Freitag, 29. März 2024

Archiv

UNO-Weltbildungsbericht
"In vielen Staaten wird Geld für andere Dinge ausgegeben"

Bis 2042 wird es voraussichtlich dauern, bis Kinder auf der ganzen Welt Zugang zu Grundschulbildung erhalten - so steht es im neuen UNO-Weltbildungsbericht. Das enttäuschende Ergebnis habe sich abgezeichnet, sagte Walter Hirche, Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, im DLF. In vielen Ländern würden Gelder nicht in die Bildung fließen.

Walter Hirche im Gespräch mit Michael Böddeker | 06.09.2016
    Unterrichtspause in der Grundschule "Talhado School Childrens Haven" in St.Francis Bay - hier lernen viele Kinder aus den umliegenden Townships.
    Kinder der Talhado School Childrens Haven in Südafrika (dpa/picture alliance/Reinhard Kaufhold)
    Michael Böddeker: Zumindest Grundschulbildung für alle Kinder auf der Welt – das war schon Teil der sogenannten Millenniumsziele, die eigentlich möglichst bis 2015 erreicht werden sollten. Das hat nicht geklappt. Dann gab es ab 2016 die "Ziele Nachhaltiger Entwicklung" der Vereinten Nationen. Auch da war wieder die Bildung enthalten, diesmal sogar "inklusive, gerechte und hochwertige Bildung für alle" - bis 2030 sollte das umgesetzt werden.
    Jetzt heißt es im neuen Weltbildungsbericht: Voraussichtlich erst 2042 wird es zumindest Grundschulbildung für alle Kinder geben.
    Mehr darüber weiß Walter Hirche. Er war lange Präsident der deutschen UNESCO-Kommission und er ist Vorsitzender des Fachausschusses Bildung der Deutschen Unesco-Kommission. Ihn habe ich gefragt, woran es liegt, dass es so lange dauert.
    Walter Hirche: Also, man muss sehr nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Voraussetzungen in vielen Staaten nicht geschaffen worden sind. Die Gelder sind in andere Bereiche gesteckt worden und es ist zum Teil auch so, dass man sich in der Vergangenheit darauf verlassen hat, dass bestimmte quantitative Entwicklungen fortgeschrieben würden. Aber wir haben zum Beispiel in afrikanischen Staaten feststellen müssen, dass der Besuch von Schule dann nichts bringt, wenn die Schule nach einem Jahr wieder verlassen wird und nichts fortgeführt wird. Also, inzwischen geht es unter dem Stichwort – deswegen qualitative Bildung – auch darum, nicht nur zu erfassen, ob jemand zur Schule geht, sondern auch, wie lange er dort hingeht oder sie dort hingeht und ob ein bestimmtes Mindestziel erreicht wird. Und da geht es jetzt eben darum: Grundschulbildung heißt in dem Sinne, dass auch vier Jahre durchlaufen werden und nicht jemand mal ein halbes Jahr dort ist. Das wären täuschende Statistiken, das muss man für die Vergangenheit leider sagen. Also, hier ist jetzt mehr Ehrlichkeit gefordert und das bedeutet, dass man auch nüchterner und realistischer an die Dinge herangeht.
    Ziele sind im Bereich Grundschulbildung nicht zu erreichen
    Böddeker: Das heißt, in der Vergangenheit ist nicht so genau kontrolliert worden, was jetzt eigentlich Bildung bedeutet?
    Hirche: Wir haben ein bisschen vielleicht in diesen ganzen Debatten auch mit unserem europäischen Verständnis – nach dem Motto, etwas ist geregelt und dann wird es auch durchgeführt – die Dinge in anderen Teilen der Erde betrachtet. Und dort war man zum Teil froh, wenn man überhaupt äußere, formale Voraussetzungen schaffen konnte, weil das tägliche Überleben immer im Vordergrund stand. Und da werden die Dinge jetzt qualitativ mehr miteinander vernetzt gesehen und die Bildung bekommt endlich vielleicht – auch da muss ich ein gewisses Zögern machen – das Gewicht, das wir uns alle nicht nur erhoffen, sondern das auch laut den Beschlüssen der Vereinten Nationen notwendig ist, um auf der Welt eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Denn ohne Information, die die Menschen sich selber besorgen können, wird das ja nichts mit der Verwirklichung von Zielen.
    Böddeker: Ist das für Sie überraschend, dass es jetzt doch noch so lange dauern wird? Oder hat sich das eigentlich schon abgezeichnet?
    Hirche: Hat sich abgezeichnet, aber es ist ernüchternd. Zwischendurch ist man auch manchmal deprimiert, wenn man diese Zahlen sieht und die Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, weil ja in vielen Staaten Geld ausgegeben wird für ganz andere Dinge. Und dass dieses nicht in den Bereich Bildung fließt, das ist schon eine gewisse Enttäuschung. Insofern glaube ich, dass die Aufnahme von Bildung als eigenständigem Ziel in die sogenannten Entwicklungsziele der Welt bis 2030 eine Chance ist, hier voranzukommen.
    Böddeker: Ist denn das Ziel 2030 überhaupt noch erreichbar? Oder anders gefragt, was müsste passieren, um es noch zu schaffen?
    Hirche: Na ja, es ist konkret im Bereich Grundschulbildung nicht zu erreichen. Das erkennt man aufgrund der jetzigen Daten, wir haben ja eine Hochrechnung vorliegen, die sagt, wenn das so weiterginge, dann werde das vielleicht gut zehn Jahre später der Fall, dass man die Grundschulbildung für alle erreichen kann. Auch das bedarf großer Anstrengungen. Im Grunde müssen wir, wenn wir die Bildungsbemühungen zu dem erhofften Ergebnis bringen wollen, die Budgets versechsfachen. Das ist natürlich unrealistisch, aber die Chance für eine Verdoppelung oder Verdreifachung würde ich in den nächsten Jahren auf jeden Fall sehen.
    "Mädchen und junge Frauen sind in den Entwicklungsländern ganz besonders betroffen"
    Böddeker: Wo auf der Welt und bei wem sieht es besonders schwierig aus, was die Bildung angeht? Sind da zum Beispiel wie so oft besonders Mädchen und junge Frauen betroffen?
    Hirche: Ja, Mädchen und junge Frauen sind in den Entwicklungsländern ganz besonders betroffen. Wir haben, das kann man sagen, nur ein Prozent der ärmsten Mädchen und Frauen in ländlichen Gebieten, die zum Beispiel, na, wir würden sagen, die mittlere Reife machen. Ein Prozent, das ist verdammt wenig und viel zu wenig. Aber die größten Defizite, um das zu sagen, liegen in den Ländern der Subsahara, liegen in Südostasien und in Indien. Das sind drei Gebiete, die weltweit die größten Sorgen machen in dem Zusammenhang. Wobei ich mir vorstellen könnte, dass in den nächsten Jahren aufgrund einer großen Kraftanstrengung insbesondere im asiatischen Raum die Dinge vielleicht neuen Schwung bekommen. Wir müssen uns von Europa aus sehr stark auf die Subsahara konzentrieren und die Bildungsanstrengungen dort unterstützen.
    Böddeker: Was Sie bisher beschrieben haben, klingt alles nicht so gut. Aber gibt es vielleicht auch Fortschritte, die man feststellen kann?
    Hirche: Also, man kann schon feststellen, dass in vielen Staaten die Bemühungen wachsen, etwa Lehrkräfte zu gewinnen und die auch zu qualifizieren. Denn wir wissen, dass es davon abhängt, dass wir ausreichend qualifizierte Lehrkräfte haben. Und es gibt eine Entwicklung, die auch die digitalen Medien sehr in den Vordergrund stellt, weil wir denken, in den Diskussionen, die im Wesentlichen in der UNESCO, in Paris stattfinden, dass wir so schnell gar nicht überall die Fachkräfte finden. Und da digitale Medien einzusetzen, Lernen über Bilder und Entwicklung, das ist ein wichtiger Punkt. Ich freue mich auch sehr, dass ab morgen in Paris die sogenannte globale Aktion für Alphabetisierung wieder tagt. Dort macht man sich Gedanken darüber, was in den nächsten Jahren zusätzlich gemacht werden kann, um diese Alphabetisierung voranzubringen. Und es ist eine Diskussion, die eben nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch mit der Privatwirtschaft geführt wird und mit sämtlichen Institutionen, ob aus dem Arbeitsbereich, Gesundheitsbereich, damit wir hier weiterkommen und nicht diese Spezialistendiskussionen lediglich stattfinden, die wir in der Vergangenheit auch im Bildungsbereich gehabt haben. Hier muss mehr vernetzt gearbeitet werden und zum Beispiel das Interesse der Menschen an der eigenen Gesundheit, an der eigenen Ernährung, das muss mobilisiert werden für mehr Bildung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.