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Ungewöhnlich hohe Spiegel

Endokrinologie. - Gestern hat in Berlin der World Health Summit begonnen, das weltweit erste Gipfeltreffen der Medizin. Ein Thema: die Folgen des Wohlstands für die Gesundheit. Dabei kamen nicht nur Diabetes oder Fettleibigkeit zur Sprache, sondern auch der Hormonspiegel der Frau.

Von Marieke Degen | 16.10.2009
    Wenn Gillian Bentley reproduktionsmedizinische Fachliteratur durchblättert, könnte sie jedes Mal die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

    "Die Progesteron- und Östrogenwerte, die in diesen Büchern als normal gelten, orientieren sich an den hohen Hormonspiegeln von Frauen in modernen, westlichen Gesellschaften. Aber solche hohen Hormonspiegel sind in unserer Evolutionsgeschichte wahrscheinlich extrem ungewöhnlich."


    Gillian Bentley ist Professorin für medizinische Anthropologie an der Durham University in England. Sie erforscht den weiblichen Hormonspiegel, allen voran die Sexualhormone Progesteron und Östrogen, und wie sich ihre Konzentration verändert. Bei westlichen Frauen ist der Hormonspiegel im Laufe der Zeit stark angestiegen. Und das könnte ein Grund dafür sein, warum Krankheiten wie Gebärmutterhalskrebs, Eierstockkrebs und Brustkrebs zunehmen. Migrantinnen aus weniger entwickelten Ländern haben dagegen haben ein deutlich geringeres Risiko, an solchen Krebsarten zu erkranken – das belegen die Statistiken. Gillian Bentley ist den Ursachen nachgegangen.

    "Wenn die Frauen in Bangladesh aufgewachsen und erst als Erwachsene nach Großbritannien gezogen sind, hatten sie sehr niedrige Progesteronspiegel, verglichen mit Frauen, die in London aufgewachsen sind. Aber wenn sie schon vor ihrem achten Geburtstag nach London kamen, waren auch ihre Progesteronspiegel als Erwachsene sehr viel höher."

    Es wird also offenbar in der Kindheit entschieden, wie der weibliche Hormonspiegel im Erwachsenenalter ausfällt. Aus Sicht der Evolutionsbiologie leuchte das durchaus ein, sagt Bentley.

    "Wenn du verhältnismäßig wenig zu essen hast, gleichzeitig aber einen hohen Energieverbrauch, dann investiert der Körper seine Ressourcen nicht in die Reproduktionsfähigkeit, sondern in den Erhalt, und bei Kindern in Wachstum. Damit lassen sich auch unsere Studienergebnisse erklären."

    In Bangladesh müssen die Frauen oft körperlich hart arbeiten, das Essen ist nicht so reichhaltig. Außerdem leiden sie häufiger an Infektionskrankheiten und Parasiten. Unter diesen Bedingungen macht es keinen Sinn, zu früh zu viele Kinder zu bekommen. Der Körper passt sich an. In modernen westlichen Gesellschaften gibt es Nahrung im Überfluss, aber kaum Bewegung. Frauen in Europa oder in den USA bekommen außerdem nur wenige Kinder. Das alles hält den Hormonspiegel oben. Das stressfreie, wohlgenährte Leben führt auch dazu, dass die Menstruation immer früher einsetzt, etwa mit zwölf Jahren. Westliche Frauen sind in ihrem Leben also immer länger einem gefährlich hohen Hormonspiegel ausgesetzt. Eine Entwicklung, die aber nicht unumkehrbar sei. Noch einmal Gillian Bentley.

    "Es gibt schon Vorschläge, den Beginn der Menstruation künstlich nach hinten zu verschieben. Wie man das macht, ist eine andere Frage; man könnte eine Pille entwickeln, die den Progesteron- und Östrogenspiegel niedrig hält. Einfacher wäre: mehr Sport an den Schulen. Mädchen, die viel Sport treiben, bekomme auch erst später ihre Menstruation. Und schlanker werden sie auch. Man könnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen."

    Evolutionsbiologen beklagen, dass die Zusammenhänge zwischen Evolution und Krankheiten noch nicht in der Medizin, geschweige denn in den medizinischen Lehrbüchern angekommen seien. Bentley:

    "Would be very useful for tomorrow's doctors."

    Dabei, sagt Gillian Bentley, wäre das sehr nützlich für die Ärzte von morgen.