Vieles ging bei den französischen Vorstadtkrawallen im letzten Herbst in Flammen auf: Autos, Schulen, Betriebe, Kindergärten, Sporthallen - angezündet von wütenden jungen Männern, deren Motive kaum jemand in Frankreich durchschauen mochte. Fast schien es, als seien auch die berühmten französischen Intellektuellen in den Flammen der Vorstädte untergegangen. Den Bernard-Henri Lévys und André Glucksmanns der Republik, die gewöhnlich in jeder erdenklichen Unruheregion des Erdballs wortgewaltig Partei ergreifen – ihnen fehlten angesichts der Krawalle vor der eigenen Haustür die Worte. Eine "betäubendes Schweigen" meint die Autorin Jade Lindgaard und diagnostiziert eine "unsichtbare soziale Bewegung" in den Banlieues:
"Am Anfang, als die Krawalle begannen, wurden sie vor allem als kriminelle Momente interpretiert. Man sprach von urbaner Gewalt. Doch in Wahrheit steckte dahinter eine soziale Bewegung, eine zweifellos prä-politische Bewegung, denn es gab keine klaren Aussagen, keine Sprecher, keine eindeutigen Forderungen. Das war keine Demo mit Spruchbändern und Fahnen. Und doch steckte dahinter eine Bitte um Aufmerksamkeit, das kann man im Rückblick heute sagen, es gab einen Diskurs, auch wenn er konfus war."
"Über die Unruhen habe ich mit niemandem geredet, und ich werde auch mit niemandem darüber reden", sagt der junge Mann mit Kapuzenpullover an der Bar des einzigen Cafés von Clichy-sous-Bois, der Stadt, wo nach dem Tod von zwei Jugendlichen vor einem Jahr die Krawalle begannen. Dann fragt er nach meiner Mobiltelefonnummer. Ein paar Tage später ruft er an, am 27. Oktober, dem Jahrestag des Todes von Zyed und Bouna, der beiden Jungen, die auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen. Heute Abend werde es wieder brennen, sagt er. Ob ich nicht kommen wolle, um das zu filmen. Konfus und unheimlich ist der Protest der brandstiftenden Vorstadtjugendlichen, zu dem französischen Denkern bisher so wenig eingefallen ist-– im Gegensatz zum Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk. In seinem Essay "Zorn und Zeit" analysiert er den scheinbar blindwütigen Zorn der Banlieue-Jugendlichen als Phänomen eines Zeitalters der Verlierer:
"Da tritt eine Figur auf die Bühne der Weltgeschichte, die wir in dieser Form bisher noch nicht gekannt haben, (…) diese unheimliche Figur des absoluten Verlierers (…), der gar nicht weiß, in welchem Wettbewerb er angetreten war, um nun als Dauerverlierer abgestempelt zu sein, das sind diese Banlieue-Jugendlichen, die im letzten November in Paris von sich haben reden machen, indem sie Epidemien von Brandstiftungen an Fahrzeugen ausgelöst haben."
Ein Jahr danach hat sich nichts geändert in Clichy-sous-Bois. Centre Ville, Stadtzentrum, steht auf einem Schild gegenüber der Bushaltestelle. Ein Etikettenschwindel. Im Zentrum von Clichy gibt es kein Kino und kein Schwimmbad, keinen Bahnhof, keine Boutiquen und keine Büros-– kein Arbeitsamt. Arbeitslosenquote: knapp 25 Prozent. 28.000 Einwohner zählt Clichy, fast die Hälfte von ihnen ist unter 25 – wie Aurélie. 23 ist sie, in Clichy-sous-Bois geboren und aufgewachsen. Aurélie lebt in einem der heruntergekommenen Wohnblocks, die das Stadtbild von Clichy prägen. Hochhäuser mit Betonfassaden oder sechsstöckige Mietskasernen, fast überall stehen die Türen offen, Fensterscheiben sind kaputt oder fehlen. In den oberen Etagen hängen Wäsche und Satellitenschüsseln vor den Fenstern. Hier wohnten auch Bouna und Zyed, die beiden Jungen, die vor einem Jahr in einem Strom-Transformator ums Leben kamen.
"Wir wissen die Wahrheit über Bouna und Zyed. Die sagen dauernd das Gegenteil. Die sollen endlich dazu stehen, was sie getan haben. Wenn einer von uns festgenommen wird, dann muss er doch auch zugeben, was er gemacht hat. Also gilt das auch für die. Die sind schuld. Und die müssen das zugeben. Punkt. "
Die - damit meint Aurélie die Polizisten. Die Polizisten, vor denen Bouna und Zyed wegrannten, in den Hochspannungstod. Die genauen Umstände des Unglücks sind bis heute ungeklärt. Eines aber ist klar: Die Jugendlichen in der Banlieue fürchten und verabscheuen die Polizei. Identitätskontrollen gehören zum Alltag.
Der Zorn, die Wut auf die Polizei äußert sich auch in den Texten französischer Rapper. Pünktlich zum Jahrestag der Unruhen ist ein Sampler erschienen. "Police" heißt das Album, 24 Titel über eine explosive Beziehung.
Das Bild vom gewaltbereiten jugendlichen Banlieue-Ganster - Fernsehbilder von beeindruckenden Polizeirazzien einerseits und scheinbar unkontrollierbaren Krawallmachern andererseits - sie illustrieren nur einen Ausschnitt der Lebensrealität in Frankreichs Vorstädten. Doch sie bestimmen spätestens seit dem letzten Herbst das Bild der Banlieues und ihrer Bewohner in der französischen Öffentlichkeit. Eine Gruppe von Soziologen, Historikern und Journalisten hat deshalb jetzt eine umfangreiche Studie vorgelegt über das, so der Titel, "unsichtbare Frankreich" - eine Fortsetzung der Arbeit des 2002 verstorbenen Soziologen Pierre Bourdieu und besonders seines Bestsellers "Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft". Bourdieus Nachfolger haben nun all jene in den Blick genommen, deren alltägliche Leiden im Medienspektakel kaum Gehör finden. Die, wie Sloterdijk sagt, Figuren des Zeitalters der Verlierer: Praktikanten, Obdachlose, Überschuldete, Arbeitslose und eben die "Banlieusards" - die Menschen in den Vorstädten. Jade Lindgaard ist eine der Herausgeberinnen von "Das unsichtbare Frankreich":
"Die Vorstadtmenschen gehören zum unsichtbaren Frankreich insofern als sie seit einigen Jahren immer mehr stigmatisiert werden, ihnen wurde ein extrem negativer Stempel aufgedrückt. Dieses beunruhigend abwertende Bild bedeutet letztlich Unsichtbarkeit, eine Maske wurde geschaffen, hinter der die wirklichen Lebensbedingungen verschwinden."
Eine soziologische Analyse, die die Erfahrungen von Aurélie aus Clichy-sous-Bois widerspiegelt:
"Egal wer man wirklich ist, wir gelten als Gesindel. Wer weiß schon, dass ich Mutter bin, eine verheiratete Frau. Wenn ich mich um einen Job bewerbe, dann sehen sie auf meinem Lebenslauf die Adresse: Département 93, Clichy-sous-Bois, und sagen sich, dass ich mit Molotowcocktails in ihrem Büro aufkreuzen könnte. Soweit ist es gekommen. Wir sind beschmutzt."
Aurélie hatte gerade den ersten Job ihres Lebens. Zwei Monate lang durfte sie Fotos scannen für eine Ausstellung zum Jahrestag der Unruhen. Namhafte Fotografen darunter William Klein, Sarah Moon oder Yann-Arthus Bertrand haben in Clichy Bilder gemacht. Bilder von müden Menschen im Bus, von lesenden Kindern und rumhängenden Jugendlichen, von Graffitis an Betonfassaden und Picknicks im Sonnenschein. Bilder, die zeigen, dass es in der Banlieue noch etwas anderes gibt als brennende Autos, als die Krawallbilder, die vor einem Jahr um die Welt gingen. Bilder vom unsichtbaren Frankreich.
"Am Anfang, als die Krawalle begannen, wurden sie vor allem als kriminelle Momente interpretiert. Man sprach von urbaner Gewalt. Doch in Wahrheit steckte dahinter eine soziale Bewegung, eine zweifellos prä-politische Bewegung, denn es gab keine klaren Aussagen, keine Sprecher, keine eindeutigen Forderungen. Das war keine Demo mit Spruchbändern und Fahnen. Und doch steckte dahinter eine Bitte um Aufmerksamkeit, das kann man im Rückblick heute sagen, es gab einen Diskurs, auch wenn er konfus war."
"Über die Unruhen habe ich mit niemandem geredet, und ich werde auch mit niemandem darüber reden", sagt der junge Mann mit Kapuzenpullover an der Bar des einzigen Cafés von Clichy-sous-Bois, der Stadt, wo nach dem Tod von zwei Jugendlichen vor einem Jahr die Krawalle begannen. Dann fragt er nach meiner Mobiltelefonnummer. Ein paar Tage später ruft er an, am 27. Oktober, dem Jahrestag des Todes von Zyed und Bouna, der beiden Jungen, die auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen. Heute Abend werde es wieder brennen, sagt er. Ob ich nicht kommen wolle, um das zu filmen. Konfus und unheimlich ist der Protest der brandstiftenden Vorstadtjugendlichen, zu dem französischen Denkern bisher so wenig eingefallen ist-– im Gegensatz zum Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk. In seinem Essay "Zorn und Zeit" analysiert er den scheinbar blindwütigen Zorn der Banlieue-Jugendlichen als Phänomen eines Zeitalters der Verlierer:
"Da tritt eine Figur auf die Bühne der Weltgeschichte, die wir in dieser Form bisher noch nicht gekannt haben, (…) diese unheimliche Figur des absoluten Verlierers (…), der gar nicht weiß, in welchem Wettbewerb er angetreten war, um nun als Dauerverlierer abgestempelt zu sein, das sind diese Banlieue-Jugendlichen, die im letzten November in Paris von sich haben reden machen, indem sie Epidemien von Brandstiftungen an Fahrzeugen ausgelöst haben."
Ein Jahr danach hat sich nichts geändert in Clichy-sous-Bois. Centre Ville, Stadtzentrum, steht auf einem Schild gegenüber der Bushaltestelle. Ein Etikettenschwindel. Im Zentrum von Clichy gibt es kein Kino und kein Schwimmbad, keinen Bahnhof, keine Boutiquen und keine Büros-– kein Arbeitsamt. Arbeitslosenquote: knapp 25 Prozent. 28.000 Einwohner zählt Clichy, fast die Hälfte von ihnen ist unter 25 – wie Aurélie. 23 ist sie, in Clichy-sous-Bois geboren und aufgewachsen. Aurélie lebt in einem der heruntergekommenen Wohnblocks, die das Stadtbild von Clichy prägen. Hochhäuser mit Betonfassaden oder sechsstöckige Mietskasernen, fast überall stehen die Türen offen, Fensterscheiben sind kaputt oder fehlen. In den oberen Etagen hängen Wäsche und Satellitenschüsseln vor den Fenstern. Hier wohnten auch Bouna und Zyed, die beiden Jungen, die vor einem Jahr in einem Strom-Transformator ums Leben kamen.
"Wir wissen die Wahrheit über Bouna und Zyed. Die sagen dauernd das Gegenteil. Die sollen endlich dazu stehen, was sie getan haben. Wenn einer von uns festgenommen wird, dann muss er doch auch zugeben, was er gemacht hat. Also gilt das auch für die. Die sind schuld. Und die müssen das zugeben. Punkt. "
Die - damit meint Aurélie die Polizisten. Die Polizisten, vor denen Bouna und Zyed wegrannten, in den Hochspannungstod. Die genauen Umstände des Unglücks sind bis heute ungeklärt. Eines aber ist klar: Die Jugendlichen in der Banlieue fürchten und verabscheuen die Polizei. Identitätskontrollen gehören zum Alltag.
Der Zorn, die Wut auf die Polizei äußert sich auch in den Texten französischer Rapper. Pünktlich zum Jahrestag der Unruhen ist ein Sampler erschienen. "Police" heißt das Album, 24 Titel über eine explosive Beziehung.
Das Bild vom gewaltbereiten jugendlichen Banlieue-Ganster - Fernsehbilder von beeindruckenden Polizeirazzien einerseits und scheinbar unkontrollierbaren Krawallmachern andererseits - sie illustrieren nur einen Ausschnitt der Lebensrealität in Frankreichs Vorstädten. Doch sie bestimmen spätestens seit dem letzten Herbst das Bild der Banlieues und ihrer Bewohner in der französischen Öffentlichkeit. Eine Gruppe von Soziologen, Historikern und Journalisten hat deshalb jetzt eine umfangreiche Studie vorgelegt über das, so der Titel, "unsichtbare Frankreich" - eine Fortsetzung der Arbeit des 2002 verstorbenen Soziologen Pierre Bourdieu und besonders seines Bestsellers "Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft". Bourdieus Nachfolger haben nun all jene in den Blick genommen, deren alltägliche Leiden im Medienspektakel kaum Gehör finden. Die, wie Sloterdijk sagt, Figuren des Zeitalters der Verlierer: Praktikanten, Obdachlose, Überschuldete, Arbeitslose und eben die "Banlieusards" - die Menschen in den Vorstädten. Jade Lindgaard ist eine der Herausgeberinnen von "Das unsichtbare Frankreich":
"Die Vorstadtmenschen gehören zum unsichtbaren Frankreich insofern als sie seit einigen Jahren immer mehr stigmatisiert werden, ihnen wurde ein extrem negativer Stempel aufgedrückt. Dieses beunruhigend abwertende Bild bedeutet letztlich Unsichtbarkeit, eine Maske wurde geschaffen, hinter der die wirklichen Lebensbedingungen verschwinden."
Eine soziologische Analyse, die die Erfahrungen von Aurélie aus Clichy-sous-Bois widerspiegelt:
"Egal wer man wirklich ist, wir gelten als Gesindel. Wer weiß schon, dass ich Mutter bin, eine verheiratete Frau. Wenn ich mich um einen Job bewerbe, dann sehen sie auf meinem Lebenslauf die Adresse: Département 93, Clichy-sous-Bois, und sagen sich, dass ich mit Molotowcocktails in ihrem Büro aufkreuzen könnte. Soweit ist es gekommen. Wir sind beschmutzt."
Aurélie hatte gerade den ersten Job ihres Lebens. Zwei Monate lang durfte sie Fotos scannen für eine Ausstellung zum Jahrestag der Unruhen. Namhafte Fotografen darunter William Klein, Sarah Moon oder Yann-Arthus Bertrand haben in Clichy Bilder gemacht. Bilder von müden Menschen im Bus, von lesenden Kindern und rumhängenden Jugendlichen, von Graffitis an Betonfassaden und Picknicks im Sonnenschein. Bilder, die zeigen, dass es in der Banlieue noch etwas anderes gibt als brennende Autos, als die Krawallbilder, die vor einem Jahr um die Welt gingen. Bilder vom unsichtbaren Frankreich.