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Unglück als Affront

Mindestens achtmal muss sie die Straße entlanggegangen sein. Vielleicht hat der Änderungsschneider sie dabei gesehen, die Apotheker oder die Friseure auf der gegenüberliegenden Seite des Geschäfts. Sie können Matilda gesehen und sich natürlich nichts dabei gedacht haben. Weil man achtmal hintereinander dieselbe Straße entlanggehen kann, ohne dass jemand sich etwas dabei denkt. Vielleicht wartet die, die wiederholt eine Straße entlanggeht, auf jemanden oder etwas, vielleicht will sie irgendwo nicht zu früh ankommen oder kann sich nicht entscheiden, ob sie die Daunenjacke kürzen oder die Haare stufen lassen soll. Man kann aus allen möglichen herkömmlichen Gründen die Straße wiederholt entlanglaufen, nur Matilda wusste, dass ein Notfall eingetreten war, der ihr mit Verrücktsein kam und der Unmöglichkeit, über die Straße zu gehen.

Von Gisa Funck | 28.05.2004
    Was macht man mit einer Freundin, die eines Tages aus heiterem Himmel behauptet, dass sie nicht mehr allein über die Straße kommt? Die Ich-Erzählerin aus Mariana Lekys Romandebüt Erste Hilfe ist ziemlich ratlos. Denn Matilda, ihre beste Freundin, hat weder einen Unfall gehabt noch ist sie körperlich gehbehindert. Matilda fürchtet sich auch nicht vor dem Autoverkehr. Sie kann einfach nur deshalb plötzlich nicht mehr allein über die Straße gehen, weil sie auf einmal Angst davor hat, zwischen zwei Fahrbahnen verrückt zu werden. Ein typischer Fall von Angststörung. Matilda traut sich auf einmal nirgendwo mehr ohne Begleitung hin. Also bittet sie die Ich-Erzählerin und deren Mitbewohner Sylvester, eine zeitlang bei ihnen in die Wohnung ziehen zu dürfen. Sylvester, ein Langzeitstudent mit wechselnden Affären, und die Ich-Erzählerin - eine ehemalige Freundin von ihm - sind darüber zwar nicht begeistert. Aber sie gewähren Matilda die Titel spendende "Erste Hilfe". Schließlich ist es für beide Ehrensache, einer Freundin in Not beizustehen, wie Mariana Leky erklärt:

    Ich wollte eigentlich ein Buch über Freundschaft schreiben. Und dann brauchte ich für diese Freundschaft was, was diese Freundschaft gut stören kann. Also "gut" in Anführungszeichen. Nicht so etwas wie ein Liebeskummer, mit dem man gut umgehen kann, sondern wirklich was, wo alle erst mal dastehen wie der Ochs vorm Berg und nicht weiterwissen. Wenn jemand sagt: "Also, ich glaube, ich bin um 5 Uhr nachmittags verrückt geworden", dann muss man sich erst mal eine kluge Antwort überlegen. Und dann kann man schlecht dann sagen: "Ach was! Stimmt doch gar nicht!" Also, ich wollte etwas, was diese Freundschaft - ja irgendwie - so etwas auf die Probe stellt.

    Junge Menschen, die scheinbar grundlos aus dem Tritt geraten, spielten auch schon in Lekys Erzählband Liebesperlen vor zweieinhalb Jahren eine Rolle. In einer Kurzgeschichte etwa konnte eine Dreizehnjährige - trotz Strafandrohung - partout keinen Stufenbarren überspringen: da mochte der Sportlehrer ihr noch so viele "Hilfestellungen" - so die Überschrift der Geschichte - anbieten. In einer anderen Erzählung mit dem bezeichnenden Titel "Lebensversicherung" beschloss eine Studentin sich nach achteinhalb Jahren von ihrem Freund zu trennen. Danach aber litt sie selbst so stark unter der Trennung, dass die Studentin - genauso wie Matilda nun in "Erste Hilfe" - mit einem Bekannten zusammenzog. Panikattacken ohne klares Motiv: sie werden in Gestalt Matildas auch für die Ich-Erzählerin und Sylvester in Lekys Romandebüt schon bald zur übermächtigen Herausforderung.

    Zu Anfang nehmen die beiden Helfer Matildas Tick noch auf die leichte Schulter. Die Angstschübe der Freundin vergleichen sie mit einem Schnupfen, der bald "wieder abklingt", wie die Erzählerin leichtfertig meint. Ihre Ratschläge fallen entsprechend pragmatisch aus. Einmal geben die beiden Helfer Matilda etwa eine Liste mit angeblich beruhigenden Worten in die Hand: sobald wieder Panik aufsteigt, soll Matilda Worte wie "Jojoba", "Mulde" oder "Sitzgarnitur" vor sich hinsagen. Das werde die Angst schon vertreiben. Doch je öfter die beiden Freunde beteuern, wie gut sie angeblich alles im Griff haben, desto mehr entgleitet ihnen tatsächlich Matildas Fall. Die Phobie der Freundin wächst sich zur unheimlichen Bedrohung aus. Das zeigt sich schon am Erzählstil. Durchgängig spricht die Erzählerin im Präsens und erzählt betont nüchtern. So, als stände sie wie eine Begutachterin stets hinter einer Scheibe. Möglichst weit weg von der Freundin, mit deren Kontrollverlust sie nichts zu haben möchte:

    Es werden Gefühle nicht ausgesprochen. Und das kann natürlich auch unterkühlt rüberkommen. Aber ich habe es so aufgefasst, als eine so etwas leise Erzählweise. Also, es kontrolliert zu erzählen. Nicht zu erzählen: "Matilda lag im Bett und bebte vor Angst", weil die Erzählerin vor dem, was sie erlebt, auch zu viel Angst hat. Und ich denke: eine Strategie, gegen seine Angst anzugehen, ist eben auch sich zurückzuziehen in seiner Emotionalität. Also zu sagen: "So ist das jetzt und das machen wir jetzt". Also, es ein bisschen zu deckeln.

    Ein nüchternes Vokabular als bewährter Schutzwall gegen die Abgründigkeiten der Seele: das kennt Mariana Leky, Jahrgang 1973, aus eigener Erfahrung. Nicht nur die Mutter der Erzählerin im Buch ist Psychotherapeutin. Auch ihre eigenen Eltern aus Köln arbeiten als Analytiker. Tatsächlich haben im Roman sowohl ihre Erzählerin als auch deren Mitbewohner Sylvester allen Grund, sich sprachlich strikt von Matildas Aussetzern abzugrenzen. Schließlich läuft auch in ihrem Leben - bei genauerer Betrachtung - so Einiges schief. Sylvester, der seine Freundinnen so häufig wechselt wie seine Unterwäsche, hat offensichtlich Bindungsprobleme. Die Erzählerin wiederum überfordert sich selbst, indem sie immer noch mit ihrem ehemaligen Geliebten zusammenwohnt, obwohl sie ihn eigentlich noch gar nicht überwunden hat: da mag sie noch so oft beteuern, dass von ihrer Liebe zu Sylvester angeblich "nichts hängen geblieben" ist. Beide Helfer leiden also in Wahrheit ebenfalls unter einem Kontrollverlust in ihrem Leben: wenngleich mit weniger dramatischen Folgen als Matilda. Statt sich um ihren Studienabschluss zu kümmern, vertändeln die Erzählerin und ihr Mitbewohner die Zeit mit Affären und Aushilfsjobs. Nach Meinung von Mariana Leky typische Ausweichmanöver einer Generation heute 30jähriger, für die das Erwachsenwerden zunehmend zu einer mit Erwartungen gespickten Überforderung
    wird:

    Das Nicht-Erwachsen-Werden-Wollen, ich glaube, das ist einfach falsch formuliert. Weil das keine bewusste Weigerung ist, also, dass man jetzt zu bequem ist, um erwachsen zu werden. Sondern, dass man eine bestimmte Vorstellung vom Erwachsenwerden hat, mit der man sich überfordert. Also, dass man bestimmte Dinge auf Teufel komm raus durchziehen muss und sich auf etwas konzentrieren muss. Und gradlinig sein muss. Dazu kommt dann immer noch bei aller Gradlinigkeit diese Selbstverwirklichungssache. Also, dass man dabei dann auch immer noch schön glücklich sein muss und erfüllt. Was einen auch unter Druck setzt. Es darf nichts langweilig sein. Und ich glaube eher, dass dieser Vorstellung vom Erwachsensein sehr nachgeeifert wird.

    Wer verliert hier also wirklich die Kontrolle? Wer hilft hier eigentlich wem? Das sind Fragen, die jeden Umgang mit psychisch Kranken spätestens seit Michel Foucault als Kippfigur kennzeichnen. Auch in Mariana Lekys Romandebüt sind solche Fragen nicht eindeutig zu beantworten. Die Hilflosigkeit der Helfer gegenüber Matilda mutet stellenweise geradezu skurril-komisch an. Etwa dort, wo die Ich-Erzählerin ohne Führerschein mit der Freundin ins Krankenhaus fährt und auf der Fahrt ständig die Floskel, etwas alleine "durchzuziehen", wie ein Mantra vor sich hinmurmelt. An diesen Stellen enttarnt Lekys Buch wunderbar lakonisch, wie anstrengend und unfrei es heute doch mitunter ist, jung zu sein.

    Matilda ist nicht nur jung, sondern auch noch "ausgesprochen hübsch". Ihr fehlt nach allgemeinem Verständnis von daher jeder Grund, einer Umwelt zu misstrauen, die ihr alle Chancen einzuräumen scheint. Eines aber verzeiht diese Umwelt ihr nicht: unglücklich zu sein. Matildas Phobie stellt insofern einen ungeheuerlichen Affront für eine Gesellschaft dar, in der Jugend und Schönheit als Trümpfe gelten, aus der man notwendig Vorteile ziehen muss. Das beschreibt Leky, die vier Semester lang kreatives Schreiben bei Hanns Josef Ortheil in Hildesheim studiert hat, eindringlich und angenehm unprätentiös. Allerdings wirkt ihr ebenso verstörendes wie lesenwertes Debüt über den Einbruch einer psychischen Störung in den Studentenalltag, dann doch den berühmten Tick zu unpersönlich. Indem Leky Gefühle und ein Vorleben ihrer Figuren bewusst ausspart, haftet ihrem Trio etwas vom austauschbaren Personal einer Versuchsanordnung an. Das mag als Ausdruck des Kontrollwahns beabsichtigt sein. Gleichwohl liest sich Matildas Drama dadurch einfach etwas zu unbeteiligt, als dass man wirklich mit ihr und ihren Helfern mitleiden würde.

    Mariana Leky
    Erste Hilfe
    DuMont, 187 S., EUR 17,90