Freitag, 10. Mai 2024

Archiv


Unkritisch und selbstgerecht

Sie nannten sich Grenzlandaktivistinnen - ihr Ziel war der "Schutz des Deutschtums". Elizabeth Harvey beleuchtet ein nahezu unbekanntes Kapitel der Nazi-Geschichte: Die Rolle von Frauen und Mädchen im Besatzungsalltag und in der deutschen "Lebensraumpolitik".

Von Tom Goeller | 09.08.2010
    Deutsche Frauen, deutsche Treue (...) sollen uns zu edler Tat begeistern, unser ganzes Leben lang, dichtete bereits 1841 Hoffmann von Fallersleben für seine zweite Strophe des Deutschlandliedes. Im Zuge des aufkommenden Historismus des 19. Jahrhunderts, der Wiederentdeckung von Minneliedern des Mittelalters sowie des Nibelungenliedes wurde vor allem von national gesinnten Dichtern die "deutsche Frau an sich" erfunden. Ihr wurden Charaktereigenschaften angedichtet, wie Selbstlosigkeit, Treue zu Mann und Staat und Pflichtbewusstsein als Mutter am Herd.

    Lange also vor der Nazi-Herrschaft wurden im aufblühenden deutschen Kaiserreich Mädchen im nationalen Bewusstsein erzogen, mit der Bereitschaft, das deutsche "Volkstum" zu verteidigen. So gründeten sich bereits 1880 die ersten Frauengruppen, die sich später im Verein für das Deutschtum im Ausland, dem VDA, zusammenschlossen. Sie sahen es als ihre Verantwortung an, die deutsche Sprache in deutschen Siedlungsgebieten jenseits der Reichsgrenze zu fördern, wie die englische Historikerin Elizabeth Harvey schreibt:

    Die Frauengruppen des VDA folgten dem Beispiel der Frauen in Österreich-Ungarn; dort wurden national gesinnte, deutschsprachige bürgerliche Frauen mobilisiert, die sich gegen die vermeintlichen kulturellen Übergriffe der tschechisch sprechenden Menschen wehrten.

    Auf das Engagement von Österreicherinnen innerhalb der Germanisierungspolitik vor und während der Nazi-Zeit kommt Mrs. Harvey mehrfach zu sprechen. Offenbar spielte die deutsch-nationale Überheblichkeit der einstigen Habsburgermonarchie eine besondere Rolle bei der Aktivierung von österreichischen Frauen für die nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Osteuropa. Grundlage dafür war eben nicht die vermeintliche Bedrohung der Deutschen durch die Slawen, sondern, wie Hitler meinte:

    "Der russische Raum ist unser Indien."

    Und Himmler konkretisierte:

    "Die Hauptkolonie unseres Reiches ist aber der Osten: Heute Kolonie, morgen Siedlungsgebiet, übermorgen Reich."

    Nach dem Überfall im September 1939 errichteten die Nazis in Polen ein neues Siedlungsgebiet mit Namen "Warthegau". Bis 1943 wurden dort 625.000 Deutsche angesiedelt. Zur Unterstützung holten sich die Nazis Hebammen, Kindergärtnerinnen, Studentinnen und zahlreiche Führerinnen des "Bundes Deutscher Mädchen" (BDM). Die vordringlichen Aufgaben der Frauen waren es, Kindergärten und Schulen für deutsche Siedler einzurichten, als Betreuerinnen die deutschen Familien in Haushaltsführung, Ordnung, Hygiene, Kinderpflege und dem sogenannten deutschen Volkstum zu unterweisen.

    Diese Frauen waren in der Mehrzahl jung, ledig und überdurchschnittlich gebildet. Junge Frauen mit der größten Affinität für den deutschen Nationalismus stammten aus dem evangelischen Bürgertum. Manche meldeten sich freiwillig, von anderen erwartete man, dass sie aufgrund der Positionen, die sie bekleideten, Ostaufträgen Folge leisten würden.

    Elizabeth Harvey rekonstruierte die Rolle von Frauen und Mädchen im Besatzungsalltag und in der deutschen "Lebensraumpolitik" anhand von Arbeitsberichten, die diese an ihre vorgesetzten Dienststellen schickten. Außerdem wertete sie Veröffentlichungen der Aktivistinnen aus, Briefe und Tagebücher. Harvey:

    Zeitgenössische Berichte, spätere Erinnerungen und Interviews belegen häufig die Begeisterung für die Herausforderungen, die damit verbunden waren. (...) Andere sprechen vom Gefühl, gebraucht zu werden, oder vom Stolz darüber, eine anstrengende Arbeit unter schwierigen Bedingungen vollbracht zu haben.

    Als besonders aufschlussreich erwiesen sich die Gespräche, die Harvey mit 16 Frauen in den neunziger Jahren geführt hat. Ihr Einsatzgebiet war das besetzte Polen. Geboren zwischen 1905 und 1925 machen die Biografien deutlich, wie unterschiedlich das Engagement und der Eifer sowohl der damaligen Mädchen als auch der reifen Frauen war. Über ihre Arbeit im sogenannten "Reichskommissariat Ukraine" etwa erinnerte sich eine Frau:

    "Der Gedanke an meine 21 Kindergärten, die ich mit soviel Liebe und Mühe aufgebaut hatte, stimmte mich (nach dem Rückzug) ernst und nachdenklich."

    Eine andere ist stolz darauf, was sie noch alles geleistet hat, als sie am 20. Januar 1945 aus dem polnischen Warthegau weggeholt und in Sicherheit gebracht wurde.
    "Dieser Tag hielt uns alle in Atem! Das Telefon stand keinen Augenblick still. Um 16.30 Uhr erfuhren wir, dass die sofortige Räumung des westlichen Teils des Warthegaus soeben angeordnet worden wäre. Um 18 Uhr musste abmarschiert werden. Wie es möglich gewesen ist, in dieser kurzen Zwischenzeit die wichtigsten Akten zu verbrennen, das Material zur Mitnahme zu verpacken und die Fahrräder fertigzumachen, das ist mir heute noch unbegreiflich."

    Harvey stellt fest, dass sich die Wahrnehmungen vieler Frauen, die im Osten eingesetzt waren, nach dem Krieg wenig verändert haben. Sie offenbaren vielmehr ein überraschendes Ausmaß an unkritischer und selbstgerechter Haltung. Angesprochen darauf, dass oft in unmittelbarer Nähe zu ihren Einsatzgebieten Vernichtungslager wie Auschwitz und Chelmno lagen, behaupten laut Harvey manche,

    damals wenig vom Schicksal der Polen und Juden gewusst zu haben. Bei einer solchen Behauptung stellt sich die Frage, ob es sich um eine bewusste "Ahnungslosigkeit" gehandelt hat. Andere ließen eine selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrem Handeln erkennen und fragten sich, warum sie damals nicht mehr darüber gewusst hatten, in was sie verstrickt waren.

    Die Professorin Elizabeth Harvey hat wieder einmal ein Beispiel dafür geliefert, wie objektiv, gründlich und verständlich englische Geschichtsforschung ist. Ihr Kollege Christopher Clark hat schon vor drei Jahren mit seiner Preußen-Geschichte aufhorchen lassen. Nun hat auch Mrs. Harvey mit diesem nahezu unbekannten Kapitel der Nazi-Geschichte bewiesen, dass der Blick von außen der Erforschung deutscher Geschichte ausgesprochen gut tut. Dabei bleibt sie stets sachlich, ohne hämische Seitenhiebe, die sie leicht hätte anbringen können; ohne Belehrungen, ohne Verurteilungen. Und sie bezieht ausdrücklich die vielen Tausenden von Österreicherinnen mit ein, die sich nach 1945 wegduckten, und ihr Tun erfolgreich verharmlosten. Das ist klassische britische Fairness. Thank you, Ma'm!

    Das Lob für die englische Geschichtsforschung geht an Elizabeth Harvey, die das Buch geschrieben hat: "Der Osten braucht dich!" - Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik". Es ist in der Hamburger Edition erschienen, kostet 35 Euro und hat 476 Seiten.