Köhler: Ich habe Joachim Heinzle, Altgermanist aus Marburg, von der Arbeitsstelle für Handschriften des 13. Jahrhunderts und ausgewiesener Experte gefragt, ob das der Sensationsfund sei, von dem nun gesprochen wird.
Heinzle: Das ist er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Ich habe die Publikation von Frau Ziegler vorliegen. Ich habe sie mir einmal angeschaut. Ich muss zur Datierung der Fragmente sagen, dass die mit großer Wahrscheinlichkeit in das 13. Jahrhundert gehören, und zwar eher in die Mitte oder in die zweite Hälfte als in die erste Hälfte. Das heißt, sie sind deutlich jünger als Frau Ziegler angenommen hat. Das glaube ich sagen zu können, obwohl die Aufnahmen sehr schlecht sind und man alle Äußerungen erst einmal mit einem großen Vorbehalt versehen muss.
Köhler: Die Fragmente sind stark beschädigt. Sie erwähnten es schon. Es gibt ja so philologische Erkennungszeichen, also Nibelungenstrophen und eine gewisse Versform. Was bringt Sie zu dieser sicheren Aussage, dass diese Fragmente von einem späteren Zeitpunkt sind.
Heinzle: Zunächst einmal sind Einschätzungen aufgrund der Schriftformen. Es ist so, dass sich die Schrift in dieser Zeit vom 12., 13. und 14. Jahrhundert sehr stark verändert hat. Das heißt, die Gewohnheiten zu schreiben, haben sich geändert. Die Einschätzung der Schriftformen aufgrund vergleichbarer datierter Schriftstücke ist im Grunde die einzige Möglichkeit, solche Handschriften zu datieren.
Köhler: Das war jeweils für einen gewissen Sprachraum in einer bestimmten Zeit homogen?
Heinzle: Das war über relativ kurze Zeiten einigermaßen homogen in wesentlichen Formen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe die Form des 'G' vor mir. Da kann man beobachten, dass im Laufe des 13. Jahrhunderts die untere Schleife immer weiter nach oben gezogen wird, bis es schließlich Formen gibt, bei denen die untere G-Schleife zu einem waagerechten Strich auf der Linie verkümmert ist. Ich erkenne hier eine ganze Reihe solcher G-Formen mit einem sehr hoch gezogenen unteren Bogen. Das ist zum Beispiel ein Kriterium. Es gibt eine Reihe anderer.
Köhler: Also, es handelt sich nicht um eine Fälschung, sondern einfach um ein späteres Dokument?
Heinzle: So ist es. Es ist mit Sicherheit keine Fälschung. Das glaube ich, sagen zu können. Vielleicht darf ich noch grundsätzlich etwas zu diesen Fragmenten allgemein sagen, bevor ich etwas zum Inhalt sage. Den Fragmentschnitt dieser Art gibt es zu Tausenden und Abertausenden. In jeder Bibliothek, die alte Bücher besitzt, gibt es solche Fragmentenschachteln. Wir finden hier in Marburg an unserer Arbeitsstelle, die sich mit Handschriften des 13. Jahrhunderts beschäftigt, sozusagen täglich solche Fragmente.
Köhler: Was wir als Nibelungenlied kennen, von Uhland und Tieck, den Romantikern überliefert als Heldenepos, ist richtig zu nennen 'der Nibelungennot'. Das war salopp gesagt vom 13. bis 16. Jahrhundert eine Art Hit. Man hat aus diesen verschiedenen Handschriftenfassungen aber dann nicht versucht, einen Typus zu destillieren, sondern, wenn ich es richtig weiß, in der jüngeren Forschung parallele Überlieferungsmodi als eigenständige Träger gelten lassen. Jetzt kommt die Frage aller Fragen. Muss nach diesem Fund eigentlich etwas an der Literaturgeschichtsschreibung geändert werden oder muss die Frau Ziegler noch mal ihren Aufsatz überarbeiten?
Heinzle: An der Geschichte des Nibelungenliedes muss mit großer Wahrscheinlichkeit nichts geändert werden. Ich kann nicht eine einzige der Lesungen bestätigen, die auf das Nibelungenlied oder auf den Nibelungenstoff weisen. Frau Ziegler stützt sich auf eine Reihe von Namen, die sie meint, gelesen zu haben. Ich kann nicht einen einzigen dieser Namen bestimmen.
Köhler: Sieverid ist solch ein Name, der für Siegfried stehen soll.
Heinzle: Das ist mit Sicherheit falsch gelesen. Das kann ich sagen. Also, mit allen Vorbehalt muss ich sagen, es spricht so gut wie nichts dafür, dass diese Fragmente etwas mit dem Nibelungenstoff zu tun haben. Ich kann es noch nicht völlig ausschließen, weil ich mich erst ganz kurz und nur aufgrund dieser unzulänglichen Publikation damit beschäftigen konnte.
Köhler: Wir freuen uns natürlich über so klare und deutliche Worte, aber fürchten Sie nicht, mit dieser Meinung allein zu stehen?
Heinzle: Es wird sich zeigen. Es müssen Lesungen dieser Fragmente vorgelegt werden. Frau Ziegler hat keine einzige Transkription vorgelegt, sondern nur rudimentäre Entzifferungen. Etwas anderes ist an diesen Bruchstücken hoch interessant. Es sieht so aus, als könnte es sich um eine Fassung des Erec-Romans handeln. Der Erec-Roman ist der erste Roman von König Artus und den Rittern der Tafelrunde in Deutschland nach französischer Vorlage. Der Verfasser ist Hartmann von Aue. In diesen Bruchstücken kommen einige eindeutige Erec-Namen vor. Es ist so, dass Frau Ziegler das schon für einige Bruchstücke festgestellt hat. Aber ich stelle auch Erec-Namen in dem Bereich fest, den sie für Nibelungenstoff gehalten hat. Das Interessante daran ist, dass es, soweit ich das jetzt sehen kann, nicht der Text ist, den wir unter Hartmanns Namen überliefert haben. Möglicherweise, auch das mit allem Vorbehalt gesagt, haben wir eine zweite Erec-Fassung hier vor uns. Das wäre nicht völlig überraschend, weil wir Bruchstücke einer solchen anderen Fassung schon besitzen.
Köhler: Vielen Dank, Herr Heinzle!
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Heinzle: Das ist er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht. Ich habe die Publikation von Frau Ziegler vorliegen. Ich habe sie mir einmal angeschaut. Ich muss zur Datierung der Fragmente sagen, dass die mit großer Wahrscheinlichkeit in das 13. Jahrhundert gehören, und zwar eher in die Mitte oder in die zweite Hälfte als in die erste Hälfte. Das heißt, sie sind deutlich jünger als Frau Ziegler angenommen hat. Das glaube ich sagen zu können, obwohl die Aufnahmen sehr schlecht sind und man alle Äußerungen erst einmal mit einem großen Vorbehalt versehen muss.
Köhler: Die Fragmente sind stark beschädigt. Sie erwähnten es schon. Es gibt ja so philologische Erkennungszeichen, also Nibelungenstrophen und eine gewisse Versform. Was bringt Sie zu dieser sicheren Aussage, dass diese Fragmente von einem späteren Zeitpunkt sind.
Heinzle: Zunächst einmal sind Einschätzungen aufgrund der Schriftformen. Es ist so, dass sich die Schrift in dieser Zeit vom 12., 13. und 14. Jahrhundert sehr stark verändert hat. Das heißt, die Gewohnheiten zu schreiben, haben sich geändert. Die Einschätzung der Schriftformen aufgrund vergleichbarer datierter Schriftstücke ist im Grunde die einzige Möglichkeit, solche Handschriften zu datieren.
Köhler: Das war jeweils für einen gewissen Sprachraum in einer bestimmten Zeit homogen?
Heinzle: Das war über relativ kurze Zeiten einigermaßen homogen in wesentlichen Formen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe die Form des 'G' vor mir. Da kann man beobachten, dass im Laufe des 13. Jahrhunderts die untere Schleife immer weiter nach oben gezogen wird, bis es schließlich Formen gibt, bei denen die untere G-Schleife zu einem waagerechten Strich auf der Linie verkümmert ist. Ich erkenne hier eine ganze Reihe solcher G-Formen mit einem sehr hoch gezogenen unteren Bogen. Das ist zum Beispiel ein Kriterium. Es gibt eine Reihe anderer.
Köhler: Also, es handelt sich nicht um eine Fälschung, sondern einfach um ein späteres Dokument?
Heinzle: So ist es. Es ist mit Sicherheit keine Fälschung. Das glaube ich, sagen zu können. Vielleicht darf ich noch grundsätzlich etwas zu diesen Fragmenten allgemein sagen, bevor ich etwas zum Inhalt sage. Den Fragmentschnitt dieser Art gibt es zu Tausenden und Abertausenden. In jeder Bibliothek, die alte Bücher besitzt, gibt es solche Fragmentenschachteln. Wir finden hier in Marburg an unserer Arbeitsstelle, die sich mit Handschriften des 13. Jahrhunderts beschäftigt, sozusagen täglich solche Fragmente.
Köhler: Was wir als Nibelungenlied kennen, von Uhland und Tieck, den Romantikern überliefert als Heldenepos, ist richtig zu nennen 'der Nibelungennot'. Das war salopp gesagt vom 13. bis 16. Jahrhundert eine Art Hit. Man hat aus diesen verschiedenen Handschriftenfassungen aber dann nicht versucht, einen Typus zu destillieren, sondern, wenn ich es richtig weiß, in der jüngeren Forschung parallele Überlieferungsmodi als eigenständige Träger gelten lassen. Jetzt kommt die Frage aller Fragen. Muss nach diesem Fund eigentlich etwas an der Literaturgeschichtsschreibung geändert werden oder muss die Frau Ziegler noch mal ihren Aufsatz überarbeiten?
Heinzle: An der Geschichte des Nibelungenliedes muss mit großer Wahrscheinlichkeit nichts geändert werden. Ich kann nicht eine einzige der Lesungen bestätigen, die auf das Nibelungenlied oder auf den Nibelungenstoff weisen. Frau Ziegler stützt sich auf eine Reihe von Namen, die sie meint, gelesen zu haben. Ich kann nicht einen einzigen dieser Namen bestimmen.
Köhler: Sieverid ist solch ein Name, der für Siegfried stehen soll.
Heinzle: Das ist mit Sicherheit falsch gelesen. Das kann ich sagen. Also, mit allen Vorbehalt muss ich sagen, es spricht so gut wie nichts dafür, dass diese Fragmente etwas mit dem Nibelungenstoff zu tun haben. Ich kann es noch nicht völlig ausschließen, weil ich mich erst ganz kurz und nur aufgrund dieser unzulänglichen Publikation damit beschäftigen konnte.
Köhler: Wir freuen uns natürlich über so klare und deutliche Worte, aber fürchten Sie nicht, mit dieser Meinung allein zu stehen?
Heinzle: Es wird sich zeigen. Es müssen Lesungen dieser Fragmente vorgelegt werden. Frau Ziegler hat keine einzige Transkription vorgelegt, sondern nur rudimentäre Entzifferungen. Etwas anderes ist an diesen Bruchstücken hoch interessant. Es sieht so aus, als könnte es sich um eine Fassung des Erec-Romans handeln. Der Erec-Roman ist der erste Roman von König Artus und den Rittern der Tafelrunde in Deutschland nach französischer Vorlage. Der Verfasser ist Hartmann von Aue. In diesen Bruchstücken kommen einige eindeutige Erec-Namen vor. Es ist so, dass Frau Ziegler das schon für einige Bruchstücke festgestellt hat. Aber ich stelle auch Erec-Namen in dem Bereich fest, den sie für Nibelungenstoff gehalten hat. Das Interessante daran ist, dass es, soweit ich das jetzt sehen kann, nicht der Text ist, den wir unter Hartmanns Namen überliefert haben. Möglicherweise, auch das mit allem Vorbehalt gesagt, haben wir eine zweite Erec-Fassung hier vor uns. Das wäre nicht völlig überraschend, weil wir Bruchstücke einer solchen anderen Fassung schon besitzen.
Köhler: Vielen Dank, Herr Heinzle!
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