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Ungewöhnliche neue Kammermusikproduktion

Seien Sie herzlich willkommen zu zwanzig Minuten über eine neue Kammermusikproduktion, wie sie nun wirklich nicht alle Tage vorkommt. Und eigentlich sind zwanzig Minuten auch viel zu kurz, um nur einen ungefähren Eindruck von einem Projekt zu vermitteln, das immerhin der Aufnahme sämtlicher Streichquartette von Ludwig van Beethoven galt. Das Leipziger Gewandhaus-Quartett hat dieses Unternehmen gewagt, und entstanden sind die Einspielungen teils in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, vor allem dann aber zwischen 2001 und 2003, und zwar an mehreren Orten. Produziert wurde das Ganze von NCA, von New Classical Adventure, und ein Abenteuer stellt derlei allemal dar. Das Label hat auch auf die Präsentation erhebliche Mühe und Geschmack verwendet. Die repräsentative Kassette mit insgesamt 10 CDs hat Buchhöhe, passt also nicht ins CD-Regal, dafür aber gut in den Bücherschrank und findet ihren Platz am besten neben einem ausgewachsenen Beethoven-Bildband. Das Booklet bietet nicht nur prägnante Werkeinführungen, sondern geht auch ausführlich auf die Geschichte des Gewandhaus-Quartetts ein.

Redaktion: Norbert Ely |
    Und damit sind wir bei einer Besonderheit dieser Einspielung. Das Gewandhaus-Quartett, die wohl prominenteste Kammermusikvereinigung des Gewandhaus-Orchesters, besteht seit dem Jahr 1808. Als Beethoven starb, gab es das Quartett mithin schon fast zwei Jahrzehnte. Zu den Musikern, die ihm im Lauf der Zeit angehörten, zählten der Konzertmeister Ferdinand David, der Freund Schumanns also, ebenso wie der Geiger Adolf Brodsky und der Cellist Julius Klengel. Die aktuelle Besetzung besteht aus Frank-Michael Erben, Erster Konzertmeister des Gewandhaus-Orchesters, aus Conrad Suske, Mitglied der 1.Violinen des Orchesters, dem Solobratschisten Volker Metz und dem Solocellisten Jürnjakob Timm. Zu den Vorzügen des Quartetts wie des Orchesters zählt natürlich, daß man die lange Tradition bewusst fortführt, die spezifische Leipziger Streicherkultur von Generation zu Generation weitergibt. Das schränkt zugleich das Spektrum der interpretatorischen Perspektiven ein. Revolutionär neue Deutungen sind von diesem Ensemble nicht zu erwarten. Gerade dafür kann man dankbar sein. Überlieferung hat in der Musik, der Kunst des flüchtigen Augenblicks, ihre hohe Berechtigung, so lange sie sinnvoll ist, fest gegründet und mit Intensität erarbeitet.

    An der Beethoven-Einspielung des Gewandhaus-Quartetts fallen denn auch sofort die instrumentale Souveränität und die stilistische Sicherheit auf. In Leipzig spielt man ganz selbstverständlich so, als habe man noch unter Bach morgens früh Choräle und Fugen gesungen, anschließend mit Beethoven und Mendelssohn gefrühstückt und abends mit Schumann und Brahms diniert. Nehmen wir zum Beispiel das Harfenquartett op. 74. Es bietet in der Interpretation des Gewandhaus-Quartetts keine Überraschungen. Es erfüllt einfach die schönsten Erwartungen.

    • Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - 1. Satz (Ausschnitt) aus dem Streichquartett Es-dur, op. 74

    Das ist von Innen heraus sehr erfüllt. Bei allem verbindlichen Tonfall, der einfach zur Leipziger Streicherkultur gehört, ist das Gewandhaus-Quartett der Wahrheit des Textes sehr wohl auf der Spur, und die vier verstehen es auf fesselnde Weise, die emotionalen Spannungen gerade der mittleren Streichquartette Beethovens aufzubauen. Durchgängig spürbar ist ein außer-ordentlich wichtiges Moment Leipziger Tradition: die Selbstverständlichkeit polyphonen Denkens. Daß sich innerhalb der scheinbar bruchlosen Tradition sehr wohl Wandlungsprozesse vollzogen haben, belegt übrigens die hochinteressante zehnte CD. Da unterhält sich Martin Hoffmeister mit ehemaligen Mitgliedern des Ensembles, so etwa auch mit dem einstigen Primarius Gerhard Bosse. Und dazu gibt es Exzerpte aus historischen Aufnahmen, darunter ein Beispiel aus dem Jahr 1916. Aufschlussreich ist hier indes auch der direkte Vergleich, wie er sich durch einen Ausschnitt aus dem Quartett op. 74 ergibt. Diese Aufnahme entstand 1968. Damals war Gerhard Bosse Primarius. In Spieltechnik, Klangbalance und Tonschönheit scheint die heutige Formation der damaligen deutlich überlegen. An Ausdruckswillen aber übertreffen die Älteren die Jüngeren.

    • Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - 1. Satz (Ausschnitt) aus dem Streichquartett Es-dur, op. 74

    Dies also eine alte Aufnahme des Gewandhaus-Quartetts aus dem Jahr 1968. Gerade der enzyklopädische Aspekt der aktuellen Kassette macht übrigens deren besonderen Wert aus. Dazu gehört auch, daß sich auf der zehnten CD als Zugabe Beethovens eigene Bearbeitung der Klaviersonate E-dur op. 14 Nr. 1 für Streichquartett findet, um die die Quartettformationen meist einen Bogen machen, und dies nicht zu Unrecht. Das Werk ist eben doch eminent pianistisch; es fordert das perkussive Moment des Pianoforte, wobei es die Leipziger eigentlich ehrte, daß sie die nach F-dur transponierte Sonate dann eben doch ganz aus dem Gestus der Streicher heraus spielen und gar nicht erst versuchen, dem Klavier in irgendeiner Weise nahezukommen.

    Es ist überhaupt diese grundehrliche Art des Musizierens, auch die ehrliche Art, Empfindungen zu folgen, dabei aber auf keinen Fall zu übertreiben, die im Verein mit der außerordentlichen Spielkultur diese Gesamtaufnahme so sympathisch macht. Da stürzt der Himmel nicht ein, und er wird auch nicht gestürmt. Und die Große Fuge wird so gespielt, als habe man Fugen noch unter Bach gesungen. Aber das hatten wir ja schon.

    • Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - Große Fuge B-dur, op. 133 (Ausschnitt)

    Das Gewandhaus-Quartett mit dem Ende der Großen Fuge B-dur, op. 133, die sich in der Gesamtaufnahme im Anschluss an das Streichquartett B-dur, op. 130 findet, das die Leipziger selbstverständlich mit dem nachkomponierten Final-Allegro aufgenommen haben. Es ist ein gerundeter Kosmos der beethovenschen Quartette entstanden, den man nicht nur gern in den Bücherschrank stellt, sondern ebenso gern auch herausnimmt, um den außerordentlich klaren und ausgewogenen Interpretationen zu folgen, ohne damit rechnen zu müssen, schon wieder bis in die Tiefen des Gemüts beunruhigt zu werden.

    Und das war’s auch schon in der heutigen Ausgabe der Neuen Platte im Deutschlandfunk. Die Beethoven-Gesamtausgabe des Gewandhaus-Quartetts ist, wie gesagt, bei NCA erschienen und im übrigen rechtzeitig vor dem Fest. Wenn man sie verschenkt, tut man es den Musikern dieses vorzüglichen Ensembles gleich: Man macht eigentlich nichts falsch. Fürs Zuhören bedankt sich: Ihr Norbert Ely.