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Unkonventionell und doch unemanzipiert

Im ersten Band ihrer Erinnerungen beschreibt die französische Schriftstellerin Clara Malraux den Eintritt ins Erwachsenenleben, die Aufnahme in die Pariser Boheme der 20er-Jahre und den Beginn ihres abenteuerlichen Lebens mit dem umstrittenen Dandy und späteren französischen Kulturminister André Malraux.

Von Ursula März | 23.08.2011
    Als sie ihn eines Abends in Paris bei einem Festbankett im Sommer 1921 kennenlernte, war er: Ein Niemand. Ein 19-jähriger Mann ohne Schulabschluss, ohne Vermögen, ohne Beruf. Was er besaß, hatte allenfalls ideellen oder symbolischen Wert: ein paar Kontakte zu Künstlern, eine Reihe dandyhafter Attitüden, eine enorme Selbsteinschätzung und jenen Hang zur Selbstmythisierung und Selbststilisierung, dem er sein Leben lang treu bleiben sollte.

    Bis heute sind einige, zumal politisch delikate Kapitel im Leben des späteren Kulturministers André Malraux, der sich nach 1945 vom Kommunisten zum Gaullisten wandelte, nicht geklärt. Sie dagegen, die vier Jahre ältere Frau, die dem hübschen Dandy bei dem Bankett im Jahr 1921 gegenübersaß und damals noch Goldschmidt mit Nachnamen hieß, war keineswegs ein Niemand. Clara Goldschmidt stammte aus einer sehr vermögenden deutsch-jüdischen, nach Paris emigrierten Familie, sie war hochgebildet und belesen, von funkelnder Intelligenz und in die besten Kreise der französischen Gesellschaft eingeführt.

    Sie sahen und verliebten sich, sie wurden Clara und André Malraux, eines der legendären Künstlerpaare des legendären Bohemejahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Sie heirateten, trennten sich im Jahr 1938 und wurden acht Jahre später geschieden. Davon, von der frühlingshaften und sommerlichen Hochphase ihrer Liebesleidenschaft erzählt Clara Malraux im ersten Band ihrer sechsbändigen Memoiren. Aber auch von den ersten herbstlichen Anzeichen der Beziehung, von der mählichen Entwicklung einer weiblichen Existenzform, die man als "im Schatten eines Mannes stehen" bezeichnet.

    Vieles an diesem Erinnerungsbuch ist amüsant zu lesen. Es berichtet vom Leben abenteuerlicher Herzen, es entwirft die im Rückblick so wundersam wirkende Künstler- und Dichterszenerie der frühen Moderne, es entfaltet die Netzwerke der 20er-Jahre, es macht die fast kindliche Aufbruchsstimmung dieser Epoche bis in den temperamentvollen Erzählstil von Clara Malraux hinein sinnlich spürbar. Aber dies alles ist nicht ganz neu. Die Erinnerungs- und Aufarbeitungsliteratur, die sich dem Künstlermilieu dieser Zeit widmet, füllt längst eine kleine Bibliothek.

    Die eigentliche Spannkraft des Buches geht von der skeptischen Selbstreflexion der Autorin aus, von Clara Malraux irritierter Selbstbefragung, vom retrospektiven Unterverständnis ihrer eigenen Rolle gegenüber. Weder ihr Charakter noch ihre soziale Position ließen erahnen, dass sie sich binnen kurzem den egomanen Ansprüchen und ästhetischen Überzeugungen des Geliebten beugen, dass sie sich als Begleitperson seiner Auftritte und seiner teilweise irrwitzigen Projekte zur Verfügung stellen würde. Tragikkomisch und - nicht zu vergessen: kriminell - ist André Malrauxs Idee, durch den Raub und den Verkauf kambodschanischer Tempelschätze zu Geld zu kommen. Die Reise, der episodische Höhepunkt des Buches, findet tatsächlich statt. Das südostasiatische Abenteuer endet indes kläglich. André Malraux wird als Tempelräuber festgenommen und 1924 in Phnom Penh zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Es ist an Clara Malraux, ihn zu retten. Sie mobilisiert in Paris namhafte Künstler wie André Gide, André Breton, Aragon, Max Jacob, die sich für den gescheiterten Geschäftsmann einsetzen.

    Bei dieser Aufgabenverteilung des Paares bleibt es in den kommenden Jahren. Er macht Karriere, schreibt Roman um Roman, sie stützt ihn, bis er sich 1938 von ihr trennt. Clara Malraux sieht - zum Glück der Lektüre - nicht verbittert, eher ironisch auf ihr Leben mit André Malraux zurück. Sie versucht zu verstehen, wie es kommen konnte, dass sie sich kleiner machte, als sie war. Zur eigenständigen Schriftstellerin wurde sie erst viele Jahre später. Interessant ist dieser erste Band ihrer Memoiren, weil er aus dem historischen Abstand von acht Jahrzehnten ein weibliches Bewusstsein in einer Art Zwischenphase deutlich macht: Unkonventionell und doch unemanzipiert.

    Clara Malraux: "Als wir 20 waren. Meine Erinnerungen an Malraux, Picasso & die Pariser Boheme". Aus dem Französischen von Ruth Groh und Annette Lallemand, Verlag Graf, 304 Seiten, 19.95 Euro