Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Unrecht auf der Teufelsinsel

Die politisch-juristische Affäre um den zu Unrecht verurteilten und auf eine Insel verbannten jüdischen Hauptmann Dreyfus zerriss Frankreich an der Wende zum 20. Jahrhundert regelrecht. Louis Begley stellt den Justizskandal so genau und zugänglich wie kaum je zuvor dar und zieht aktuelle Parallelen zu den US-Gefängnissen in Guantanamo.

Von Martin Ebel | 12.07.2009
    Die Teufelsinsel ist die nördlichste der îles du Salut, die vor der Küste Französisch-Guyanas liegen. Sie ist 14 Hektar groß. Von 1852 bis 1946 hielt der französische Staat hier Schwerverbrecher, aber auch politische Häftlinge fest. Berühmt wurde der Roman "Papillon" von Henri Carrière, der eine spektakuläre, vielleicht bloß erfundene Flucht von der Insel schildert. Der berühmteste Bewohner der Teufelsinsel aber war der Hauptmann Dreyfus. Sein Name ist mit einer politisch-juristischen Affäre verbunden, die Frankreich über Jahre regelrecht zerriss, es an den Rand des Bürgerkriegs brachte und mit einem späten Sieg des Rechts endete. Der Kampf um die Rehabilitierung eines zu Unrecht Verurteilten ist ein frühes Beispiel bürgerschaftlichen Engagements. Die Dreyfus-Affäre ist auch die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen, der sich für Dinge und Menschen einsetzt, die ihn nicht direkt persönlich betreffen, sondern in einem umfassenderen Sinn: insofern nämlich universelle Werte verletzt werden, die für ihn das Fundament eines lebenswerten Gemeinwesens bilden. Diese Denkweise hat ihre Wurzeln letztlich im Christentum, denken wir nur an das Bibelwort: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Auch das Engagement Voltaires in der Affaire Calas, einem entsetzlichen Justizmord, gehört in diese Tradition. Neu und typisch für die modernen Intellektuellen war aber der Einsatz der Öffentlichkeit, die Nutzung der entstehenden Massenmedien, besonders der Zeitungen.

    Der amerikanische Autor Louis Begley benutzt die Dreyfus-Affäre in seinem Buch "Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantanamo, Alptraum der Geschichte" als historischen Reflektor. Mit seiner Hilfe will er den aktuellen juristisch-politischen Skandal seines Landes beleuchten: das Sondergefängnis in der Exklave Guantanamo auf Kuba, wo seit Jahren Hunderte mutmaßlicher Terroristen festgehalten werden, ohne Urteil, ohne Anklage, und unter Bedingungen, die die Grenze zur Folter berühren oder auch überschreiten. Begley beginnt sein Buch mit dem Wahlsieg Barack Obamas und der unmittelbar nach der Amtseinführung angekündigten Schließung des Lagers binnen eines Jahres. Zugleich distanzierte Obama sich von einem weiteren Erbe seines Vorgängers: der Genehmigung von folterähnlichen Befragungstechniken. Die aktuellen Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Häftlingen, denen man nichts nachweisen kann, die aber die USA nicht haben wollen, zeigen, wie schwer mit dem Bush-Erbe umzugehen ist. Begley zitiert eine zentrale Passage aus Obamas Antrittsrede:

    "In der Frage unserer Landesverteidigung weisen wir die Wahl zwischen unserer Sicherheit und unseren Idealen als falsch zurück.

    Unsere Gründungsväter hatten mit Gefahren zu kämpfen, die wir uns kaum vorstellen können, und trotzdem haben sie eine Charta zur Gründung eines Rechtsstaates und zur Sicherung der Menschenrechte entworfen - eine Charta, die mit dem Blut von Generationen weitergeschrieben wurde. Diese Ideale bringen immer noch Licht in die Welt, und wir werden sie nicht aus Gründen bloßer Zweckdienlichkeit aufgeben."

    Neben den USA kann sich Frankreich als Miterfinder der verfassungsmäßig verankerten Menschenrechte preisen. Und doch ist auch in diesem Land ein Fall von schwerem Rechtsbruch geschehen, von der Politik gedeckt und von breiten Kreisen der Bevölkerung unterstützt. Wie war das möglich? Diese Frage interessiert Begley schnell viel mehr als die auf der Hand liegenden Analogien zwischen der Teufelsinsel und Guantanamo. Die Affäre Dreyfus ist zwar vielfach aufgearbeitet; Begleys Darstellung übertrifft aber alle bisherigen, was die juristische Durchdringung, die dramaturgische Aufbereitung, der Nachvollzug der Aktionen der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte und schließlich Stringenz und Eleganz der sprachlichen Umsetzung angeht. Wer wenig über die Affäre weiß, braucht außer Begleys kein weiteres Buch mehr zu lesen, wem die Affäre einigermaßen vertraut ist, der erfährt immer noch eine Menge neuer Details und Zusammenhänge.

    Louis Begley ist vielleicht der ideale Autor für die Dreyfus-Affäre. Als Ludwik Begleiter 1933 in Polen geboren, entging er dem Holocaust nur unter falscher, katholischer Identität. Darüber schrieb er später seinen autobiografischen Roman "Lügen in den Zeiten des Krieges" (1991). Seit diesem Buch gehört er zu den bemerkenswerten literarischen Stimmen der USA, in die er emigriert war. Von Berufs wegen aber ist Begley Jurist:

    Über vier Jahrzehnte arbeitete er in einer großen internationalen Anwaltskanzlei. So sind alle Dimensionen des Dreyfus-Komplexes bei ihm bestens aufgehoben: Die Sensibilität für den Antisemitismus, einer entscheidenden Triebkraft der Affäre; die Kompetenz in der Analyse juristischer Gegebenheiten und Winkelzüge, und die Fähigkeit, auch Trockenes und Komplexes spannend umzusetzen. Seine Darstellung liest sich wie ein Schlachtengemälde im Kino, in dem das Schlachtenglück mal der einen, mal der anderen Seite zuneigt, in dem Siegesgewissheit mit tiefster Verzweiflung abwechselt und in dem heroische Aktionen einzelner Kämpfer das Blatt wenden können.

    Hauptmann Alfred Dreyfus war am 15. Oktober 1894 festgenommen und am 22. Dezember wegen Hochverrats zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.

    Am 5. Januar 1895 wurde er auf dem Hof der Ecole Militaire öffentlich degradiert. Die demütigende Prozedur ist vielfach beschrieben worden, Begley fasst sie so zusammen:

    "Ein riesenhafter Feldwebel der Garde Républicaine riss Dreyfus die Rangabzeichen, Schulterstücke, Knöpfe und Tressen von der Uniform, legte sich das Schwert übers Knie und zerbrach es. Mit seiner zerfetzten Uniform musste der Verurteilte zur "Judasparade" antreten, das heißt, er musste die vier Seiten des weiten quadratischen Hofs abschreiten, die flankiert waren von Soldaten in Habachtstellung aus allen in Paris stationierten Regimentern; immer wieder rief er laut, er sei unschuldig und er liebe Frankreich; außerhalb des Hofs brüllte eine wütende, nur mit Mühe von der Polizei in Schach gehaltene Volksmenge: Tod dem Verräter, Judas, dreckiger Jude."

    Die Todesstrafe war in Frankreich zu der Zeit abgeschafft. Aber auch die Deportation auf die Teufelsinsel mit ihrem extremen Malariaklima kam einem Todesurteil gleich.

    "Auch Dreyfus litt schon bald nach seiner Ankunft - ein paar Monate vor seinem 36. Geburtstag - unter heftigen Malariaanfällen. Er wurde in eine dreieinhalb Mal dreieinhalb Meter große Steinzelle mit zwei vergitterten Fenstern gesperrt. Ihre einzige Tür hatte Sehschlitze, durch die man ungehinderte Sicht ins Innere der Zelle hatte. Dreyfus wurde rund um die Uhr bewacht. Außer dem Häftling und seinen Bewachern lebte niemand auf der Insel, aber er durfte nicht mit ihnen und sie nicht mit ihm sprechen. Das Schweigegebot wurde während der ganzen Zeit seiner Gefangenschaft, vom Frühling 1895 bis zum Sommer 1899, streng eingehalten. Tagsüber war es oft über vierzig Grad warm, aber Dreyfus durfte sich nicht mit Wasser abkühlen."

    Nachdem in einer Zeitung ein falscher Bericht über die Flucht Dreyfus' erschienen war, wurden seine Haftbedingungen noch verschärft:

    "In den nächsten beiden Monaten wurde er jede Nacht mit zwei Fußeisen an den Bettrahmen gefesselt. Er konnte sich nicht bewegen, litt unter der unerträglichen Hitze und wurde von Moskitos, Zugameisen und Seespinnen geplagt. Die Eisen rieben seine Haut wund, sodass sich eiternde Stellen bildeten, die nicht heilten. Ein Militärarzt, der ihn im April 1897 untersuchte, diagnostizierte, dass Dreyfus Schwierigkeiten beim Artikulieren hatte und nur mit Mühe Sätze bilden konnte. Ein anderer Arzt, der ihn im September 1899 ebenfalls im Auftrag der Regierung untersuchte, nannte ihn einen "erledigten Mann"."

    Und dieser Mann war völlig unschuldig. Es dauerte fünf Jahre, bis er freigelassen, und zwölf, bis das Fehlurteil aufgehoben wurde. Dass es überhaupt dazu kam, dass dann derart hartnäckig daran festgehalten wurde, unter Einsatz von gefälschten Dokumenten, gedeckt von höchsten Stellen, das hat für Begley vor allem zwei Gründe. Der eine war die desolate Lage Frankreichs nach dem verlorenen Krieg gegen Preußen 1870/71. Das andere war der Antisemitismus. Der jungen Dritten Republik, auf der zudem noch das Blutbad an der Pariser Commune lastete, fehlte es an Legitimität. Sie wurde von einer Reihe von Finanz- und Korruptionsskandalen erschüttert. Die Armee, die fieberhaft an ihrer Reorganisation arbeitete, um sich die verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen zurückzuholen, genoss ein hohes Ansehen; umso empfindlicher reagierte man auf jede Bedrohung dieses Ansehens. Im Jahr 1873 hatte es bereits eine Spionageaffäre gegeben, bei der ein beliebter Marschall, diesmal zu Recht, verurteilt worden war. Als nun im Herbst 1894 ein Schriftstück auftauchte, das darauf hindeutete, dass ein Mitglied des Generalstabs geheime Informationen, unter anderem über eine neues Artilleriegeschütz, an den deutschen Militärattaché weitergab, schrillten alle Alarmglocken. Dieses Schriftstück, das unter dem Namen "bordereau" berühmt werden sollte, war tatsächlich von einem Spion verfasst worden, einem Major Esterhazy. Das stellte sich aber erst viel später heraus. Die Abteilung Gegenspionage im französischen Generalstab, das sogenannte Nachrichtenbüro, erstellte auf dilettantische Weise ein Täterprofil und kam dann auf den Hauptmann Dreyfus als Verdächtigen. Sie besorgte sich Schriftproben, die dem "bordereau" entfernt ähnelten, und verhaftete Dreyfus. Dabei hätte der Generalstab schon bei der Motivsuche skeptisch werden müssen.

    "Dreyfus war reich, glücklich verheiratet und Vater von zwei kleinen Kindern; er hatte weder Schulden noch Laster; er war Absolvent zweier Eliteschulen, der Ecole Polytechnique und der Ecole Superieure de Guerre, und seine Noten im Abschlusszeugnis der Militärakademie kamen den Spitzenergebnissen so nahe, dass sie ihm den begehrten Ausbildungsplatz beim Generalstab sicherten. Nichts stand seinem Aufstieg bis zum Generalsrang im Weg. Warum sollte dieser Mann Geheimdokumente an den deutschen Militärattaché verschachern? Darauf gab es nur eine Antwort: weil er Jude war."

    Der Antisemitismus hatte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an Schärfe zugenommen. Edouard Drumonts Pamphlet "La France Juive" von 1886 erlebte 100 Auflagen, und mehrere Zeitschriften versuchten sich in der Entlarvung angeblicher jüdischer Verschwörungen zu übertreffen. Sie schwadronierten von einem "Syndikat", das die Herrschaft in Frankreich an sich reißen wollte. Dem Generalstab war ein jüdischer Verräter am liebsten: Dann war das nach ihrer Meinung kein echter Franzose und die Ehre der Armee nicht wirklich befleckt. Nun war Frankreich ein Rechtsstaat, anders als noch zu Voltaires Zeiten. Aber wie auch in einem Rechtsstaat himmelschreiendes Unrecht zustande kommt, zeigt gerade der Umgang mit diesem "idealen Verdächtigen". Die Schriftähnlichkeit war ein schwaches Indiz, sie wurde von den befragten Experten unterschiedlich beurteilt. Dreyfus beteuerte seine Unschuld. Das half alles nichts. Generalstabschef Boisdeffre, eine der finstersten Gestalten der Affäre, fuhr einen Untergebenen an:

    "Wir sind zu weit vorgeprescht, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Dreyfus ist ein Schwein, er verdient das Erschießungskommando.

    Machen Sie Ihre Arbeit weiter, kümmern Sie sich nicht um die Folgen und maulen sie nicht."

    Die Arbeit: Das war die Zusammenstellung eines Geheimdossiers mit teilweise "frisierten" Dokumenten, die Dreyfus' Schuld belegen sollten.

    Dieses Dossier wurde mitten im Prozess vom Kriegsminister dem Gericht vorgelegt, nicht aber der Verteidigung. So kam zum Verbrechen der Fälschung ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften; der ganze Prozess war schon deshalb rechtlich nicht haltbar. Das Urteil erging dennoch, weil die Militärrichter dem Dossier glaubten, seine Geheimhaltung aus Gründen des Staatsschutzes aufrecht hielten - und auch weil Dreyfus eine bequeme Lösung darstellte. Zu dem Druck der Armeespitze kam auch der Druck der Straße und der antisemitischen Presse. Aber von der Presse, einer anders orientierten Presse natürlich, kam auch der Gegendruck.

    Während der Generalstab weiter vertuschte und neue Fälschungen produzierte, um die Schuld Dreyfus' zu belegen - sogar noch, als der wirkliche Spion, Major Esterhazy, enttarnt war -, waren es vor allem mutige Journalisten, die nicht locker ließen, das Netz aus Lügen und Vorurteilen zu zerreißen: mit Informationen, die schwierig zu beschaffen waren und zum Teil nur durch Zufall an sie gelangten.

    Der unermüdlichste Kämpfer für Alfred Dreyfus war sein Bruder Mathieu.

    Er gab seine Position im Familienunternehmen auf, um sich ganz dem Kampf um einen neuen Prozess zu widmen. Erste Unterstützer waren der Gefängnisdirektor Forzinetti, den Dreyfus' Haltung während der Untersuchungshaft vollkommen von seiner Unschuld überzeugt hatte, der Arzt Gibert, der vom Staatspräsidenten von der Existenz des Geheimdossiers erfahren hatte, und der Journalist Bernard Lazare, der eine Broschüre mit allen entlastenden Indizien verfasste und ihr große Verbreitung verschaffte.

    Fortan ging es hin und her: Die Armeeführung versuchte eine Revision des Urteils zu verhindern, die wachsende Gruppe derer, die an Dreyfus'

    Unschuld glaubte, strebte genau diese Revision an. In der Öffentlichkeit bekämpften sich "dreyfusards" und "antidreyfusards" mit zunehmender Heftigkeit; bald standen sich nicht mehr soziologisch und politisch klar definierte Lager gegenüber; der Riss ging durch die Milieus, ja durch ganze Familien. So sprach Adrien Proust, der Vater des berühmten Romanciers, wochenlang nicht mit seinen Söhnen, die an die Unschuld von Dreyfus glaubten; Marcel Proust selbst hat in seiner "Recherche" minutiös die gesellschaftlichen Verwerfungen der Affäre beschrieben.

    Louis Begley erklärt die politischen und juristischen Initiativen äußerst detailfreudig, aber immer gut nachvollziehbar. Immer wieder sah es so aus, als ob jenes Lager, das die Ehre der Armee über das Leben eines Einzelnen und damit auch über das Recht selbst stellte, endgültig gesiegt hätte. Aber gerade in Momenten tiefster Niedergeschlagenheit fanden sich neue Unterstützer, die dem Dreyfus-Lager neue Kraft, neue Hoffnung zuführten. Der wichtigste war sicherlich Oberst Picquart, der neue Chef des Nachrichtenbüros. Er war ein Karriereoffizier, äußerst patriotisch und nicht ohne einen antisemitischen Einschlag, aber redlich und mutig. Als er in seiner Abteilung das Geheimdossier entdeckte und überdies ein Brief des wahren Spions Esterhazy auftauchte, dessen Schrift mit der des "bordereau" identisch war, wusste er, was zu tun ist. Es kommt zu einem bezeichnenden Auftritt bei seinem Vorgesetzten, General Gonse. Dieser schleudert ihm entgegen:

    "Was kümmert es Sie, ob der Jude auf der Teufelsinsel verrottet?"

    Und weist ihn an, alle seine Erkenntnisse für sich zu behalten, um die Armee zu schützen. Picquart antwortet:

    "General, was Sie da sagen, ist abscheulich. Dieses Geheimnis werde ich auf keinen Fall mit ins Grab nehmen."

    Picquart ist, natürlich neben Dreyfus, dem Opfer und Dulder, ein eigentlicher Held der Affäre. Er setzt sich mitten in der Höhle des Löwen für das Recht und die Rehabilitierung des Unschuldigen ein. Dafür gerät er selbst ins Visier seiner Vorgesetzten und Untergebenen. Diese fälschen nicht nur neue Beweise gegen Dreyfus, das sogenannte "faux Henry", sondern auch Briefe, die die Verwicklung Picquarts in die Affäre, also seinen eigenen Verrat, suggerieren. Picquart wird erst versetzt, dann inhaftiert und aus der Armee ausgeschlossen. Er lässt sich aber nicht beirren, erhebt selbst Anklage, und erhält wachsende publizistische Unterstützung. Die prominenteste Stimme kommt von Emile Zola, dem Romancier. Er attackiert in einer Artikelserie die Verfehlungen von Armee, Regierung und Justiz. Erst im "Figaro", dann, als der nach Boykottdrohungen keine Bühne mehr sein mag, in Clemenceaus Zeitung L'Aurore. Dort erschien am 13. Januar 1898 jener berühmte offene Brief an den Staatspräsidenten mit dem in riesengroßen Lettern gedruckten Anfang "J'accuse", ich klage an. "Zolas Mut ist nicht hoch genug einzuschätzen", schreibt Begley; er wurde seinerseits wegen Verleumdung verurteilt, musste nach England fliehen und starb nach seiner Rückkehr, aber noch vor dem Abschluss der Affäre, an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Bis heute ist nicht erwiesen und nicht widerlegt, dass Antidreyfusards seinen Schornstein verstopft haben - das wäre ein perfider politischer Mord.

    Dreyfus' Verfahren wurde erst wieder aufgenommen, als die Fälschungen des Generalstabs ans Licht kamen und der Hauptschuldige Selbstmord beging. Bis zur endgültigen Rehabilitierung vergingen dann noch einmal acht Jahre! In diesen wurde Frankreich antisemitischer, seine politische Kultur gewalttätiger.

    "Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Zolas "J'accuse" kam es in buchstäblich allen französischen Städten zu antijüdischen Aufständen. Nicht nur wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen überfallen und verwüstet, sondern auch Juden auf offener Straße angegriffen. Die Polizei war offenbar entweder unfähig oder machte gemeinsame Sache mit den Aufrührern. In Nantes schlossen sich Berichten zufolge Soldaten der Demonstration an, und in Bordeaux kam es in der Umgebung der Synagoge zu offenen Kämpfen. Besonders blutig waren die Krawalle in Algerien, wo die Polizei tagelang nicht einschritt und mehrere Menschen totgeprügelt wurden; was dort geschah, kann man nur als Pogrom bezeichnen","

    zitiert Begley den Historiker Michael Marrus. Den Antisemitismus während der Dreyfus-Affäre vergleicht Begley mit den Vorurteilen der heutigen Amerikaner gegen Moslems. Die Verstöße gegen Recht und Gesetz im Frankreich der III. Republik vergleicht er wiederum mit dem, was die Bush-Regierung der amerikanischen Verfassung antat: Sie lagerte die Guantanamo-Häftlinge sozusagen aus der amerikanischen Rechtsprechung und ihrer Garantie minimaler Menschenrechte aus. Auch die Haftbedingungen der mutmaßlichen Terroristen wecken in Louis Begley düstere Erinnerungen an Dreyfus' Zelle auf der Teufelsinsel. Aber wie es Helden in der Dreyfus-Affäre gab, so auch im Kampf gegen das Sonderlager von Guantanamo. Begley zählt dazu Journalisten, die den Machtmissbrauch der Bush-Regierung offen legen; Mitglieder der Bundesgerichte, die gegen Rechtsverletzungen kämpfen; Militäranwälte, die gegen ungesetzliche Verhörmethoden angehen; zivile Anwälte, die für eine wirksame Verteidigung der Häftlinge sorgen. Sie alle, schließt Begley pathetisch,

    ""Sie retten die Ehre der Nation."

    Louis Begley: Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Suhrkamp, Frankfurt 2009. 248 S., 19.80 Euro