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Ungleiche Chancen für Unfallopfer

Wer in Mecklenburg-Vorpommern bei einem Verkehrsunfall verunglückt, stirbt fünf mal eher an den Folgen, als beispielsweise ein Berliner Unfallopfer. Schuld daran sind nicht nur längere Transportwege. Auch die Qualität der Unfallversorgung ist nicht überall gleich gut. Zu dieser Einschätzung kommt die Deutsche Gesellschaft für Unfallmedizin. Sie hat vergangene Woche in Berlin ihr "Weißbuch für die Schwerverletztenversorgung" vorgestellt.

Von William Vorsatz |
    Das Unfallkrankenhaus in Berlin-Marzahn. Die Rotorblätter des Helikopters stehen kaum. Schon kommt der Schwerverletzte in den Schockraum. Ein kleiner Saal mit vier Liegen, darum viel Technik. Sofort beginnen die neun Spezialisten mit dem Kampf gegen den Schock. Denn die erste halbe Stunde nach dem Unfall ist entscheidend. Nicht jeder Patient kommt jedoch sofort mit dem Hubschrauber in ein nahes Krankenhaus, das auf Schwerverletzte spezialisiert ist, weiß der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, Professor Andreas Wentzensen:

    "Wir haben eine flächendeckende Versorgung in Deutschland auf dem Papier, wir stellen aber fest, dass es deutliche Varianzen gibt, und eine gewisse Inhomogenität, und das müssen wir einfach aus den Zahlen entnehmen, die uns zur Verfügung stehen, aus der Statistik: wir sehen gewisse Zusammenhänge zwischen großen Versorgungsflächen, wenn ein Krankenhaus eine sehr große Versorgungsfläche hat, und der Letalität. Das heißt möglicherweise spielt dort allein die Erreichbarkeit schon dieses Krankenhauses eine Rolle, beispielsweise nachts, wenn dieser Hubschrauber nicht fliegen kann."

    So endet ein Verkehrsunfall in Mecklenburg-Vorpommern fünfmal häufiger tödlich als beispielsweise in Berlin. Aber daran sind nicht nur die langen Wege schuld. Immer wieder kommt es vor, dass ein Rettungshubschrauber mit dem Schwerverletzten an Bord nicht landen kann, weil kein Krankenhaus Kapazitäten frei hat. Auf der Straße das Gleiche wie in der Luft. Professor Siebert von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie:

    " Ich hab versucht, im Rahmen meiner Tätigkeit als Generalsekretär unserer Gesellschaft über offizielle Stellen zu erfahren, wie häufig Rettungskräfte vergeblich Krankenhäuser anfahren. Null, keine Antwort, wir erfahren es eben leider Gottes nur über Kollegen und eigene Erfahrungen, dass es, ich schätze mal bei einem Prozent liegt, wo vergeblich das korrekte Krankenhaus angefahren wird, die aber abwinken, wegen Kapazitätsproblemen."

    Da fehlen Spezialisten und Technik. Aber auch, wenn der Schwerverletzte unterkommt, wird er nicht immer optimal versorgt. So besteht oft keine Möglichkeit, im Schockraum zu röntgen oder mit Ultraschall zu untersuchen. Irgendwo im Krankenhaus sind dann zwar die entsprechenden Geräte, aber vielleicht gerade in Benutzung. Wertvolle Zeit vergeht auch verloren, weil die Spezialisten ihre Behandlungen zu wenig koordinieren. In ihrem Weißbuch gehen die Experten auf die existierenden Mängel bei der Versorgung Schwerverletzter ein und leiten daraus Empfehlungen ab. So muss die Zeitspanne vom Unfall bis zum Eintreffen in die Klinik deutlich verkürzt werden. Gegenwärtig beträgt sie im Schnitt 72 Minuten. Die Empfehlung: Jeder Schwerverletzte sollte künftig innerhalb von 30 Minuten ins geeignete Krankenhaus transportiert werden. Bei jedem Wetter und auch in dünn besiedelten Gegenden. Unter einem "geeigneten" Krankenhaus verstehen die Experten Traumazentren. Das sind Kliniken, die auf Schwerverletzte spezialisiert sind. Professor Bertil Boullon vom Klinikum Köln-Mehrheim:

    " Es ist bereits heute so, dass wir Traumazentren haben in Deutschland. Das sind allerdings selbst ernannte Traumazentren. Es ist ja ein Begriff, der international schon existiert und auch heute ist es so, dass große Kliniken, in der Regel Maximalversorgungskliniken oder Schwerpunktkrankenhäuser, sich sehr intensiv um die Schwerverletztenversorgung kümmern. Und sich deshalb Traumazentren nennen. Das Weißbuch soll jetzt Kriterien aufstellen, wann kann man sich denn Traumazentrum nennen, wann ist man ein regionales und wann ein überregionales, und nach diesen neuen Kriterien werden wir auch diese ersten regionalen oder überregionalen Traumazentren entsprechend so firmieren. "

    Heute sind es rund 700 Kliniken, die Schwerverletzte versorgen. Nach den neuen Kriterien sollen 200 zertifizierte Krankenhäuser übrig bleiben. Diese werden dann regelmäßig auf ihre Qualität hin überprüft. Große Fallzahlen sichern die nötige Praxis. Regelmäßige Forschung gewährleistet, dass die Patienten nach dem neuesten Wissenstand behandelt werden. Für die Spezialisten am Unfallkrankenhaus Berlin wird sich dadurch allerdings nicht so viel ändern:

    " Das Unfallkrankenhaus Marzahn ist sicher eines der Traumazentren, das ist gar keine Frage, auch heute schon, aber es gibt eben noch nicht viele solcher Kliniken, die tatsächlich auch schon in ihrem Namen den Begriff Unfallkrankenhaus führen. "