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Ungestörte Kunst in der Wüste

Wüsten haben schon immer Künstler angezogen und inspiriert. In Süd-Kalifornien verwirklichen bei Temperaturen von 45 Grad die Bewohner der improvisierten Künstlerkolonie "East Jesus" ihre Vision von Freiheit, Gemeinschaft und Kunst am Rande der Welt.

Von Kerstin Zilm |
    Sonnenuntergang in East Jesus, Künstlergemeinschaft in der Wüste, dreieinhalb Fahrtstunden südöstlich von Los Angeles. Vor feuerrotem Himmel greifen im aus Holz- und Wellblech gezimmerten Musikraum Künstler zu Banjo, Gitarren und Akkordeon. Einer setzt sich an den Flügel. Aus Skulpturengarten und Wohnzimmer unter freiem Himmel kommen Besucher und Bewohner der Gemeinschaft dazu. Banjospieler Flip hat tagsüber an seinem TV-Turm gearbeitet - eine Installation ausrangierter Fernseher.

    "Es sind inzwischen 47 Fernseher und alle unglaublich ineinander und miteinander verstärkt. Kunst muss hier draußen den Elementen standhalten. Wir haben Wind mit 60 Stundenkilometern und stärker! Er ist gnadenlos!"

    Den Test der Elemente bestanden haben außerdem unter anderen ein Riesenmammut aus Autoreifen, Gerüste aus Holz und Metall, Autos und ein Bus verziert mit Tierknochen und Überresten der Abfallgesellschaft wie Puppenköpfen, Farbtöpfen, Patronenhülsen und Computerzubehör.

    Autotüren und Sperrholzplatten dienen als Leinwände. Felgen und Glassplitter reflektieren das letzte Abendlicht. East Jesus ist ein Kunstwerk im Fluss. Seine Bewohner sind nicht interessiert am Galerien- und Museumsbetrieb, erklärt Flip.

    "Hier geht es drum, etwas zu schaffen: Nimm einen Hammer, einen Schraubenzieher und tu was! Nimm Mörtel und kleb dies hier an das! Wir ermutigen die Leute, ihr Talent, das, was sie gerne machen, beeinflusst von diesem Ort umzusetzen. "

    Charlie Russel hat East Jesus vor sechs Jahren gegründet: ein Künstler berühmt für überdimensionale Installationen sowie für seine Vorliebe, splitternackt Schokoladen-Martinis zu servieren. Am Rand der Wohnwagensiedlung Slab City - dem selbsternannten "letzten freien Ort in Amerika" - fand Charlie ideale Bedingungen, sich und seine Kunst ungestört zu verwirklichen.

    Es gibt zwar keinen Strom, kein Wasser und keine Kanalisation und ab Ende Mai steigt die Temperatur auf über 45 Grad. Dafür kümmert sich niemand um Miete oder Bauvorschriften. Charlie:

    "Als ich hierher kam, war das alles hier komplett mit Müll zugeschüttet. Es war eine der schlimmsten Ecken von Slab City. Fast alle Skulpturen da draußen sind aus dem Abfall gemacht, den ich hier gefunden habe."

    Nachts verwandelt sich East Jesus dank Sonnenkollektoren in eine Lichtinstallation umgeben von absoluter Finsternis, überdacht vom funkelnden Sternenhimmel. Musiker Chris Benton aus Los Angeles hat in mehreren improvisierten WGs abseits der Gesellschaft gelebt. Keine zieht ihn so magisch an wie die improvisierte Gemeinschaft am Rande von Slab City:

    "Ich möchte zu diesem Projekt beitragen. Gleichzeitig kann ich hier nachdenken, kreativ sein und dadurch den Stress des modernen Lebens besser ertragen. Es ist einmalig!"

    Besucher sind willkommen, solange sie die Lebensweise der Bewohner respektieren. "Überleg dir gut, warum du uns überhaupt belästigen möchtest!" und "Geh uns nicht auf die Nerven!" steht in der Wegbeschreibung. Wer sich davon genauso wenig abschrecken lässt wie von Hitze und Wind, kann sich - einmal in East Jesus angekommen - kaum der Inspiration entziehen, selbst Hammer, Farbe und rostige Überreste der Zivilisation in die Hand zu nehmen und eine eigene Installation in der Wüste zu schaffen.
    Kunstwerk aus Autoreifen in East Jesus.
    Das riesige Mammut aus Autoreifen in East Jesus hält Wind und Wetter stand. (Kerstin Zilm)