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Ungestörte Präzision der Aussage

Der Pole Tadeusz Rozewicz ist seit langem nicht nur für seine Vielseitigkeit, sondern auch für seinen Hang bekannt, die Grenzen zwischen den Gattungen zu verwischen. Offenbar sieht er in einer Form, die zwischen Dichtung und Prosa balanciert, das adäquateste Ausdrucksmittel für eine Welt, die längst ihre klaren Konturen verloren hat.

Von Marta Kijowska | 18.12.2006
    Als 1947 seine erste Gedichtsammlung erschien - ein schmaler Band mit dem Titel "Unruhe" -, war Tadeusz Rozewicz 26 Jahre alt. Obwohl er schon damals als literarischer Einzelgänger galt, avancierte er über Nacht zum Sprecher seiner Generation und zum Hoffnungsträger der polnischen Dichtung. Seine knappen, sprachlich asketischen Gedichte, in denen sich seine Kriegserfahrungen spiegelten, standen in einem krassen Widerspruch zu seinem Alter und seiner Lebensunerfahrenheit. Es waren die Gedichte eines Geschockten, der die ihm fremdgewordene Welt und den Rahmen der eigenen Weiterexistenz neu lernen musste.

    "Das sind schritte / das eine glocke / das ein einfaches gespräch / ich flüchte von wand zu wand / und schreie flüsternd: / ich bin."

    Die psychischen und moralischen Folgen des Krieges wurden zu seinem Lebensthema. Doch unter Folgen verstand Rozewicz von Anfang an nicht nur die Befindlichkeit seiner Generation oder das Klima der Nachkriegszeit, das natürlich auch. Und er ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es ein Klima des moralischen Verfalls, der Zerstörung jeglicher Ideale, der Nivellierung aller Grundempfindungen war. Diese Sichtweise behielt er aber auch, als er anfing, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Auch dann erschien ihm das menschliche Dasein oft als ein mühsamer, sinnloser Zweikampf mit dem Nichts. Er gab diesem Gefühl Ausdruck in seinen Gedichten und in einer Anzahl von Dramen, in denen er gegen die gesellschaftlichen Zwänge rebellierte und die Akzeptanz der bürgerlichen Moralnormen verweigerte.

    Und er tat es immer wieder in seinen Erzählungen, die mal einzeln in Zeitschriften, mal in Buchform erschienen. Die umfangreichste Sammlung dieser Texte kam auf Polnisch Mitte der 90er Jahre heraus. Nun liegen zwölf von ihnen erstmals in einer deutschen Ausgabe vor. Zwölf Prosastücke, in denen Rozewicz sich nicht nur erneut mit dem Trauma des Krieges auseinandersetzt, sondern es auch in einer - im Vergleich zu seinen lyrischen und dramatischen Werken - am meisten realistischen Weise tut. Schon mancher Titel signalisiert, dass er hier eine Zeit heraufbeschwört, die für die Betroffenen beides - eine Zäsur und eine extreme Belastung - darstellte. "Die unterbrochene Prüfung", "Das Gift", "Die Beichte", "Versuch einer Rekonstruktion": Unter diesen Überschriften ruft er die prägenden Kriegserlebnisse auf, sinniert über deren moralische Auswirkungen, beklagt den Verlust klarer Lebensperspektiven. Aber er hält auch die damals langsam aufkeimende Hoffnung auf einen Neuanfang fest - so in der Erzählung "Neue philosophische Schule", die von dem ersten Eintauchen in die Normalität handelt.

    "Alles ist stehen geblieben. Wie gut! Die Toten sind begraben. Die Lebenden sterben nicht mehr. Sterben womöglich nie. Dort unten, in der Mensa kann man sich noch mit der Köchin unterhalten. Aber ich gehe nicht hinunter. Ich bleibe in meinem Loch. Liege auf dem Bett und lese in der alten Zeitung. Schließe die Augen und überlege, ob ich noch irgendwelche Wünsche habe. Ich habe keine. Nichts will ich. Ich fühle mich so wohl, dass ich nicht einmal meine eigene Existenz spüre."

    Rozewicz ist seit langem nicht nur für seine Vielseitigkeit, sondern auch für seinen Hang bekannt, die Grenzen zwischen den Gattungen zu verwischen. Offenbar sieht er in einer Form, die zwischen Dichtung und Prosa balanciert, das adäquateste Ausdrucksmittel für eine Welt, die längst ihre klaren Konturen verloren hat. Schon die ersten Zeilen der Auftakterzählung "Gesichter" muten wie ein Gedicht an: Die knappen Sätze, die karge Sprache, der klare Rhythmus - es gibt hier nichts, was die Präzision der Aussage stören würde.

    "Ein Gelände, ein Gefilde, eine Landschaft, ein Bild, das war und das ist für mich das menschliche Gesicht. Die Landschaft eines Gesichts. Die Gesichter der Eltern. Die Gesichter der Geschwister. Die Gesichter Fremder. Gesichter, die ich vom Sehen kenne. Die Gesichter lebendiger Menschen. Schöne und hässliche, alte und junge, interessante und fade. Jedes von jemandem geliebt, gehasst, erwartet. Ja, das ist das große Thema, das seit ein paar Jahren auf mich wartet. Gesichter. Ein Poem über menschliche Gesichter."

    Dass diese Erzählungen oft einen autobiografischen Charakter haben, erkennt nur, wer mit dem Leben des betagten Dichters ein wenig vertraut ist. Allerdings wird er sein Wissen aus anderen Quellen bezogen haben - aus diesem Band erfährt man es nicht. Man kann in keinem Vorwort nachlesen, inwieweit Rozewicz den Krieg am eigenen Leib erfahren hat, etwa dass er zwei Jahre lang als Partisan kämpfte oder dass er nach dem Krieg den Verlust seines von der Gestapo ermordeten Bruders zu beklagen hatte.

    Bei einem Band, in dem das Kriegserlebnis eine so dominierende Rolle spielt, wäre ein solcher Begleittext durchaus angebracht gewesen. Und wenn man weiß, dass Rozewicz bereits seit den 50er Jahren Erzählungen schreibt, vermisst man auch den Hinweis auf die Entstehungsdaten der ausgewählten Texte. Dies als Kritik an die Herausgeberin und Übersetzerin Roswitha Matwin-Buchmann, die übrigens in der zweiten Eigenschaft sehr überzeugend ist, und an den Verlag. Dessen Behauptung, die Erzählungen hätten bis heute nichts von ihrer "Kraft, Schönheit und moralischen Sicherheit" verloren, stimmt man zwar gern zu. Trotzdem hätte man gern erfahren, welcher Zeitspanne sie dabei standhalten mussten.