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Unsagbares Weltempfinden

Rund ein Vierteljahrhundert vor seinem Tod am 25. Dezember 1956 hörte der Autor Robert Walser zu schreiben auf, nachdem er gegen seinen Willen in eine Nervenheilanstalt eingewiesen worden war. Erst heute ist mit der Entzifferung der über 500 erhaltenen, mit spitzem Bleistift verfassten "Mikrogramme" Robert Walsers einzigartiges Werk grob kartographiert. Das Rätsel aber bleibt: Warum schrieb der Mann so klein?

Von Holger Noltze | 25.12.2006
    "Eines Vormittags, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Straße zu eilen."

    Wie ein Nachfahre des Eichendorffschen Taugenichts macht sich der Held in Robert Walsers Erzählung "Der Spaziergang" auf: als wäre die Welt ein ewiger Frühling. Ein Schriftsteller in finanziell nicht soliden Verhältnissen, wie wir bald erfahren, denn der Weg des Spaziergängers führt zwar sowohl in den Wald, aber auch zu Bank und Gemeindekasse. Im Wald begegnet er noch dem unheimlichen "Riesen" Tomzack, und in der Stille der hohen Tannen durchflutet ihn bald ein "unsagbares Weltempfinden", und die Gedanken schweifen zu letzten Dingen.

    Seinen bekanntesten Text schrieb Robert Walser 1916, in einer Dachkammerstube im Hotel Blaues Kreuz seiner Geburtsstadt Biel; da schon als Zurückgekehrter. Mit 35 war er wieder nach Biel gekommen, matt und schwach hatte er die Metropole Berlin verlassen. Dort waren in schneller Folge drei Romane entstanden: "Geschwister Tanner", "Der Gehülfe", "Jakob von Gunten", in einer eigenartig musikalischen, tieftraurigen und zugleich aberwitzigen Sprache, die Leser wie den jungen Franz Kafka entzückten, die Mitwelt aber eher verstörte.

    Der Weg zum Großschriftsteller a la Thomas Mann blieb einem wie Walser verstellt; dafür gründete er, mit einigem Verbreitungserfolg, was er seine "Prosastücklifabrik" nannte, und aus den ständig wechselnden Mansardenstuben überschwemmte er die großen Blätter in Berlin, Prag, Zürich und anderswo mit funkelnden Feuilletons. Momentaufnahmen, Meditationen, kleine Begebenheiten und Beobachtungen, krause Assoziationen.

    " Ein Mädchen machte mich darauf aufmerksam, dass ich mich auf einem Umweg befände. Ich sagte ihm: Nicht auf der geraden Straßen, sondern auf den Umwegen findet man das Leben. "

    Auch als Prosastücklifabrikant blieb Robert Walser eine meist irgendwo angestellte Existenz. Hilfsbuchhalter, Commis, Diener, Sekretär, Kontorist, und wenn es keine Stelle gab, dann schrieb er eben für die "Schreibstube für Stellenlose". Im "Jakob von Gunten" liest man von der Gehorsamslust und -not einer Dienerschule, in "Der Gehülfe" steht viel über Walsers Dasein als Gehilfe eines Erfinders. Robert Walser war ein brauchbarer Schönschreiber, und wenn er keine Geschäftsbriefe aufzusetzen hatte, gerieten ihm seine literarischen Manuskripte zu kalligraphischen Meisterwerken. Es kommt aber, Mitte der 20er Jahre, eine Krise, eine Schreibkrise, und Walser begegnet ihr mit einer der seltsamsten Gesten in der Geschichte der Literatur, der "Bleistiftmethode". Er legt die Schreibfeder beiseite, benutzt fortan spitze Bleistifte und schreibt seine Feuilletons und Gedichte, einen ganzen Roman noch in winziger und immer winziger werdender Millimeterschrift auf Blätter und Blättchen. Heute erst, mit der Entzifferung der über 500 erhaltenen so genannten "Mikrogramme", ist Robert Walsers einzigartiges "Bleistiftgebiet" ungefähr kartographiert. Das Rätsel aber bleibt: Warum schrieb der Mann so klein? Schrieb er sich aus der Welt heraus? - Bernhard Echte im Zürcher Walser-Archiv, der die Mikrogramme in jahrelanger Lupen-Arbeit dechiffriert hat, glaubt das gerade nicht:

    "Eigentümlicherweise war er aber auch selber der Ansicht, dass er durch diese Schrift wieder gesund werde. - Diese Blätter sind ein Dokument einer Selbstbehauptung und irgendwie, ja: Gesundung."

    Nur: Gesund wurde Walser nicht. Nach gewissen Verhaltensauffälligkeiten kommt er am 25. Januar 1929 in die Heilanstalt Waldau.

    Bis 1933 schreibt Walser noch, sogar für die Zeitungen draußen. Mit dem Wechsel in die Appenzeller Heil- und Pflegeanstalt Herisau verstummt der Dichter Robert Walser. Ein bisweilen mürrischer, aber friedlicher Patient, der Tüten klebt und den Hof fegt. Noch 23 Jahre lebt er in Herisau. Manchmal macht er Spaziergänge mit seinem Vormund, dem Journalisten und Mäzen Carl Seelig. Am Weihnachtstag 1956 ist Seelig verhindert, sein Hund ist krank. Walser geht allein, im Schnee auf einer Bergkuppe trifft den einsamen Spaziergänger der Schlag.

    Zwei Jungen auf Skiern fanden den toten Mann. Er lag auf dem Rücken, Augen offen, die linke Hand ausgestreckt, der Hut war noch ein paar Meter weitergerollt. Die Fotos, die der Ortspolizist Giezendanner von dem toten Dichter im Schnee machte, haben sich eingegraben in das Bildgedächtnis der Literatur. Des Spaziergängers letzte Schritte: die sieben Fußabdrücke im Schnee wurden so zu Robert Walsers letztem Text, das Schneefeld der Wachtenegg zur fernsten Zone des Bleistiftgebiets.

    "... ich hatte mich erhoben, um nach Hause zu gehen; denn es war schon spät, und alles war dunkel."