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Ungleichheiten in der Geschichte

Zum 47. Mal treffen sich zur Zeit Fachwissenschaftler, Geschichtslehrer, Studierende und einfach nur an Geschichte interessierte Menschen zum "Deutschen Historikertag", der alle zwei Jahre stattfindet und in diesem Jahr von der TU Dresden organisiert wird. Und auch in diesem Jahr steht das Treffen wieder unter einem Leitthema: die Wissenschaftler untersuchen die Historie im Hinblick auf strukturelle "Ungleichheiten". Wie wurde Ungleichheit in den verschiedensten Gesellschaften konstruiert und begründet, akzeptiert und bekämpft?

Von Eva-Maria Götz |
    "Ich denke, dass durch die großen Krisen der Wirtschaft und das Einbrechen von vielen Versprechungen, die man sich davon machte, dass der Markt alles heile, in der Tat auch das Verhältnis der Gruppen zueinander und vielleicht in den Klassenstrukturen wieder sichtbarer wird, deutlicher wird."
    Meint Prof. Karl-Siegbert Rehberg von der TU Dresden, der sich in seinem Vortrag mit der Sozialstruktur der DRR und der frühen Bundesrepublik beschäftigte. In beiden Staaten war die Gleichheit der Bevölkerung ein Gründungsmythos. Ein typisch deutsches Phänomen, meint Rehberg, das im 19. Jahrhundert von den Sozialphilosophen in Reaktion auf den entstehenden Kapitalismus entwickelt und im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Gesellschaftsformen - im Nationalsozialismus, im real existierenden DDR-Sozialismus, aber in Ansätzen auch in der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik durchdekliniert wurde. Und an dessen Idee festgehalten wird, auch wenn die Geschichte sich anders zu entwickeln scheint.

    "Es ist ein Lebensgefühl gewesen in der Gesellschaft des Aufbruchs, des Wirtschaftswunders, der Verbesserung der Lebenschancen, der Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie in einer gewissen Phase der 60er, 70er, 80er Jahre, die diese Illusion nahe gelegt hat."

    Die Wahrnehmung von Ungleichheit und ihre Überwindung war in allen Zeiten und Gesellschaften ein Thema, wenn auch von unterschiedlicher Bedeutung, wie der Althistoriker Martin Jehne in seinen Überlegungen zur römischen Republik erläuterte:

    "Der Begriff der Gleichheit ist nicht übermäßig wichtig, es ist etwas, was man in der Rhetorik, in der Volksversammlung schon äußern sollte in bestimmten Zusammenhängen, um ihn dann gleich wieder aufzufangen, in dem man sagt, das Volk hat das Letztentscheidungsrecht in unserem Gemeinwesen, und wir dienen natürlich dem Volk und sind Leute wie alle anderen auch, aber wir haben die Erfahrung, wir haben die Kenntnisse, wir haben die Bildung, das Volk ist gut beraten, wenn's uns folgt."
    Die Bürger Roms mussten akzeptieren, dass zwar prinzipielle Gleichheit vor dem Gesetz existierte, dass es unter ihnen aber einige gab, die "gleicher" waren und denen eben kein Prozess drohte, auch wenn sie wie der Hannibal-Bezwinger Scipio Africanus mal zu tief in die Staatskassen gegriffen hatten. Das empörte in der Bevölkerung kaum jemanden, denn in Rom galt die "gradus dignitas", eine Hierarchie derjenigen, die sich um den Staat verdient gemacht hatten und sich dafür etliche Privilegien genehmigten. Die gab es in der mittelalterlichen Ständegesellschaft auch noch und in besonders ritualisierter Form, wie Gerd Schwerhoff von der TU Dresden erläuterte:

    "Ungleichheit wurde auf ganz vielfältige Weise inszeniert, durch die Kleidung, durch das verwenden kostbarer Stoffe, durch die Präsenz, durch Rituale, durch die Präzedenz, den Vortritt, den die Mächtigen und Reichen vor den weniger Mächtigen und Reichen hatten, es war anders als heute, wo die Gleichheitsansprüche erstmal das Normale sind und Ungleichheiten unter Legitimationsdruck etwas umgekehrt in der vormodernen Gesellschaft, Ungleichheit war normal und wurde gezeigt."
    Allerdings galt zumindest nördlich der Alpen in Bürgerstädten wie Köln und Nürnberg auch für die mächtigen Patrizier eine strenge Ständeordnung, deren Nichtbeachtung Strafen nach sich zog. Und: Wollte man seine Privilegien und die damit verbundene Machtstellung behalten, bedeutete das ein verantwortungsvolles Umgehen damit und die strickte Beachtung von Gleichheit, in diesem Fall also: Gerechtigkeit vor Gericht:

    "Selbst die mächtigen Magnaten in einer Stadt wie Nürnberg, die ja ganz verächtlich auf den gemeinen Pöbel heruntersahen, achteten sehr penibel darauf, dass sie in ihrer Gerechtigkeit geachtet wurden, sie mussten dieses "Jedem gerecht zu werden" noch mehr beachten als ein demokratisch legitimierter Stadtrat, um eben nicht in den Verdacht zu kommen parteilich nur Klientelbildung zu betreiben, und als Patron sich die Stadt zur Privatangelegenheit zu machen."
    "Der Historiker ist ein Dolmetscher, der die Ereignisse und Strukturen der Vergangenheit sprechen lässt, zuhört und für seine Zeitgenossen übersetzt, was er verstanden hat.", meinte Bundespräsident Horst Köhler in seiner Eröffnungsansprache zum Historikertag und appellierte an die Zunft, die Geschichte nach den Folgen von als ungleich empfundenen Lebensbedingungen zu untersuchen, auf das heutige und künftige Gesellschaften daraus ihre Lehre ziehen können. Das Lernen aus und von der Geschichte setzt aber ein Wissen um ihre Abläufe und eine Souveränität im Umgang mit Quellenmaterial voraus und darum ging es zum Beispiel in der Diskussion um Kompetenzorientierung im Unterricht. Prof. Roland Wolf von der Universität Tübingen:

    "Selbst rekonstruieren, darum geht es. Der Lehrer ist ein Helfer und Arrangeur dabei, aber nicht der Verkünder einer Wahrheit. Das ist sicher ein großer Unterschied und damit muss man Ernst machen. Diese Ideen gab es ja schon immer. Aber wenn wir jetzt ganz gezielt vermitteln nicht nur was geschichtliche Inhalte sind, Stoffe, sondern das historische Denken, wie funktioniert so was, wie rekonstruier ich mir etwas was vergangen war, dann sind wir sehr viel näher daran, dass Schüler selbstständig darüber verfügen."
    Der alle zwei Jahre stattfindende Historikertag ist nicht nur das größte Treffen von Geschichtswissenschaftlern, sondern auch von Pädagogen, die sich hier über neue Methoden und Ziele im Geschichtsunterricht austauschen können. Einen mit Spannung erwarteten Einblick in die praktische Arbeit eines Historikers gab die Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der "Kommission zur Ermittlung der Opferzahlen der Luftangriffe auf die Stadt Dresden im Februar 1945". Deren Vorsitzender Prof. Rolf-Dieter Müller sagte:

    "Ich habe viel aus der Arbeit in Dresden gelernt, weil wir uns ja auf eine Art und Weise dieser Katastrophe nähern mussten, also unter welchen Bedingungen wird ein Mensch restlos "veraschen", was passiert, wenn die Leichen, die weitgehend zusammengeschmort sind auf einen LKW geworfen werden, und dann auf dem Friedhof so ankommen. Also man kommt dieser Katastrophe auf eine unheimliche Weise nahe, dass man eine nüchterne distanzierte Arbeitsweise braucht um damit umgehen zu können."
    Die Arbeit der Kommission ist in Dresden ein Politikum, da in den vergangenen Jahrzehnten stark überhöhte Opferzahlen kursierten, wohl um die Einzigartigkeit des Angriffs zu betonen und daraus gegebenenfalls politisches Kapital zu ziehen. Nun steht fest:

    "Wir haben festgestellt, dass das in den 40er Jahren eine Schätzung der Stadtverwaltung gewesen ist, die vielleicht auch unter einem gewissen politischen Druck stattgefunden hat. Und das diese Zahl von 35.000 nicht zu halten ist, sondern der sachliche Kern bei 25.000 liegt, also zirca ein Drittel weniger als man bisher angenommen hat."
    Spekulationen, die Opferzahlen könnten sogar im sechsstelligen Bereich liegen, wurde durch die Arbeit der Kommission der Boden entzogen. Als wichtigstes Ergebnis seiner Forschungsarbeit sieht Rolf-Dieter Müller die Tatsache, dass nun bereits 18.000 Opfer namentlich identifiziert und ihre Lebensgeschichten dokumentiert wurden. Nun kann in Dresden um Menschen und nicht mehr um Zahlen getrauert werden. Denn auch das kann Geschichtswissenschaft: die menschlichen Dimensionen einer Tragödie begreiflich und nachvollziehbar machen.