Archiv


Unklare Verwandtschaftsbande

Anthropologie. - Am vergangenen Wochenende trafen sich führende Paläoanthropologen im belgischen Tongeren. In der Stadt, in der noch bis Januar 2005 die Ausstellung "" residiert, gingen die Experten der spannenden Frage nach, was aus dem Vormenschen, dessen Spuren sich verwischen, eigentlich wurde. So rätseln Wissenschaftler noch immer, ob der Neanderthaler eine eigenständige Art repräsentierte oder doch große verwandtschaftliche Nähe zum modernen Menschen aufwies und womöglich in ihm aufging.

Von Michael Stang |
    Die Neanderthaler waren eine Gruppe von Menschen. Spezielle Hominiden, die in der Zeit vor ungefähr 200.000 und 30.000 Jahren in Europa lebten. Die Neanderthaler hatten ein genauso großes Gehirn wie wir, also scheinen sie uns sehr nah zu sein. Aber in Wahrheit gibt es eine Menge Unterschiede zwischen den Neanderthalern und uns.

    Ian Tattersall vom American Museum of Natural History in New York sieht in dem Neanderthaler eine eigene Art, die sich nicht nur anatomisch vom modernen Menschen unterscheidet. Eine weitere wichtige Unterscheidung ist seiner Meinung nach die Sprache, die uns vom Neanderthaler unterscheidet. Tattersall spricht dem Neanderthaler diese besondere Fähigkeit ab:

    Ich denke, dass die Neanderthaler wahrscheinlich keine Linguisten waren und auch nicht den Symbolismus kannten. Es gibt keinen Beweis für Symbolismus in archäologischen Hinterlassenschaften, die wir mittlerweile sehr gut kennen. Wir wissen außerdem sehr viel über sein Verhalten und dies alles deutet darauf hin, dass sie nicht mit Symbolik vertraut waren.

    Chris Stringer vom Natural History Museum in London sieht dies ähnlich. Seiner Meinung nach besaßen die Neanderthaler zwar eine Lautsprache, aber hier unterscheidet er deutlich zwischen einer einfachen akustischen Kommunikation und komplexer Sprache:

    Die Sprache des modernen Menschen zeichnet sich durch eine hohe Komplexität mit abstrakten Konzepten aus. Ich denke, dass die Form der Sprache der Neanderthaler wahrscheinlich wesentlich einfacher konstruiert war. Aber ich bin sicher, dass sie eine Form von Sprache hatten. Ich traue ihnen eine Sprache zu, aber nicht in dem Maße, wie wir sie haben.
    Dass der Neanderthaler anatomisch betrachtet zu einer Lautsprache fähig war, beweist ein gut erhaltenes Zungenbein in der Kebara-Höhle in Israel. Für Milford Wolpoff von der University of Michigan in den USA sind diese Erklärungen jedoch selbsterfüllende Prophezeiungen. Für ihn sind die Unterschiede zwischen dem modernen Menschen und dem Neanderthaler geringer. Er geht davon aus, dass sie sich nicht nur sprachlich gut verstanden haben, sondern sich auch in anderen Bereichen näher gekommen sind.

    Die einfache Erklärung in der Ähnlichkeit zwischen dem Neanderthaler und den Europäern ist, dass es Vermischungen gab. Wenn die Neanderthaler Gene beim modernen Menschen hinterlassen konnten, können sie keine separate Art sein. Somit können sie zu keiner anderen Art als Homo sapiens gerechnet werden. Es gibt keine Unterarten von Homo sapiens. Tiere, bei denen Unterarten vorkommen, unterscheiden sich deutlicher, wesentlich deutlicher als alle Unterschiede von Homo sapiens und dem Neanderthaler zusammen gerechnet.

    Wie groß sind nun die Unterschiede? Eine Möglichkeit, dieser Frage auf den Grund zu gehen sind genetische Untersuchungen an Neanderthalerknochen. Mittlerweile gibt es Erbanalysen von neun Neanderthalerskeletten. Auf der Suche nach der unmittelbaren Verwandtschaft zwischen dem modernen Menschen und dem Neanderthaler fanden die Forscher jedoch keine Gene, die eindeutig als Neanderthaler spezifisch angesehen werden können und sich heute noch beim modernen Menschen nachweisen lassen. Eine Erklärungsmöglichkeit dafür könnte sein, dass es keine genetischen Vermischungen gegeben hat. Aber dies ist eher unwahrscheinlich, Milford Wolpoff:

    Die Neanderthaler-DNA unterscheidet sich von der Erbsubstanz heute lebender Menschen. Die DNA aller damals lebenden Menschen unterscheidet sich von der DNA heute lebender Menschen. Also stellt sich weder die Frage nach einzeln verschwundener Gensequenzen des Neanderthalers, noch nach dem Verschwinden der gesamten Neanderthaler-Erbsubstanz.

    Für Chris Stringer hingegen weisen die Ergebnisse in eine andere Richtung. Da es keinen Beweis für Neanderthaler-Gene gibt, spräche dies für eine sehr frühe Trennung der beiden Menschengruppen und eben nicht für eine nahe Verwandtschaft.

    Die Neanderthaler stellen eine eigene Linie dar. Und die Ergebnisse der DNA-Untersuchungen sind hilfreich, da sie uns zeigen, dass die Wurzeln der Trennung vielleicht schon eine halben Million Jahre zurückliegen.

    Die verschiedenen Interpretationen haben mehrere Gründe: Zum einem ist es schwierig, aus den erhalten gebliebenen Informationen - also Knochen und kulturelle Überlieferungen, wie zum Beispiel die Form von Bestattungen - ein einheitliches, geschweige denn vollständiges Bild vom Neanderthaler zu bekommen. Zum anderen sind die Positionen so konträr, dass sich ein komplexes Theoriegebäude nur schwer widerlegen lässt.