze Erzählungen einen parodistischen Ton, zum Beispiel "Die drei heiligen Abende", die mit Dialektwörtern gespickt ist und im Untertitel "Eine jütländische Räubergeschichte" heißt. Ein Waldbauer freit um ein schönes Mädchen, das aber liebt den Nachbarssohn, der Freier entpuppt sich schließlich als Mitglied einer gesuchten Räuberbande, welche der Nachbarssohn aber in eine Falle locken kann, wofür er zum Lohn nicht nur das geliebte Mädchen erhält, sondern von seinem Herrn auch eine Pacht, die ihm und seiner zukünftigen Familie den Lebensunterhalt sichert.

    Dass es nicht immer so glimpflich ausgeht, zeigt die ergreifende Erzählung "Der Strumpfkrämer", auch darin liebt ein Mädchen den Nachbarsjungen, einen Burschen, dem "Ehrlichkeit, Geduld und Ausdauer" ins Gesicht geschrieben sind, aber der eingebildete Vater will lieber einen Schwiegersohn mit Geld, und die Tochter wird schwermütig, und als der Geliebte nach Jahren zurückkehrt, erkennt sie ihn nicht, ja schneidet ihm im Wahn den Hals durch. Liebe und Tod gehören bei Blicher eben nicht nur theoretisch zusammen, seine Liebesgeschichten sind eigentlich auch allesamt Kriminalfälle, das war damals Mode, Blicher war ja ein fleißiger Leser englischer und deutscher Schauerromane. Seine Novelle "Der Pfarrer von Vejlby", in der es um einen Justizmord geht, vergleicht der Herausgeber sogar mit Annette von Droste-Hülshoffs 13 Jahre später erschienenen Kriminalgeschichte "Die Judenbuche", die Droste könnte Blichers Novellen durchaus gekannt haben. In der Erzählung "Spätes Erwachen" geht es dann sogar um die Liebe einer verheirateten Frau zum Mann ihrer Freundin, eine Beziehung, die erst nach Jahren bekannt wird, worauf sich der Liebhaber erschießt. Blichers Frauen wollen ihr eigenes Leben führen, natürlich dürfen sie es nicht, sie enden in der Regel tragisch.

    "Er hat durchaus Frauen von ihren schwachen Seiten her gezeigt, also eine Frau, die den Verstand verliert, oder eine, die über Jahrzehnte ihren Mann betrügt [hat], […] so daß der Mann sich am Ende das Leben nimmt [in … Titel ‚Spätes Erwachen’,] aber […] es ist in allen Phasen seines Erzählens immer auch der Ironiker Blicher am Werk, und das ironischste Verhältnis hat er oft zu seinen Ich-Erzählern, die zwar denselben Beruf oftmals hatten wie er selbst, nämlich Pfarrer in Landgemeinden usw., die aber oft eine enorm doppelbödige Moral hatten, und es trifft [oft] dann die Verurteilung der dargestellten Figuren viel mehr denjenigen, der – als Ich-Erzähler – schlecht über eine Frau erzählt, als eben die Frau selbst […]."

    Inger und Walter Methlagls Übersetzung hat ihren besonderen Reiz, sie bleiben eng am Text, ohne daß es den Lesefluß störte, die deutsche Version versteckt nicht die Entstehungszeit der Originale, also die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, wirkt aber auch nicht historisierend, manchmal denkt man einfach, so hätte Blicher auf deutsch schreiben können. Die Methode erinnert ein wenig an die Edgar-Allan-Poe-Übersetzungen von Arno Schmidt, obwohl die Methlagls nicht einmal so weit gegangen sind, glücklicherweise, darf man vielleicht sagen. Ihre nicht ganz ungefährliche Entscheidung hat eben nicht zu einem schrecklich epigonalen Ton geführt, weil sie sich außer Blicher selbst keinen anderen zum Vorbild genommen haben. Und daß dieser Steen Steensen Blicher heute als dänischer Verwandter von Johann Peter Hebel, Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller bezeichnet werden muß, ist fast schon wieder überraschend, wenn man bedenkt, daß Pfarrer Blicher auch deshalb zum Schriftsteller wurde, damit er seine zwölfköpfige Familie ernähren konnte.


    Steen Steensen Blicher: Der Himmelberg
    Erzählungen. Aus dem Dänischen von Inger und Walter Methlagl. Mit Holzschnitten von Povl Christensen
    Libelle Verlag, Lengwil/Schweiz 2007
    400 Seiten, 19,90 Euro