Donnerstag, 18. April 2024

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Unruhe
As soon as possible? - Ohne mich!

Morgen ist Aschermittwoch, für Christen der Beginn der Fastenzeit. "Sieben Wochen ohne Sofort" ist die Fastenaktion der Evangelischen Kirche überschrieben. Innehalten sollen wir. Doch wer will das ernsthaft? Der Philosoph Ralf Konersmann, Autor einer Kulturgeschichte der Unruhe, sagt: So schnell kommt eine Gesellschaft aus dem Hamsterrad nicht raus.

Ralf Konersmann im Gespräch mit Christiane Florin | 28.02.2017
    Ein junger Geschäftsmann sitzt in Meditationshaltung auf seinem Arbeitstisch hinter seinem Laptop
    Toleranz für Selbstdistanzen, nennt der Philosoph Ralf Konersmann den Respekt dafür, sich von der Unruhenormalität abzugrenzen. (imago stock&people)
    Christiane Florin: "Rastlos und ruhelos wirst du auf Erden sein". Das sagt Gott im Alten Testament zu Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat. Unruhe ist eine Strafe für den Sünder, ein Fluch. Wann wurden Innovation, Veränderung, Fortschritt – kurzum Unruhe – zum Segen?
    Ralf Konersmann: Im frühen Mittelalter bei Augustinus kam der Gedanke auf, dass diese Unruhe als von Gott verhängt nicht nur das reine Übel sein könnte, ob man nicht damit etwas anfangen könnte, ob man nicht damit konstruktiv umgehen könnte und die Unruhe nicht als etwas annimmt, an dem man schlechterdings nichts ändern kann, sondern dass man wenigstens - wenn es denn so ist - auch fruchtbar machen kann. So kam der Gedanke auf das irdische Dasein, als einen Ort der Bewährung, der Auseinandersetzung mit der Unruhe, ja sogar der Nutzung der Unruhe zu verwenden. Und so wurden Zeiträume beschrieben, Prozesse beschrieben, Veränderungsvorgänge beschrieben, die alle von dem Versuch zeugen, aus der Unruhe etwas zu machen.
    Florin: Was zum Beispiel lässt sich aus der Unruhe machen?
    Konersmann: Geschichte zum Beispiel. Die Geschichtsphilosophie ist ja eine Errungenschaft der Aufklärung. Und die sagt uns, dass das, was da vergeht an Zeit und was da verfließt, dass das nicht alles nur verloren ist, sondern, dass wir uns das Ganze so als einen Aufbau, als einen Zugewinn, als einen Fortschritt, als eine Entwicklung vorstellen dürfen. So dass also die vorausgegangenen Generationen und auch die kommenden Generationen und auch wir selbst nicht umsonst gelebt haben werden, sondern uns an einem Projekt beteiligen, das ein Projekt der Menschheit ist. Die Unruhe ist gleichsam der Motor, der all dieses vorantreibt. Das ist schon, wenn man auf die Gesamtgeschichte schaut, ein relativ junges Konzept. Aber, wenn man das ausformuliert, spürt man natürlich, wie sehr wir von solchen Vorstellungen beherrscht sind.
    Vom Christentum zur Geschichtsphilosophie
    Florin: Ist das ein christliches Konzept oder kommt das in anderen Weltreligionen auch vor?
    Konersmann: Ich würde das Judentum noch hineinnehmen und würde dann sagen, ja, es ist ein jüdisch-christliches, genuin jüdisch-christliches Konzept. Weil es auf der einen Seite tief in der christlichen und jüdischen Dogmatik wurzelt, aber andererseits auch den Versuch macht, sozusagen dem auch von der säkularen Seite her etwas abzugewinnen. Ich würde nicht die These vertreten wollen, dass es einen glatten Übergang gibt vom Christentum zur Geschichtsphilosophie, aber eine gewisse strukturelle Affinität ist doch nicht zu übersehen.
    Florin: "Religion ist Opium fürs Volk" - so lautet eine der berühmten Religionskritiken. Welche Rolle spielen Religionen? Beruhigungsmittel, Unruhestifter, irgendwas dazwischen?
    Konersmann: Das Verhältnis der Religionen - speziell der angesprochenen Religionen - zur Unruhe ist ja zutiefst ambivalent. Der große Soziologe Max Weber hat gezeigt, wie die christlichen Konfessionen und wie speziell der Protestantismus die Seele des Berufsmenschen geformt hat, wie er das nennt. Also, dass eigentlich religiös gemeinte Verhaltensvorgaben und Empfehlungen und Normen letztlich dazu beigetragen haben, dass in den westlichen Ländern der Kapitalismus erfolgreich sein konnte, das zeigt sich in solchen Details, wie zum Beispiel der Polemik des Calvinismus gegen das Ausruhen oder gegen das Besitzdenken. Aus heutiger Sicht würden wir vielleicht vermuten, ja da sind moralische Bedenken vielleicht am Werk, wir hören dann, wie viel Geld Vorstandsvorsitzende bekommen und so weiter und das seien moralische Bedenken. Keineswegs. Im Kern polemisiert Calvin gegen den Besitz, weil er träge macht, also sozusagen uns an der Aktivität hindert. Jemand, der genug hat, braucht nicht mehr zu arbeiten, und das ist etwas, was in einer Vorstellungswelt, in der Arbeit als Gottesdienst und als Heilsbestätigung fungiert, eigentlich nicht geduldet werden kann.
    Warum ist die ewige Ruhe so unattraktiv geworden?
    Florin: Das Christentum wirbt mit der "ewigen Ruhe" bei Gott. Es glauben aber längst nicht mehr alle Christen an diese Verheißung nach dem Tod - das sagen zumindest Umfragen. Und diejenigen, die sich zu keiner Religion bekenne, glauben das ja wohl auch nicht. Warum ist das Angebot "ewige Ruhe" nicht mehr attraktiv?
    Konersmann: Ich würde sagen, weil es eben doch sehr voraussetzungsreich ist. Es ist ja ein Trost, dieses sich vorstellen zu können und es ist schon erstaunlich, dass das über Jahrhunderte so stabil gewesen ist und dass es auch in der Liturgie entsprechende Sätze sich gehalten haben und letztlich wir alle auch die entscheidenden Sätze im Ohr haben. Ich würde sagen, es liegt letztlich daran, dass sozusagen der ganze Hintergrund der Dogmatik porös geworden ist. Und der Weg dahin, um so etwas anzunehmen und von so einer Zusage überzeugt zu sein, dieser ganze Hintergrund ist porös geworden und erschwert doch sehr das Vertrauen in eine solche Zusage.
    Die Ruhe im Diesseits genießen
    Florin: Aber ist doch eigentlich merkwürdig, dass rastlose Trainer übers Land ziehen und irgendwelche Entschleunigungsprogramme verkaufen und auf der anderen Seite die ewige Ruhe ein so schlechtes Image hat, die ja auch eine Form der Entschleunigung sein könnte.
    Konersmann: Ja, das ist wohl wahr. Andererseits sind wir, indem wir eben derart uns auf das Diesseits und die Erfahrung unserer Lebenszeit konzentrieren, kommt ganz automatisch der Anspruch auf, nun also auch in den Genuss dieser Ruhe zu kommen, und zwar in diesem Leben. Und so gibt es nun also - wie Sie auch andeuten - eine lebendige Glücks- und Wohlfühlindustrie, die sozusagen den Lebensabend, ja das, was vielleicht früher einmal erst nach dem Tod erwartet wurde, gleichsam in den Lebensabend vorverlegt und dann eben mit Nachtwanderungen, Teetrinken, Schweigen, Golfspielen oder so versucht, die Pausen einer alternden Wohlfühlgesellschaft und Wohlstandsgesellschaft zu füllen.
    Utopie zieht, Unruhe schiebt
    Florin: Braucht Unruhe eine Utopie, die sie rechtfertigt? Eine diesseitige Utopie?
    Konersmann: Ich glaube, dass die Logiken der Unruhe und der Utopie gegeneinander laufen. Wenn man sich erst einmal auf die Unruhe eingelassen hat - und ich würde die Unruhe beschreiben als ein Phänomen, das wir sozusagen immer mehr und immer hemmungsloser zugelassen haben, also ein Entgrenzungsphänomen dann -, umso weniger sprechen wir von Utopie. Und ich glaube, das lässt sich auch, wenn man die geistigen Vorlieben der letzten Jahrzehnte sieht, auch halten. Dass wir also heute nicht mehr über das Prinzip Hoffnung sprechen und über das, was Ernst Bloch zum Beispiel oder Herbert Marcuse einst vorgeschwebt hat. Und das liegt, glaube ich, daran, dass Utopien ein Ziel markieren. Das heißt es geht von ihnen ein Sog aus, während Unruhe sozusagen einen Schub gibt. Das heißt, die Richtungen sind genau umgekehrt. Das eine ist die Utopie, ist etwas, was uns anzieht und die Unruhe ist etwas, was uns vorandrängt - und diese Logiken sind offenbar nicht kompatibel.
    Leben in der Unruhenormalität
    Florin: Manche Ihrer Kollegen beschreiben die Beschleunigung in Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Wort "Entfremdung". Kommt diese Unruhe über uns, stimmen wir ihr zu - vorhin haben Sie gesagt, wir haben sie zugelassen. Welche Rolle spielt unser Wille?
    Konersmann: Wir können uns selbst und unsere alltägliche Erfahrung offenbar nicht mehr beschreiben, ohne von Kategorien in der Unruhe und der Iniquität Gebrauch zu machen. Das Dilemma besteht darin, überhaupt eine Außenansicht der Unruhe gewinnen zu können. Wenn ich diesen Initiativen, die wir vorhin gestreift haben, also dem Versuch zur Entschleunigung oder so etwas, etwas Positives abgewinne, dann ist es genau diese Möglichkeit, überhaupt aufmerksam zu werden auf das, was sich mittlerweile als normal etabliert hat und was auch unser Denken und Fühlen angeleitet hatte. Wir haben da zu keinem Zeitpunkt irgendeine Entscheidung getroffen oder gar mit einer Wahl abgestimmt. Wir sind sozusagen hineingeglitten in eine Normalität und haben auf dem Boden der Moderne festgestellt, dass es eine Unruhenormalität ist. Und nun heißt es, sich klarzuwerden, auf was wir uns da genau eingelassen haben und wie wir wohl möglich den Einfluss und das Drängen der Unruhe eindämmen können.
    Florin: Uns hat keiner gefragt, aber wir stimmen unbewusst zu - kann man es so sagen?
    Konersmann: So würde ich das beschreiben. Und es sind gleichsam unsere eigenen Vorstellungen, es sind unsere eigenen Denkbilder, es sind die Geschichten und Assoziationen, mit denen wir unterwegs sind, von denen wir uns haben verführen lassen, die uns haben hineingleiten lassen in diese Unruhewirklichkeit.
    Aggressive Alternative zum Yoga
    Florin: Im Moment erleben wir ja Populisten, die versprechen Grenzen zu sichern, Mauern zu errichten, die Nation zur alten Größe zu führen. Fortschritt ist immer mit Entgrenzung verbunden - sehen Sie in diesen populistischen Versprechen eine Art Entschleunigungsprogramm, die aggressive Alternative zum Yoga?
    Konersmann: Das könnte, würde ich sagen. Wenn wir beispielsweise den Begriff der Sicherheit oder das Versprechen der Sicherheit ins Spiel bringen, um diese Phänomene zu beschreiben, dann würde ich das schon so sagen. Versprechen der Stabilität, der Identität, der dauerhaften Gewissheit, das sind ja alles Motive, die aus dem Vorstellungszusammenhang der Ruhe entstanden sind und die auch ein - würde ich meinen - berechtigtes Interesse ansprechen, gleichzeitig natürlich auch missbrauchen, indem sie es ideologisch einfärben. Und hier wird nichts anderes helfen, als zu anderen Beschreibungen zu kommen, die einerseits die Bedürfnisse respektieren, die so angesprochen werden und andererseits gleichsam dieses Abbiegen in ideologisch zweifelhafte Zusammenhänge vermeiden. Damit haben wir kaum angefangen, weil wir doch traditionell sehr dazu neigen, in Schemata zu denken - also, entweder Ruhe oder Unruhe oder Schwarz oder Weiß. Eines meiner Anliegen wäre eigentlich, aus diesem dichotomischen Denken des Entweder / Oder herauszukommen und die Zweideutigkeit sowohl des Phänomens Ruhe als auch des Phänomens Unruhe anzusprechen.
    "Warum die Möglichkeit höher schätzen als die Wirklichkeit?"
    Florin: Der Erfolg solcher Populisten zeigt, dass offenkundig die Zahl derer, die Unruhe, Innovation, Veränderung nicht als Segen empfinden, größer geworden ist?
    Konersmann: Das scheint mir so zu sein. Aber das ist sicher auch ein Defizit derer, die jahrelang für Veränderung plädiert haben, ohne uns dazuzusagen, was es eigentlich mit der Veränderung auf sich hat. Also wenn man das populäre Vokabular der Unruhe - wenn ich das mal so nennen darf -, Entwicklung, Prozess und so weiter, wenn man diesen Begriffen mal auf den Zahn fühlt, dann ist man entsetzt, wie dünn und leer diese Begriffe sind, es sind Parolen.
    Florin: Welche Parolen meinen Sie?
    Konersmann: Ja, zum Beispiel Weltveränderung. Kürzlich las ich, dass Facebook auch die Welt verändern will und Herr Trump will auch die Welt verändern. Da merkt man, dass es an qualitativ belastbaren Aussagen fehlt und an klaren Orientierungen, warum wir die Möglichkeit höher schätzen sollten als die Wirklichkeit, die wir aber ja bereits haben. Das wäre auch so ein wichtiger Punkt, um diesen Scharlatanen entgegenzutreten.
    Fastenmotto "als Botschaft ziemlich banal"
    Florin: Jetzt machen wir mal eine scharfe Kurve von Trump zur Evangelischen Kirche. Morgen beginnt die Fastenzeit und das Fastenmotto der Evangelischen Kirche lautet, sprachlich etwas holprig: "Sieben Wochen ohne sofort". Nun kann man seit einigen Jahren beobachten, dass Fasten nicht unbedingt bedeutet, weniger zu essen, sondern eher innezuhalten, durchzuatmen, auf allerlei digitale Gimmicks zu verzichten, sich Ruhe zu gönnen. Wie wirken diese zeitlich befristeten Ruhezonen?
    Konersmann: Auf der individuellen Ebene würde ich sagen, soll jeder sehen, wie er glücklich wird. Man muss nur auch erkennen, dass auf diese Weise wir an das, was Honoré de Balzac einmal die Pathologie der Gesellschaft genannt hat, wir nicht herankommen. Und wenn es dann heißt: Ja, wir brauchen eine Entschleunigungskur, dann ist das eben nicht weit entfernt von der Sprache, der vorhin schon zitierten Glücks- und Wohlfühlindustrie und als Botschaft doch einigermaßen banal.
    Florin: Das heißt, das alles ist Ihnen eigentlich zu individualisiert und es fehlt die Debatte über gesellschaftliche Beschleunigungsprozesse und was die mit uns als Gesellschaft machen und nicht nur mit jedem Einzelnen?
    "Toleranz für Distanz"
    Konersmann: Genauso würde ich das beschreiben. Und es ist letztlich auch wieder auf eine eigentümliche Weise eine Anknüpfung an bestimmte religiöse Vorstellungen. Der Protestantismus individualisiert ja auch sehr stark die christliche Botschaft, liefert den einzelnen Menschen der Gnade eines Willkürgottes aus. Und es ist sozusagen ganz folgerichtig, immer nur den Einzelnen anzusprechen, ihn dann natürlich auch für sein Schicksal verantwortlich zu machen. Und mir scheint, dass wir es bei der Unruhe mit einem Phänomen zu tun haben, das doch ganz anders angegangen sein will, das etwas mit Medienkultur in Zusammenarbeit mit Arbeitskultur zu tun hat, dass heißt, auf einer anderen Ebene angegangen werden sollte.
    Florin: Haben Sie schon jemals, zum Beispiel in einer Mail, die vier Buchstaben asap, also, as soon as possible, die neue deutsche Wendung für "sofort" benutzt?
    Konersmann: Nein, weder benutzt, noch hat mich jemals jemand gewagt, mich so anzusprechen. Denn ich thematisiere ja solche Alltagsphänomene, die uns augenzwinkernd oder nicht dazu überreden wollen, in die Normalität der Unruhekultur einzuwilligen.
    Florin: Und Sie willigen nicht ein?
    Konersmann: Nein, jedenfalls nicht vorbehaltlos. So wenig, wie ich andererseits blockiere oder verstockt jede Form von Unruhe ablehnen würde. Das ist ja gerade die Herausforderung dieses Themas, zu differenzieren und zu wägen. Und wenn es überhaupt eine konstruktive Perspektive in diesem Zusammenhang gibt, dann wäre es - klingt ein bisschen merkwürdig - aber Toleranz für Distanz und vor allen Dingen für Selbstdistanzen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.