"Am 11. November rannte Lowboy, um den Zug noch zu erwischen. Leute standen im Weg, aber er achtete darauf niemanden zu berühren. Er rannte die rostig gelbe Bahnsteigkante entlang, die Kabine des Zugbegleiters fest im Blick: er zwang ihn zu warten. Die Türen waren schon geschlossen, aber sie öffneten sich, als er dagegen trat. Es kam ihm wie ein Zeichen vor."
Irgendetwas Grundlegendes, das merkt man schon bei den allerersten Sätzen von John Wrays neuem Roman "Retter der Welt", stimmt nicht mit dem sechzehnjährigen Helden William Heller. Schon, dass William sich selbst "Lowboy" nennt - nach einem Möbelstück und wegen seiner Stimmungstiefs. Auch sonst benimmt sich Wrays jugendlicher Ausreißer, der sich auf der Flucht durch die New Yorker U-Bahn-Schächte befindet, höchst ungewöhnlich. In allem, was ihm begegnet, sieht der Junge bedeutsame Zeichen. Denn William, von anderen nur kurz "Will" genannt, ist überzeugt davon, dass die Welt binnen zehn Stunden wegen Überhitzung untergehen wird. Und dass niemand anderer als ausgerechnet er das verhindern kann. Oder, wie Will wenig später an der U-Bahn-Station West Central Park beim Anblick einer riesigen Weltkugel aus Chromstahl überlegt:
Der Globus war nicht einmal dreißig Jahre alt (...) und bereits veraltet. Die Antarktis sieht nicht so aus, dachte Lowboy. Auch Grönland nicht. Der Gedanke stimmte ihn melancholisch, doch zugleich fühlte er seine ruhmreiche, edle Bestimmung, er war ein verkannter Prophet. Schließlich konnte er die Uhr zurückdrehen. Er konnte verhindern, dass die Welt unterging: er brauchte dazu nur die Hilfe eines einzigen Menschen. Es wäre so einfach! Aber dieser Mensch war nirgends zu finden.
Ein von der Welt unverstandener Held in verzweifelt zweifelhafter Mission: das ist seit Cervantes' Don Quichotte der genretypische Grundkonflikt des modernen Romans. Der 1971 in Washington geborene, teilweise in Österreich lebende Autor John Wray zeigt diese literarische Urszene nun in zeitgemäßer Verpackung und als Genre-Mix aus Psychothriller und Comig-of-Age-Geschichte. Denn wie schon Salingers gleichaltriger Internatsflüchtling Holden Caufield - der berühmteste Jugendrebell der amerikanischen Literatur - kreisen auch die Gedanken von Wrays Ausreißer Will ständig um den Sinn seines Erwachsenenwerdens. Und: um das Problem der eigenen, bevorstehende Entjungferung. Nur, dass Will anders als Holden Caufield dieses Problem nicht zum Anlass nimmt, um einen Unschuldsverlust im umfassenderen Sinne zu hinterfragen.
Denn Wrays Held Will ist kein sympathisch-rotziger Kindheitsmelancholiker wie Salingers Schulabbrecher, sondern ein unberechenbarer Psychotiker mit der medizinischen Diagnose "paranoide Schizophrenie." Der Gedanke an Mädchen hat sich bei diesem Teenager angesichts der aktuellen Erderwärmung zur fixen Idee gesteigert, wonach nur eines die Überhitzung der Welt angeblich stoppen kann: Wills erster Sex mit einer Frau.
Fest entschlossen, diesen kruden Auftrag zu erfüllen, ist der Teenager am Morgen aus einer Privatklinik geflohen, in der er zwei Jahre lang untergebracht war, nachdem er seine ehemalige Mitschülerin Emily absichtlich auf die U-Bahn-Gleise gestoßen hatte. Emily hat diese Attacke Wills zwar damals wie durch ein Wunder überlebt. Doch nun, zwei Jahre später, ist dem selbsternannten Retter der Welt wegen des Vorfalls die Polizei auf den Fersen, quer durch die Katakomben New Yorks.
Wray erzählt diese Geschichte von Flucht und Verfolgung in filmischer Roadmovie-Manier auf zwei Ebenen. Auf jede unterirdischen Episode Wills folgt eine oberirdische Szene, in der sein Gegenspieler, der farbige Detective Ali Lateef, zusammen mit Wills Mutter Violet versucht, den als gefährlich geltenden Teenager aufzuspüren. Und die große Stärke dieses, von Kritikern geradezu frenetisch bejubelten Romans liegt darin, dass er die tragische Diskrepanz des jugendlichen Helden zwischen bester Weltrettungs-Absicht und psychotischer Fehleinschätzung der Lage plausibel darzustellen vermag. Man versteht beim Lesen, warum es in Wills Logik keinen Gegensatz darstellt, einerseits immer noch in Emily verliebt zu sein - ihr andererseits aber doch im nächsten Moment Gewalt antun zu können. Und man versteht, ohne dass es seinen Schrecken verliert, warum ein banaler Gang zum Konditor für diesen Sechzehnjährigen so schnell in den Amoklauf kippen kann:
"Was macht das Mädchen da mit der Tüte?", fragte Lowboy.
"Was meinst du?", fragte die Frau hinter der Theke.
"Was tut sie da rein?"
"Na, deine Kuchen," sagte die Frau.
Lowboy sah sich das Mädchen genau an. In aller Ruhe. Sie war nicht so jung, wie er zuerst geglaubt hatte. "Wie alt sind Sie?", fragte er. "War Ihnen schon mal heiß?"
"Ihr Wechselgeld," fauchte die Frau hinter der Theke und riss dem Mädchen die Tüte aus der Hand.
"Stellen Sie die Tüte ab", sagte Lowboy, "Treten Sie beiseite."
Jetzt staunten alle in dem Laden über ihn, es war ja gar nicht zu vermeiden.
"Stellen Sie das Scheißding ab. Nehmen Sie die Maschine aus der Tüte!"
John Wray hat ein Faible für Ausgestoßene in psychischen Extremsituationen. In seinem Debütroman ging es um einen Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, der sich kurz vor dem bevorstehenden Anschluss an Nazi-Deutschland in die Einsamkeit der österreichischen Bergheimat zurückzieht. Sein neuer Held "Lowboy" alias William Heller ist ebenfalls jemand, der dank seiner Schizophrenie unrettbar den Anschluss an die so genannte Normalwelt verloren hat. Und es scheint fast so, als würde dieser, insgesamt schon dritte Roman des jungen Austria-Amerikaners nun zum literarischen Durchbruch werden: sowohl in den USA als auch in Deutschland löste Retter der Welt unter Kritikern wahre Begeisterungsstürme aus, die handwerklich betrachtet durchaus berechtigt sind. Denn Wray erzählt den Fall seines jugendlichen Paranoikers Will nachvollziehbar aus Krankensicht, ohne ihn gleichzeitig zu dämonisieren. Und er lädt ihn gekonnt mit kriminalistischer Spannung auf - bis hin zur Lösungspointe am Schluss. Und doch birgt die Hauptfigur des sechzehnjährigen Will bei aller Schreibbrillanz seines Schöpfers ein entscheidendes Manko.
Denn mitleiden tut mit Lowboy, dem selbst ernannten "Retter der Welt", als Leser nicht. Dafür ist seine Mission einfach zu pathologisch. Die Welt zu retten, indem man zum ersten Mal mit einer Frau schläft? Und zwar wohlgemerkt: egal, mit welcher Frau auch immer. Dieser Wahn einer Entjungferung um jeden Preis ist so bizarr, dass sich jede weitere Frage nach echter Zuneigung oder gar Liebe von vorneherein erübrigt. Und damit genau das, was Wills Berufung eigentlich erst sympathisch machen könnte. Entsprechend endet seine Irrfahrt, man ahnt es früh, traurig, ohne tragisch zu sein. Denn statt angerührt blickt man - ähnlich wie der Autor - eher staunend, aber unbeteiligt auch als Leser auf dieses unglückliche Teenager-Schicksal.
John Wray: Retter der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 349 Seiten, 19.90 Euro.
Irgendetwas Grundlegendes, das merkt man schon bei den allerersten Sätzen von John Wrays neuem Roman "Retter der Welt", stimmt nicht mit dem sechzehnjährigen Helden William Heller. Schon, dass William sich selbst "Lowboy" nennt - nach einem Möbelstück und wegen seiner Stimmungstiefs. Auch sonst benimmt sich Wrays jugendlicher Ausreißer, der sich auf der Flucht durch die New Yorker U-Bahn-Schächte befindet, höchst ungewöhnlich. In allem, was ihm begegnet, sieht der Junge bedeutsame Zeichen. Denn William, von anderen nur kurz "Will" genannt, ist überzeugt davon, dass die Welt binnen zehn Stunden wegen Überhitzung untergehen wird. Und dass niemand anderer als ausgerechnet er das verhindern kann. Oder, wie Will wenig später an der U-Bahn-Station West Central Park beim Anblick einer riesigen Weltkugel aus Chromstahl überlegt:
Der Globus war nicht einmal dreißig Jahre alt (...) und bereits veraltet. Die Antarktis sieht nicht so aus, dachte Lowboy. Auch Grönland nicht. Der Gedanke stimmte ihn melancholisch, doch zugleich fühlte er seine ruhmreiche, edle Bestimmung, er war ein verkannter Prophet. Schließlich konnte er die Uhr zurückdrehen. Er konnte verhindern, dass die Welt unterging: er brauchte dazu nur die Hilfe eines einzigen Menschen. Es wäre so einfach! Aber dieser Mensch war nirgends zu finden.
Ein von der Welt unverstandener Held in verzweifelt zweifelhafter Mission: das ist seit Cervantes' Don Quichotte der genretypische Grundkonflikt des modernen Romans. Der 1971 in Washington geborene, teilweise in Österreich lebende Autor John Wray zeigt diese literarische Urszene nun in zeitgemäßer Verpackung und als Genre-Mix aus Psychothriller und Comig-of-Age-Geschichte. Denn wie schon Salingers gleichaltriger Internatsflüchtling Holden Caufield - der berühmteste Jugendrebell der amerikanischen Literatur - kreisen auch die Gedanken von Wrays Ausreißer Will ständig um den Sinn seines Erwachsenenwerdens. Und: um das Problem der eigenen, bevorstehende Entjungferung. Nur, dass Will anders als Holden Caufield dieses Problem nicht zum Anlass nimmt, um einen Unschuldsverlust im umfassenderen Sinne zu hinterfragen.
Denn Wrays Held Will ist kein sympathisch-rotziger Kindheitsmelancholiker wie Salingers Schulabbrecher, sondern ein unberechenbarer Psychotiker mit der medizinischen Diagnose "paranoide Schizophrenie." Der Gedanke an Mädchen hat sich bei diesem Teenager angesichts der aktuellen Erderwärmung zur fixen Idee gesteigert, wonach nur eines die Überhitzung der Welt angeblich stoppen kann: Wills erster Sex mit einer Frau.
Fest entschlossen, diesen kruden Auftrag zu erfüllen, ist der Teenager am Morgen aus einer Privatklinik geflohen, in der er zwei Jahre lang untergebracht war, nachdem er seine ehemalige Mitschülerin Emily absichtlich auf die U-Bahn-Gleise gestoßen hatte. Emily hat diese Attacke Wills zwar damals wie durch ein Wunder überlebt. Doch nun, zwei Jahre später, ist dem selbsternannten Retter der Welt wegen des Vorfalls die Polizei auf den Fersen, quer durch die Katakomben New Yorks.
Wray erzählt diese Geschichte von Flucht und Verfolgung in filmischer Roadmovie-Manier auf zwei Ebenen. Auf jede unterirdischen Episode Wills folgt eine oberirdische Szene, in der sein Gegenspieler, der farbige Detective Ali Lateef, zusammen mit Wills Mutter Violet versucht, den als gefährlich geltenden Teenager aufzuspüren. Und die große Stärke dieses, von Kritikern geradezu frenetisch bejubelten Romans liegt darin, dass er die tragische Diskrepanz des jugendlichen Helden zwischen bester Weltrettungs-Absicht und psychotischer Fehleinschätzung der Lage plausibel darzustellen vermag. Man versteht beim Lesen, warum es in Wills Logik keinen Gegensatz darstellt, einerseits immer noch in Emily verliebt zu sein - ihr andererseits aber doch im nächsten Moment Gewalt antun zu können. Und man versteht, ohne dass es seinen Schrecken verliert, warum ein banaler Gang zum Konditor für diesen Sechzehnjährigen so schnell in den Amoklauf kippen kann:
"Was macht das Mädchen da mit der Tüte?", fragte Lowboy.
"Was meinst du?", fragte die Frau hinter der Theke.
"Was tut sie da rein?"
"Na, deine Kuchen," sagte die Frau.
Lowboy sah sich das Mädchen genau an. In aller Ruhe. Sie war nicht so jung, wie er zuerst geglaubt hatte. "Wie alt sind Sie?", fragte er. "War Ihnen schon mal heiß?"
"Ihr Wechselgeld," fauchte die Frau hinter der Theke und riss dem Mädchen die Tüte aus der Hand.
"Stellen Sie die Tüte ab", sagte Lowboy, "Treten Sie beiseite."
Jetzt staunten alle in dem Laden über ihn, es war ja gar nicht zu vermeiden.
"Stellen Sie das Scheißding ab. Nehmen Sie die Maschine aus der Tüte!"
John Wray hat ein Faible für Ausgestoßene in psychischen Extremsituationen. In seinem Debütroman ging es um einen Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, der sich kurz vor dem bevorstehenden Anschluss an Nazi-Deutschland in die Einsamkeit der österreichischen Bergheimat zurückzieht. Sein neuer Held "Lowboy" alias William Heller ist ebenfalls jemand, der dank seiner Schizophrenie unrettbar den Anschluss an die so genannte Normalwelt verloren hat. Und es scheint fast so, als würde dieser, insgesamt schon dritte Roman des jungen Austria-Amerikaners nun zum literarischen Durchbruch werden: sowohl in den USA als auch in Deutschland löste Retter der Welt unter Kritikern wahre Begeisterungsstürme aus, die handwerklich betrachtet durchaus berechtigt sind. Denn Wray erzählt den Fall seines jugendlichen Paranoikers Will nachvollziehbar aus Krankensicht, ohne ihn gleichzeitig zu dämonisieren. Und er lädt ihn gekonnt mit kriminalistischer Spannung auf - bis hin zur Lösungspointe am Schluss. Und doch birgt die Hauptfigur des sechzehnjährigen Will bei aller Schreibbrillanz seines Schöpfers ein entscheidendes Manko.
Denn mitleiden tut mit Lowboy, dem selbst ernannten "Retter der Welt", als Leser nicht. Dafür ist seine Mission einfach zu pathologisch. Die Welt zu retten, indem man zum ersten Mal mit einer Frau schläft? Und zwar wohlgemerkt: egal, mit welcher Frau auch immer. Dieser Wahn einer Entjungferung um jeden Preis ist so bizarr, dass sich jede weitere Frage nach echter Zuneigung oder gar Liebe von vorneherein erübrigt. Und damit genau das, was Wills Berufung eigentlich erst sympathisch machen könnte. Entsprechend endet seine Irrfahrt, man ahnt es früh, traurig, ohne tragisch zu sein. Denn statt angerührt blickt man - ähnlich wie der Autor - eher staunend, aber unbeteiligt auch als Leser auf dieses unglückliche Teenager-Schicksal.
John Wray: Retter der Welt. Roman. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 349 Seiten, 19.90 Euro.