"Das ist hier das Renthe-Fink-Haus. Da war ich das erste Mal 1949, 1950. Das ist alles noch original, die Mauer und der Zaun, das ist alles noch geblieben."
Jürgen Beverfördern wurde 1944 als uneheliches Kind geboren. Wer sein Vater war, weiß er bis heute nicht. Seine Mutter arbeitete als Haushaltshilfe in einer vornehmen Familie. Sie verriet niemandem, was dort geschehen war, kassierte ein Schweigegeld und steckte den Säugling ins Heim. Heute beherbergt das ehemalige Waisenhaus der evangelisch-lutherischen Kirche das Gerontopsychiatrische Zentrum des Ameos-Klinikums in Osnabrück.
"Das war der Jungen-Schlafsaal hier unten, der große. Da waren so 40 Betten. Anfangs hatten wir Strohsäcke gehabt, die lagen auf der Erde, hinterher haben sie Doppelstockbetten bekommen aus alten Wehrmachtsbeständen. Und hier unten waren die Heizungsräume, und daneben im Keller waren die Waschräume, da wurde geduscht, Schweine geschlachtet und da wurde Prügel ausgeteilt. Wer hart bestraft wurde, kriegte da unten die Prügel mit dem Gummikabel. Das machte der Hausmeister."
Jürgen Beverförden wohnt nicht weit entfernt von hier, gelegentlich kehrt er an den Ort zurück, an dem er damals abgeliefert wurde. Freiwillige Erziehungshilfe nannte man das, was ihm dort widerfahren ist. Die andere Variante war die Fürsorgeerziehung:
Freiwillige Erziehungshilfe konnten Eltern von sich aus oder auch auf Druck von Polizei oder Jugendämtern selbst in Anspruch nehmen. Gründe dafür: Sie wurden mit den Kindern nicht fertig, ein Kind stand einer neuen Partnerschaft im Wege, es fehlte an Geld, an ausreichendem Wohnraum. Fürsorgeerziehung wurde von Amts wegen verordnet. Drohende Verwahrlosung war meist der Grund, was immer darunter auch verstanden wurde: lange Haare, das Hören von lauter Musik, Herumtreiberei oder kleine Gaunereien. Oft waren die Kinder einfach irgendeinem im Wege und sollten weg. Zwischen 700.000 und 800.000 Kinder und Jugendliche – Zöglinge wurden sie genannt – waren nach Schätzungen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in kirchlichen, privaten oder staatlichen Heimen.
"Wenn du nicht spurst, kommst du ins Heim" – diese bis in die 70er-Jahre im allgemeinen Sprachschatz verankerte Drohung gegen ungezogene Kinder macht zumindest eines deutlich: Es war bekannt, dass dort strenge Zucht und Ordnung herrschte.
"Es gibt so schlimme Erinnerungen an meine Zeit. Angebunden war ich als kleines Kind, dann war ich Bettnässer und bekam die Laken um die Ohren geschlagen, ich hab so viele Sachen, die kommen immer wieder hoch. Diese Jahre im Heim, die sind so prägend gewesen, das vergisst du nie. Und die Psychologin jetzt in der Klinik, die hat ruckzuck gemerkt, dass ich ... diese Traumata ... noch nicht überwunden habe. ... Das ist so. Und ich habe viele erlebt, denen es ähnlich geht. ... Wenn du einen schönen Aufenthalt im Heim gehabt hättest, und das wären liebevolle Menschen gewesen, die dich mal in den Arm genommen hätten oder irgendetwas. Aber wenn das Prinzip Härte und Disziplin und, und, und ... vorherrscht, ... ja."
War das eben einfach so damals? Entsprach das dem Zeitgeist? Handelte es sich bei Schlägen, Demütigungen oder Freiheitsentzug um einzelne Rechtsverletzungen, die heute verjährt sind, für deren Folgen es niemanden mehr gibt, den man zur Rechenschaft ziehen kann? Oder wurden von der Einweisung ins Heim bis zur Entlassung, in einer Kette von den Vormundschaftsgerichten bis zur Heimaufsicht, auch damals gültige Rechte der Heimkinder verletzt?
Wie die Heimerziehung in der Bundesrepublik bis in die 70er-Jahre funktionierte, sollte ein vom Deutschen Bundestag eingesetzter Runder Tisch Heimerziehung untersuchen. Zuvor hatte sich der Petitionsausschuss mit dem Thema beschäftigt, im Dezember 2008 wurde die ehemalige Vizepräsidentin des Parlaments, Antje Vollmer, gebeten, den Runden Tisch zu leiten. Im Februar 2009 traf er sich zum ersten Mal. Antje Vollmer damals über ihre Aufgabe:
"Ich nenne diesen Runden Tisch eine kleine Wahrheitskommission. Das ist ein großer Name, aber das Ähnliche zu der Wahrheitskommission, die es mal in Südafrika gegeben hat, ist, dass man alle Beteiligten mit ihren Gesichtspunkten an einem Tisch braucht, um an einer Lösung zu arbeiten. Das heißt, wir müssen die Bereitschaft von allen Seiten haben, sich das anzugucken, wahrhaftig anzugucken, was damals gewesen ist."
Eine gemeinsame Wahrheit aber hat der Runde Tisch in zwei Jahren nicht gefunden. Gestern drohten die Vertreter der ehemaligen Heimkinder sogar damit, den Runden Tisch zu verlassen. Bis zuletzt wurde um Worte und viel Geld gestritten.
An diesem Runden Tisch sitzen Vertreter aller an der Heimerziehung beteiligten Gruppen: Bund, Länder und Kommunen, kirchliche und freie Träger der Heime, die Justiz, drei ehemalige Heimkinder, die Heimaufsicht, eine Vertreterin des Bundestags, wissenschaftliche Einrichtungen. Dem Gremium liegen Forschungsexpertisen vor, es hat Heime besucht, sich immer wieder mit den konkreten Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder auseinandergesetzt. Schon die Liste der möglichen Rechtsverstöße bei der Einweisung ins Heim umfasst zehn Punkte. Oft war diese Einweisung einfach unangemessen, Prüfungs- und Begründungspflichten wurden verletzt, richterliche Entscheidungen umgangen. Die Auswahl der Heime orientierte sich nicht an den Interessen der Kinder.
Heimzöglinge waren dann schutzlos einem System ausgeliefert, in dem sie für kleine Verfehlungen drakonisch bestraft wurden, in dem sie keine Bildungschancen hatten, um ihre Zukunftschancen beraubt und oft fürs ganze Leben traumatisiert wurden. Sie wurden in Arrestzellen weggesperrt, Post wurde unterschlagen, sie hatten sich restlos einzufügen. Sie wurden mit Psychopharmaka ruhig gestellt, gedemütigt und missbraucht. Arbeit diente nicht nur pädagogischen Zwecken, sie wurde Kindern abverlangt, um die Heime überhaupt zu finanzieren. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Obwohl das alles heute bekannt ist, tut sich der Runde Tisch schwer damit, dieses System klar zu benennen. Marlene Rupprecht, als Mitglied des Bundestags am Runden Tisch:
"Wenn jemand weggesperrt wird, gedemütigt wird, missbraucht wird, dann ist das eine Menschenrechtsverletzung. Der hat ein Menschenrecht auf Integrität. Die Frage ist nur die: Gegen wen richtet sich meine Klage? Und das ist nicht immer klar auszumachen. Weil die Täter nicht immer klar fassbar sind und die Nachfolger dieser Täter auch nicht immer klar definierbar sind. Das ist das Problem bei einzelnen Fällen."
Kritiker nennen das eine Sprache des Ungefähren. Es gab Mängel, Verantwortliche und Täter, aber:
"es war kein Unrechtssystem."
"Die Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren war kein Unrechtssystem. Aber es gab auch nicht nur Einzelfälle."
Auf diese Formel bringt auch Mario Junglas das Problem. Junglas vertritt den Caritasverband am Runden Tisch.
"Es ist nicht möglich zu sagen, der Zeitgeist war eben so. Denn das war der Anspruch, den wir eigentlich immer an uns selbst hatten, dass wir auch einem negativen Zeitgeist Widerstand leisten. Und das ist auch in den 50er- und 60er-Jahren immer wieder gelungen. Wir haben in den 50er- und 60er-Jahren auch Heime, die eine sehr moderne Pädagogik verfolgt haben. Umso schmerzlicher ist, dass wir auf der anderen Seite feststellen müssen, dass wir unserem selbst gestellten Anspruch an vielen Stellen nicht gerecht geworden sind."
Manfred Kappeler war in den 60er-Jahren in der Heimerziehung tätig. Heute gehört der emeritierte Professor für Sozialpädagogik zu jenen, die die ehemaligen Heimkinder beraten. Er schüttelt über diese Argumentation nur den Kopf:
"Ich würde sagen, man müsste das umgedreht werten. Die Tatsache, dass es einige wenige Einrichtungen gab, ich selbst habe in den 60er-Jahren zwei von ihnen entwickelt und eine davon geleitet, hat gezeigt, dass es auch anders gegangen wäre und die Alternativen bekannt waren."
Die ehemaligen Heimkinder haben lange geschwiegen, weil sie sich schämten, im Heim gewesen zu sein, weil sie das Erlebte verdrängt, tief im Unterbewusstsein eingekapselt haben. Ihre Petitionen an den Bundestag und ihr Auftreten am Runden Tisch waren mit klaren Forderungen verbunden:
Das Unrecht, das sie erlitten haben, soll als Grund- und Menschenrechtsverletzung anerkannt werden. Bund, Länder und Kirchen sollen sich entschuldigen, unrechtmäßige Einweisungsbeschlüsse sollen zurückgenommen werden. Die Kinder- und Zwangsarbeit, die viele geleistet haben, soll als solche anerkannt werden und wenigstens in die Rentenberechnung einfließen. Akten sollen gesichert und zugänglich gemacht werden, damit sie weiße Flecken in ihrer Biografie erforschen können: wer ihre Eltern waren, warum sie ins Heim gekommen sind oder wie dort über sie verfügt wurde. Unabhängige Anlaufstellen sollen sie in allen rechtlichen und sozialen Fragen beraten. Traumatherapien sollen ohne lange Begutachtungen bezahlt werden, weil so ein Verfahren nur alte Wunden wieder aufreißen und alles noch schlimmer machen würde. Die Jahre im Heim, fehlende Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen sollen darüber hinaus mit einer Rente von bis zu 300 Euro monatlich oder einer Einmalzahlung in Höhe von 54.000 Euro entschädigt werden. Fachleute rechnen mit etwa 60.000 Antragsstellern. 3,5 Milliarden Euro würde das kosten.
Auch zu diesen Forderungen soll der Runde Tisch Stellung nehmen und Vorschläge unterbreiten, wie den Betroffenen heute noch geholfen werden kann.
"Runder Tisch Heimerziehung vor dem Scheitern”
So berichtete schon vor fünf Wochen der Berliner Tagesspiegel. "Die Opfer fühlen sich betrogen”, heißt es. Denn einerseits steht im Entwurf für den Abschlussbericht des Runden Tisches ausdrücklich, dass man den Heimkindern glaubt. Man glaubt ihren Berichten, auch den Arbeiten, die mittlerweile über einzelne Heime entstanden sind, aber man zögert bei den Konsequenzen. Manfred Kappeler:
"An allen entscheidenden Punkten, wo es um harte Fakten und mögliche Entschädigungsansprüche geht, wird dieses 'Wir glauben, was ihr sagt' verweigert."
Der emeritierte Professor für Sozialpädagogik hat den Entwurf des Abschlussberichts einer ausführlichen Kritik unterzogen. Als nur ein Beispiel für die "Entwirklichung der Erfahrungen”, wie er es bezeichnet, nennt er den Medikamentenmissbrauch, um Kinder ruhig zu stellen. Dazu heiße es im Entwurf:
"Dieser Punkt sei berichtet worden von ehemaligen Heimkindern, aber da dazu keine hinreichende Forschung zur Verfügung stünde, könne dazu keine Aussage gemacht werden. Und die Frage der Glaubwürdigkeit entscheidet sich doch genau an solchen Punkten, wo es keine andere Erkenntnisquellen gibt."
"Elementare Grundsätze der Verfassung wie des Rechtsstaatsprinzips, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körperliche Integrität fanden keine Beachtung und Anwendung."
So hieß es noch im zweiten Entwurf des Berichts. Im dritten Entwurf wird die Aussage deutlich abgeschwächt: Sie fanden, so heißt es jetzt
"bei weitem zu wenig Beachtung und Anwendung."
An anderen Stellen geht es um eine mögliche symbolische oder materielle Anerkennung und Rehabilitation der Opfer. Das heißt: Bund und Länder müssten möglicherweise zahlen. Auf Verlangen der Länder sollen deshalb die Worte "materielle Leistungen” und "finanziell” an dieser Stelle im Bericht gestrichen werden.
Die Kirchen haben bereits signalisiert, dass sie zu finanziellen Leistungen bereit sind. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider sagte dies im Spiegel vom 15. November. Auch Mario Junglas vom Caritasverband erklärt:
"Also zum einen wäre die Vorstellung naiv, dass ernsthafte Hilfe kostenlos zu haben wäre. Natürlich müssen dafür Mittel zur Verfügung gestellt werden. Auf der anderen Seite halten wir aber aus gutem Grund fest an der Verantwortungskette, weil wir alle Kräfte mobilisieren wollen, damit ein möglichst umfassendes Hilfekonzept zustande kommt für die ehemaligen Heimkinder."
Verantwortungskette, dieser Begriff meint alle beteiligten Instanzen vom Einweisungsbeschluss bis zur Heimaufsicht. Aber keine macht konkrete Zusagen. Gerade die Länder reagieren besonders sensibel, wenn sie mit dem Begriff "Unrecht” und möglichen Forderungen konfrontiert werden, denn die Heimaufsicht lag seit 1961 bei ihnen. Antje Vollmer in der vergangenen Woche:
"Wir hatten von Anfang an die Idee, mit dem Runden Tisch alle Schritte gemeinsam zu gehen, auch damit nicht einer auf halbem Wege rausspringt und sagt: Ich will aber nicht die Konsequenzen tragen. Einer der ersten Meilensteine war zu sagen: Es gab ein System Heimerziehung. Und in dem System gab es viele Verantwortliche, das ist der zweite Punkt: Es gab eine gemeinsame Verantwortung. Es kann sich nicht eine einzelne Institution oder ein einzelnes Land oder eine Ländergemeinschaft aus dieser Verantwortung ausklinken."
"Die Weigerung, das System Heimerziehung als ein Unrechtssystem zu klassifizieren, hat auch sofort Folgen, weil jetzt in den Entwürfen für den Abschlussbericht deutlich gesagt wird: Wenn die Heimerziehung ein Unrechtssystem gewesen wäre, dann hätten die ehemaligen Heimkinder auch einen Anspruch auf eine pauschale finanzielle Entschädigung. Man muss es aber umgekehrt sagen: Es darf die Qualifizierung nicht geben, damit kein Anspruch entsteht. Also, es kann nicht sein, was nicht sein darf."
Bedauern, eine Entschuldigung für erlittenes Unrecht kosten nichts. Der Bundestag und auch Kirchenvertreter haben sich entsprechend geäußert. Aber was dürfen die ehemaligen Heimkinder darüber hinaus erwarten? Welche Lösungsvorschläge hält der Runde Tisch am Ende für sie bereit? Marlene Rupprecht noch einmal zu den Voraussetzungen:
"Rechte hatten sie alle. Sie konnten sie nur nicht wahrnehmen. Das Recht ist ihnen formal nie genommen worden, aber sie waren ohnmächtig ausgeliefert den Menschen, die sie daran gehindert haben, das Recht wahrzunehmen."
Darum geht es. Nicht die Realität zählt, sondern die formale Logik. Die Mehrheit des Runden Tisches setzt bei den Vorschlägen zu Hilfen für die ehemaligen Heimkinder deshalb nicht am erlittenen Unrecht an, sondern an den heute noch feststellbaren Folgeschäden. Eine generelle Entschädigung, eine Opferente für erlittenes Unrecht, für die im Heim zu Bruch gegangene Lebenschancen, soll es nicht geben.
Einigkeit aber besteht, dass Anlauf- und Beratungsstellen geschaffen werden, die den Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ob diese unabhängig sind oder bei den Ländern angesiedelt werden, bei den Behörden also, denen das ganze Misstrauen der Betroffenen gilt, bleibt offen. Die ehemaligen Heimkinder haben dies gestern noch einmal ausdrücklich gefordert.
Auch zwei Fonds sollen eingerichtet werden: Ein Rentenfonds und ein Traumatisiertenfonds: Sie sollen – allerdings nur in begründeten Einzelfällen – Renten für im Heim absolvierte Arbeiten zahlen oder Kosten für Therapien, Rechtsberatung oder andere Hilfen übernehmen. Die ehemaligen Heimkinder sollen belegen oder glaubhaft machen, dass sie unter Folgeschäden der Heimerziehung leiden, am besten sogar eine Stellungnahme der Einrichtung oder ihrer Nachfolger vorlegen.
Vor allem soll bei beiden Fonds das Prinzip der Nachrangigkeit gelten: Erst sind die Rentenversicherer dran. Therapien sollen nur gezahlt werden, wenn die Krankenkassen sich weigern, bei anderen Leistungen muss Bedürftigkeit nachgewiesen werden, daher geht der erste Gang zum Sozialamt. Über diese Nachrangigkeit wurde heute bis zuletzt gestritten.
Die Hürden sind also hoch und die Hilfen dürftig. Von 120 Millionen Euro ist die Rede, Bund, Länder und Kirchen sollen sich je mit einem Drittel beteiligen. Die Opfer der Heimerziehung hatten als Entschädigung eine monatliche Rente in Höhe von 300 Euro oder einmalig 54.000 EUR gefordert. Sie fühlen sich abgespeist.
Antje Vollmer erinnerte noch vor der letzten Sitzung daran, dass das Gefeilsche um Begriffe nicht auf Kosten der Opfer gehen dürfe. Sie verweist auf NS-Unrecht und Stasi-Unrecht.
"Da kann man sagen, das ist ja vorbei. Wir tun was für die, aber es ist ja vorbei. Die Wahrheit ist, dass in einem Rechtsstaat das Unrecht in dem Moment, in dem es passiert, bekämpft werden muss. Und das war die große Lebenslüge. Es gab damals zu wenig Demokraten, die hatten keinen Anwalt, deren Rechte wurden nicht anerkannt, die hatten keinen Rückhalt. Da haben relativ viele weggeguckt. Und jetzt ist die Frage: Findet sich der Rechtsstaat bereit, weil er damals generell und in seinen verantwortlichen Institutionen, das Recht von denen nicht verteidigt und bewahrt hat, ihnen nachträglich darauf eine Antwort zu geben, die nicht nur ein paar schöne Worte sind."
Jürgen Beverförden hat als Vertreter der ehemaligen Heimkinder an Sitzungen des Runden Tischs und an Arbeitsgruppen teilgenommen.
"Aufklärung und Sachbücher gibt es genug, Expertisen, die schildern, was gewesen ist. Man muss jetzt nur daraus die Konsequenzen ziehen und eine politische Entscheidung muss kommen."
Ihn und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter kann nur trösten, dass das Gremium nichts entscheiden, sondern nur Empfehlungen aussprechen kann.
"Die politische Entscheidung fällt im Bundestag, im Parlament und sonst nirgendwo. Wir appellieren an die Abgeordneten des Bundestags, jetzt zu entscheiden. Die Menschen werden immer älter und wir wollen unbedingt, dass die Heimkinder noch die Entschuldigung und Entschädigung des Staats erfahren."
Jürgen Beverfördern wurde 1944 als uneheliches Kind geboren. Wer sein Vater war, weiß er bis heute nicht. Seine Mutter arbeitete als Haushaltshilfe in einer vornehmen Familie. Sie verriet niemandem, was dort geschehen war, kassierte ein Schweigegeld und steckte den Säugling ins Heim. Heute beherbergt das ehemalige Waisenhaus der evangelisch-lutherischen Kirche das Gerontopsychiatrische Zentrum des Ameos-Klinikums in Osnabrück.
"Das war der Jungen-Schlafsaal hier unten, der große. Da waren so 40 Betten. Anfangs hatten wir Strohsäcke gehabt, die lagen auf der Erde, hinterher haben sie Doppelstockbetten bekommen aus alten Wehrmachtsbeständen. Und hier unten waren die Heizungsräume, und daneben im Keller waren die Waschräume, da wurde geduscht, Schweine geschlachtet und da wurde Prügel ausgeteilt. Wer hart bestraft wurde, kriegte da unten die Prügel mit dem Gummikabel. Das machte der Hausmeister."
Jürgen Beverförden wohnt nicht weit entfernt von hier, gelegentlich kehrt er an den Ort zurück, an dem er damals abgeliefert wurde. Freiwillige Erziehungshilfe nannte man das, was ihm dort widerfahren ist. Die andere Variante war die Fürsorgeerziehung:
Freiwillige Erziehungshilfe konnten Eltern von sich aus oder auch auf Druck von Polizei oder Jugendämtern selbst in Anspruch nehmen. Gründe dafür: Sie wurden mit den Kindern nicht fertig, ein Kind stand einer neuen Partnerschaft im Wege, es fehlte an Geld, an ausreichendem Wohnraum. Fürsorgeerziehung wurde von Amts wegen verordnet. Drohende Verwahrlosung war meist der Grund, was immer darunter auch verstanden wurde: lange Haare, das Hören von lauter Musik, Herumtreiberei oder kleine Gaunereien. Oft waren die Kinder einfach irgendeinem im Wege und sollten weg. Zwischen 700.000 und 800.000 Kinder und Jugendliche – Zöglinge wurden sie genannt – waren nach Schätzungen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren in kirchlichen, privaten oder staatlichen Heimen.
"Wenn du nicht spurst, kommst du ins Heim" – diese bis in die 70er-Jahre im allgemeinen Sprachschatz verankerte Drohung gegen ungezogene Kinder macht zumindest eines deutlich: Es war bekannt, dass dort strenge Zucht und Ordnung herrschte.
"Es gibt so schlimme Erinnerungen an meine Zeit. Angebunden war ich als kleines Kind, dann war ich Bettnässer und bekam die Laken um die Ohren geschlagen, ich hab so viele Sachen, die kommen immer wieder hoch. Diese Jahre im Heim, die sind so prägend gewesen, das vergisst du nie. Und die Psychologin jetzt in der Klinik, die hat ruckzuck gemerkt, dass ich ... diese Traumata ... noch nicht überwunden habe. ... Das ist so. Und ich habe viele erlebt, denen es ähnlich geht. ... Wenn du einen schönen Aufenthalt im Heim gehabt hättest, und das wären liebevolle Menschen gewesen, die dich mal in den Arm genommen hätten oder irgendetwas. Aber wenn das Prinzip Härte und Disziplin und, und, und ... vorherrscht, ... ja."
War das eben einfach so damals? Entsprach das dem Zeitgeist? Handelte es sich bei Schlägen, Demütigungen oder Freiheitsentzug um einzelne Rechtsverletzungen, die heute verjährt sind, für deren Folgen es niemanden mehr gibt, den man zur Rechenschaft ziehen kann? Oder wurden von der Einweisung ins Heim bis zur Entlassung, in einer Kette von den Vormundschaftsgerichten bis zur Heimaufsicht, auch damals gültige Rechte der Heimkinder verletzt?
Wie die Heimerziehung in der Bundesrepublik bis in die 70er-Jahre funktionierte, sollte ein vom Deutschen Bundestag eingesetzter Runder Tisch Heimerziehung untersuchen. Zuvor hatte sich der Petitionsausschuss mit dem Thema beschäftigt, im Dezember 2008 wurde die ehemalige Vizepräsidentin des Parlaments, Antje Vollmer, gebeten, den Runden Tisch zu leiten. Im Februar 2009 traf er sich zum ersten Mal. Antje Vollmer damals über ihre Aufgabe:
"Ich nenne diesen Runden Tisch eine kleine Wahrheitskommission. Das ist ein großer Name, aber das Ähnliche zu der Wahrheitskommission, die es mal in Südafrika gegeben hat, ist, dass man alle Beteiligten mit ihren Gesichtspunkten an einem Tisch braucht, um an einer Lösung zu arbeiten. Das heißt, wir müssen die Bereitschaft von allen Seiten haben, sich das anzugucken, wahrhaftig anzugucken, was damals gewesen ist."
Eine gemeinsame Wahrheit aber hat der Runde Tisch in zwei Jahren nicht gefunden. Gestern drohten die Vertreter der ehemaligen Heimkinder sogar damit, den Runden Tisch zu verlassen. Bis zuletzt wurde um Worte und viel Geld gestritten.
An diesem Runden Tisch sitzen Vertreter aller an der Heimerziehung beteiligten Gruppen: Bund, Länder und Kommunen, kirchliche und freie Träger der Heime, die Justiz, drei ehemalige Heimkinder, die Heimaufsicht, eine Vertreterin des Bundestags, wissenschaftliche Einrichtungen. Dem Gremium liegen Forschungsexpertisen vor, es hat Heime besucht, sich immer wieder mit den konkreten Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder auseinandergesetzt. Schon die Liste der möglichen Rechtsverstöße bei der Einweisung ins Heim umfasst zehn Punkte. Oft war diese Einweisung einfach unangemessen, Prüfungs- und Begründungspflichten wurden verletzt, richterliche Entscheidungen umgangen. Die Auswahl der Heime orientierte sich nicht an den Interessen der Kinder.
Heimzöglinge waren dann schutzlos einem System ausgeliefert, in dem sie für kleine Verfehlungen drakonisch bestraft wurden, in dem sie keine Bildungschancen hatten, um ihre Zukunftschancen beraubt und oft fürs ganze Leben traumatisiert wurden. Sie wurden in Arrestzellen weggesperrt, Post wurde unterschlagen, sie hatten sich restlos einzufügen. Sie wurden mit Psychopharmaka ruhig gestellt, gedemütigt und missbraucht. Arbeit diente nicht nur pädagogischen Zwecken, sie wurde Kindern abverlangt, um die Heime überhaupt zu finanzieren. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Obwohl das alles heute bekannt ist, tut sich der Runde Tisch schwer damit, dieses System klar zu benennen. Marlene Rupprecht, als Mitglied des Bundestags am Runden Tisch:
"Wenn jemand weggesperrt wird, gedemütigt wird, missbraucht wird, dann ist das eine Menschenrechtsverletzung. Der hat ein Menschenrecht auf Integrität. Die Frage ist nur die: Gegen wen richtet sich meine Klage? Und das ist nicht immer klar auszumachen. Weil die Täter nicht immer klar fassbar sind und die Nachfolger dieser Täter auch nicht immer klar definierbar sind. Das ist das Problem bei einzelnen Fällen."
Kritiker nennen das eine Sprache des Ungefähren. Es gab Mängel, Verantwortliche und Täter, aber:
"es war kein Unrechtssystem."
"Die Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren war kein Unrechtssystem. Aber es gab auch nicht nur Einzelfälle."
Auf diese Formel bringt auch Mario Junglas das Problem. Junglas vertritt den Caritasverband am Runden Tisch.
"Es ist nicht möglich zu sagen, der Zeitgeist war eben so. Denn das war der Anspruch, den wir eigentlich immer an uns selbst hatten, dass wir auch einem negativen Zeitgeist Widerstand leisten. Und das ist auch in den 50er- und 60er-Jahren immer wieder gelungen. Wir haben in den 50er- und 60er-Jahren auch Heime, die eine sehr moderne Pädagogik verfolgt haben. Umso schmerzlicher ist, dass wir auf der anderen Seite feststellen müssen, dass wir unserem selbst gestellten Anspruch an vielen Stellen nicht gerecht geworden sind."
Manfred Kappeler war in den 60er-Jahren in der Heimerziehung tätig. Heute gehört der emeritierte Professor für Sozialpädagogik zu jenen, die die ehemaligen Heimkinder beraten. Er schüttelt über diese Argumentation nur den Kopf:
"Ich würde sagen, man müsste das umgedreht werten. Die Tatsache, dass es einige wenige Einrichtungen gab, ich selbst habe in den 60er-Jahren zwei von ihnen entwickelt und eine davon geleitet, hat gezeigt, dass es auch anders gegangen wäre und die Alternativen bekannt waren."
Die ehemaligen Heimkinder haben lange geschwiegen, weil sie sich schämten, im Heim gewesen zu sein, weil sie das Erlebte verdrängt, tief im Unterbewusstsein eingekapselt haben. Ihre Petitionen an den Bundestag und ihr Auftreten am Runden Tisch waren mit klaren Forderungen verbunden:
Das Unrecht, das sie erlitten haben, soll als Grund- und Menschenrechtsverletzung anerkannt werden. Bund, Länder und Kirchen sollen sich entschuldigen, unrechtmäßige Einweisungsbeschlüsse sollen zurückgenommen werden. Die Kinder- und Zwangsarbeit, die viele geleistet haben, soll als solche anerkannt werden und wenigstens in die Rentenberechnung einfließen. Akten sollen gesichert und zugänglich gemacht werden, damit sie weiße Flecken in ihrer Biografie erforschen können: wer ihre Eltern waren, warum sie ins Heim gekommen sind oder wie dort über sie verfügt wurde. Unabhängige Anlaufstellen sollen sie in allen rechtlichen und sozialen Fragen beraten. Traumatherapien sollen ohne lange Begutachtungen bezahlt werden, weil so ein Verfahren nur alte Wunden wieder aufreißen und alles noch schlimmer machen würde. Die Jahre im Heim, fehlende Bildungs-, Berufs- und Lebenschancen sollen darüber hinaus mit einer Rente von bis zu 300 Euro monatlich oder einer Einmalzahlung in Höhe von 54.000 Euro entschädigt werden. Fachleute rechnen mit etwa 60.000 Antragsstellern. 3,5 Milliarden Euro würde das kosten.
Auch zu diesen Forderungen soll der Runde Tisch Stellung nehmen und Vorschläge unterbreiten, wie den Betroffenen heute noch geholfen werden kann.
"Runder Tisch Heimerziehung vor dem Scheitern”
So berichtete schon vor fünf Wochen der Berliner Tagesspiegel. "Die Opfer fühlen sich betrogen”, heißt es. Denn einerseits steht im Entwurf für den Abschlussbericht des Runden Tisches ausdrücklich, dass man den Heimkindern glaubt. Man glaubt ihren Berichten, auch den Arbeiten, die mittlerweile über einzelne Heime entstanden sind, aber man zögert bei den Konsequenzen. Manfred Kappeler:
"An allen entscheidenden Punkten, wo es um harte Fakten und mögliche Entschädigungsansprüche geht, wird dieses 'Wir glauben, was ihr sagt' verweigert."
Der emeritierte Professor für Sozialpädagogik hat den Entwurf des Abschlussberichts einer ausführlichen Kritik unterzogen. Als nur ein Beispiel für die "Entwirklichung der Erfahrungen”, wie er es bezeichnet, nennt er den Medikamentenmissbrauch, um Kinder ruhig zu stellen. Dazu heiße es im Entwurf:
"Dieser Punkt sei berichtet worden von ehemaligen Heimkindern, aber da dazu keine hinreichende Forschung zur Verfügung stünde, könne dazu keine Aussage gemacht werden. Und die Frage der Glaubwürdigkeit entscheidet sich doch genau an solchen Punkten, wo es keine andere Erkenntnisquellen gibt."
"Elementare Grundsätze der Verfassung wie des Rechtsstaatsprinzips, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körperliche Integrität fanden keine Beachtung und Anwendung."
So hieß es noch im zweiten Entwurf des Berichts. Im dritten Entwurf wird die Aussage deutlich abgeschwächt: Sie fanden, so heißt es jetzt
"bei weitem zu wenig Beachtung und Anwendung."
An anderen Stellen geht es um eine mögliche symbolische oder materielle Anerkennung und Rehabilitation der Opfer. Das heißt: Bund und Länder müssten möglicherweise zahlen. Auf Verlangen der Länder sollen deshalb die Worte "materielle Leistungen” und "finanziell” an dieser Stelle im Bericht gestrichen werden.
Die Kirchen haben bereits signalisiert, dass sie zu finanziellen Leistungen bereit sind. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider sagte dies im Spiegel vom 15. November. Auch Mario Junglas vom Caritasverband erklärt:
"Also zum einen wäre die Vorstellung naiv, dass ernsthafte Hilfe kostenlos zu haben wäre. Natürlich müssen dafür Mittel zur Verfügung gestellt werden. Auf der anderen Seite halten wir aber aus gutem Grund fest an der Verantwortungskette, weil wir alle Kräfte mobilisieren wollen, damit ein möglichst umfassendes Hilfekonzept zustande kommt für die ehemaligen Heimkinder."
Verantwortungskette, dieser Begriff meint alle beteiligten Instanzen vom Einweisungsbeschluss bis zur Heimaufsicht. Aber keine macht konkrete Zusagen. Gerade die Länder reagieren besonders sensibel, wenn sie mit dem Begriff "Unrecht” und möglichen Forderungen konfrontiert werden, denn die Heimaufsicht lag seit 1961 bei ihnen. Antje Vollmer in der vergangenen Woche:
"Wir hatten von Anfang an die Idee, mit dem Runden Tisch alle Schritte gemeinsam zu gehen, auch damit nicht einer auf halbem Wege rausspringt und sagt: Ich will aber nicht die Konsequenzen tragen. Einer der ersten Meilensteine war zu sagen: Es gab ein System Heimerziehung. Und in dem System gab es viele Verantwortliche, das ist der zweite Punkt: Es gab eine gemeinsame Verantwortung. Es kann sich nicht eine einzelne Institution oder ein einzelnes Land oder eine Ländergemeinschaft aus dieser Verantwortung ausklinken."
"Die Weigerung, das System Heimerziehung als ein Unrechtssystem zu klassifizieren, hat auch sofort Folgen, weil jetzt in den Entwürfen für den Abschlussbericht deutlich gesagt wird: Wenn die Heimerziehung ein Unrechtssystem gewesen wäre, dann hätten die ehemaligen Heimkinder auch einen Anspruch auf eine pauschale finanzielle Entschädigung. Man muss es aber umgekehrt sagen: Es darf die Qualifizierung nicht geben, damit kein Anspruch entsteht. Also, es kann nicht sein, was nicht sein darf."
Bedauern, eine Entschuldigung für erlittenes Unrecht kosten nichts. Der Bundestag und auch Kirchenvertreter haben sich entsprechend geäußert. Aber was dürfen die ehemaligen Heimkinder darüber hinaus erwarten? Welche Lösungsvorschläge hält der Runde Tisch am Ende für sie bereit? Marlene Rupprecht noch einmal zu den Voraussetzungen:
"Rechte hatten sie alle. Sie konnten sie nur nicht wahrnehmen. Das Recht ist ihnen formal nie genommen worden, aber sie waren ohnmächtig ausgeliefert den Menschen, die sie daran gehindert haben, das Recht wahrzunehmen."
Darum geht es. Nicht die Realität zählt, sondern die formale Logik. Die Mehrheit des Runden Tisches setzt bei den Vorschlägen zu Hilfen für die ehemaligen Heimkinder deshalb nicht am erlittenen Unrecht an, sondern an den heute noch feststellbaren Folgeschäden. Eine generelle Entschädigung, eine Opferente für erlittenes Unrecht, für die im Heim zu Bruch gegangene Lebenschancen, soll es nicht geben.
Einigkeit aber besteht, dass Anlauf- und Beratungsstellen geschaffen werden, die den Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ob diese unabhängig sind oder bei den Ländern angesiedelt werden, bei den Behörden also, denen das ganze Misstrauen der Betroffenen gilt, bleibt offen. Die ehemaligen Heimkinder haben dies gestern noch einmal ausdrücklich gefordert.
Auch zwei Fonds sollen eingerichtet werden: Ein Rentenfonds und ein Traumatisiertenfonds: Sie sollen – allerdings nur in begründeten Einzelfällen – Renten für im Heim absolvierte Arbeiten zahlen oder Kosten für Therapien, Rechtsberatung oder andere Hilfen übernehmen. Die ehemaligen Heimkinder sollen belegen oder glaubhaft machen, dass sie unter Folgeschäden der Heimerziehung leiden, am besten sogar eine Stellungnahme der Einrichtung oder ihrer Nachfolger vorlegen.
Vor allem soll bei beiden Fonds das Prinzip der Nachrangigkeit gelten: Erst sind die Rentenversicherer dran. Therapien sollen nur gezahlt werden, wenn die Krankenkassen sich weigern, bei anderen Leistungen muss Bedürftigkeit nachgewiesen werden, daher geht der erste Gang zum Sozialamt. Über diese Nachrangigkeit wurde heute bis zuletzt gestritten.
Die Hürden sind also hoch und die Hilfen dürftig. Von 120 Millionen Euro ist die Rede, Bund, Länder und Kirchen sollen sich je mit einem Drittel beteiligen. Die Opfer der Heimerziehung hatten als Entschädigung eine monatliche Rente in Höhe von 300 Euro oder einmalig 54.000 EUR gefordert. Sie fühlen sich abgespeist.
Antje Vollmer erinnerte noch vor der letzten Sitzung daran, dass das Gefeilsche um Begriffe nicht auf Kosten der Opfer gehen dürfe. Sie verweist auf NS-Unrecht und Stasi-Unrecht.
"Da kann man sagen, das ist ja vorbei. Wir tun was für die, aber es ist ja vorbei. Die Wahrheit ist, dass in einem Rechtsstaat das Unrecht in dem Moment, in dem es passiert, bekämpft werden muss. Und das war die große Lebenslüge. Es gab damals zu wenig Demokraten, die hatten keinen Anwalt, deren Rechte wurden nicht anerkannt, die hatten keinen Rückhalt. Da haben relativ viele weggeguckt. Und jetzt ist die Frage: Findet sich der Rechtsstaat bereit, weil er damals generell und in seinen verantwortlichen Institutionen, das Recht von denen nicht verteidigt und bewahrt hat, ihnen nachträglich darauf eine Antwort zu geben, die nicht nur ein paar schöne Worte sind."
Jürgen Beverförden hat als Vertreter der ehemaligen Heimkinder an Sitzungen des Runden Tischs und an Arbeitsgruppen teilgenommen.
"Aufklärung und Sachbücher gibt es genug, Expertisen, die schildern, was gewesen ist. Man muss jetzt nur daraus die Konsequenzen ziehen und eine politische Entscheidung muss kommen."
Ihn und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter kann nur trösten, dass das Gremium nichts entscheiden, sondern nur Empfehlungen aussprechen kann.
"Die politische Entscheidung fällt im Bundestag, im Parlament und sonst nirgendwo. Wir appellieren an die Abgeordneten des Bundestags, jetzt zu entscheiden. Die Menschen werden immer älter und wir wollen unbedingt, dass die Heimkinder noch die Entschuldigung und Entschädigung des Staats erfahren."