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Ungereimtheiten des Schicksals

"Himmel und Hölle" spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Es handelt vom Fischfang unter heute unvorstellbaren Bedingungen. In offenen Ruderbooten fahren die Fischer weit hinaus aufs Meer - eine Geschichte von Leben und Tod von einem Autor, der eigentlich "überschaubare" Räume liebt.

Von Agnes Hüfner | 30.09.2009
    "Wir Isländer leben seit 1100 Jahren auf dieser Insel, und schätzungsweise 700 Jahre lang war das Leben auf dieser Insel so durch die Naturgewalten, dass sie eigentlich für Menschen nicht bewohnbar gewesen ist. Natur und Klima, die sind uns immer wieder sehr feindselig gesonnen gewesen. Ich will jetzt nicht unbedingt sagen, sie haben versucht, sie haben ernsthaft Anstalten gemacht, und richtig auszulöschen, aber einige Versuche dazu hat es durchaus gegeben.
    Und eben durch die ganze Geschichte der besiedelten Insel hindurch ist es immer wieder zu solchen Katastrophen gekommen, und die Natur war ausgesprochen feindselig und vielleicht auch hasserfüllt uns gegenüber."

    "Himmel und Hölle" ist der erste Roman des Autors, der in der Vergangenheit spielt. Wieder konzentriert sich der Erzähler auf überschaubare Räume, eine Fischersiedlung, ein Dorf. Wieder benutzt Stefánsson, als spräche er für viele, das plurale 'Wir'. Jetzt aber reiht der Erzähler sich unter die Toten ein:

    Wir wollen von denen erzählen, die in unseren Tagen gelebt haben, vor mehr als hundert Jahren. (…) Unsere Worte ... müssen vergangene Geschehnisse und erloschene Leben dem Schwarzen Loch des Vergessens entreißen -, was keine geringe Aufgabe ist.

    "Die Form des historischen Romans ist eine, die bei den Lesern sehr beliebt ist, aber eine die problematisch, sehr schwierig ist für Autoren, auf der einen Seite sehr populär, auf der anderen Seite, wie soll man sagen, eine provozierende, aggressive auch, weil sie eine ganz starke Tradition hat, und sie saugt Autoren, die sich daran versuchen, gewissermaßen in diese Tradition ein – so schreibt man eben historische Romane. Und das ist das Gefährliche daran."

    Wie die Menschen vor mehr als hundert Jahren gelebt haben, ist Geschichte geworden. Ihre Empfindungen aber sind uns vertraut. Die Hauptfigur des Romans ist ein namenloser, früh verwaister Junge. Unter den Fischern findet er einen Freund, einen, der den Jungen aus seiner Verlorenheit rettet, ihm eine Zukunft jenseits der Fischerhütten ausmalt, ihm Gedichte vorträgt. Bei einer Ausfahrt in eisiger Kälte erfriert der Freund. Stefánsson beschreibt die Verzweiflung des Jungen. Unsentimental und überraschend setzt er dagegen: "Die Geschichte des Menschen ist nicht sonderlich kompliziert".

    "Das Leben ist wie der Wind, der bläst, das Leben ist wie Regen, der fällt, es ist einfach nur Natur, mehr ist es eigentlich nicht. Das Komplizierte daran ist das, was wir dazu tun. Das ist unsere Lebensangst, das sind die Erwartungen, die wir ans Leben haben und unser Wunsch, das Glück im Leben zu erreichen und – wir heben darauf ab, wir zielen darauf hin, und in der ersten Kurve trägt es uns raus."

    Nach dem Tod des Freundes verlässt der Junge die Fischerhütten, kämpft sich durch Schnee und Sturm bis ins nächste Dorf, um das Gedichtbuch – es war eine Leihgabe – seinem Besitzer zurückzugeben. Einen anderen Grund weiterzuleben, weiß er nicht. Es sieht so aus, als gäbe er auf.

    "Wir sind oft viel zu oberflächlich in unseren Urteilen über andere Leute. Und in dem Fall ist es wohl auch ein bisschen zu einfach, dass der Junge schwankt, und wir glauben, das zu wissen. In der Tat kann man zunächst den Eindruck haben, dass der Junge so ein unentschlossener, zögerlicher Mensch wird, dass er ein Zweifler ist. (Er weiß nie so richtig, ob er nach links oder rechts gehen soll.) Das ist aber erst mal nur ein erster Eindruck, der aber im Grunde nicht stichhaltig ist, weil in dem Moment, wo es drauf ankommt, wo er quasi die Entscheidung über sein Leben treffen muss, da geht er ganz unbeirrt seinen Weg und auch gegen Vereinbarungen und Ansichten der Gesellschaft."

    Der Junge lässt die Fischer im Stich und geht mit dem Buch ins Dorf, um das Ansehen des toten Freundes hochzuhalten. Eine Zugereiste, ein Zimmermädchen aus Reykjavik, das reich eingeheiratet hat, entzieht sich -, unerhört ihr Benehmen - den Umarmungen der Dorfbourgeoisie. Ein Trinker wünscht seiner Frau den Tod, so hässlich ist sie aus Enttäuschung über ihn geworden. Der Autor erzählt viele Geschichten über die Ungereimtheiten des Schicksals. Lakonisch wägt er seine Worte, umschreibt in poetischen Bildern die Untiefen der menschlichen Seele und findet in jedem noch so gefährdetem Leben ein Aufbegehren gegen die Trägheit des Herzens zu finden. Angefangen hat der Romancier Stefánsson als Lyriker. Mit dem Gedichteschreiben hat er aufgehört.
    "Ich lese sehr viele Gedichte. Und ich würde fast sagen, ich kann gar nicht ohne Gedichte sein. Ich würde wahrscheinlich irgendwie daran eingehen, wenn ich keine Gedichte lesen könnte, und gleichzeitig ist es so, dass ich technisch sehr viel von Gedichten lerne und das gerne dann auch umsetze und in meine Romane übernehme. Das Meiste, das Wichtigste vielleicht, was ich aus der Lyrik übernehme, dass ich nicht unbedingt rational argumentieren muss. Das ist ja eine Angelegenheit der Prosa, die Kausalität braucht und Ähnliches mehr. Und die Poesie hat viel mehr die Freiheit davon abzusehen, sich darüber hinwegzusetzen."

    An einer Stelle im Roman "Himmel und Hölle" heißt es: "Jaeja ist mit Abstand das größte Wort im Isländischen".

    "Also dieses 'Jaeja' ist ein wirklich fantastisches Wort. Es kann einfach leere Luft sein und sonst gar nicht bedeuten. Auf der anderen Seite geht es manchmal soweit, dass allein dieses kleine Wort ausreicht, um zwischen zwei Leuten, die irgendwo zusammensitzen, ein ganz intimes Band zu knüpfen. Man kann nahezu jede Stimmungslage, jede Aufforderung, jede Frage nur durch die Betonung von diesem kleinen Silbenspiel da ausdrücken."

    Karl-Ludwig Wetzig hat alle sechs Romane des Autors ins Deutsche übersetzt.

    "Trotzdem ist immer wieder für mich der entscheidende Punkt, den man kriegen muss, diese gewisse Leichtigkeit im Ton. Also, das Allerwichtigste für ihn ist ja der Stil, und ich denke mal, davon leben diese Bücher. Und wenn man das nicht hinbekommt, gerade auch, weil er mit der Grenzziehung zum Sentimentalen spielt -,das kann so schnell über de Kante gehen und dann abrutschen, und da muss man haarfein aufpassen."

    Jón Kalman Stefánssson: Himmel und Hölle.
    Aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.
    Reclam Verlag, Stuttgart 2009. 231 Seiten, 18,90 Euro.