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"Unschuld des Fragens"

Literaturwissenschaftler, Publizist, Übersetzer und wohl auch moralische Instanz Polens: Jan Błoński hat wie kein anderer seinem Volk den Finger in die Wunde der Beteiligung an Judenmorden gelegt. Bis zu seinem Tod am Dienstag erhielt er sich, so Historikerin Helga Hirsch, die Unschuld des Fragens.

Helga Hirsch im Gespräch mit Dina Netz |
    Dina Netz: Eine Instanz des intellektuellen Lebens in Polen ist tot – der Literaturwissenschaftler und Publizist Jan Błoński. Er hat nicht nur viel für die aktuelle polnische Literatur der vergangenen Jahrzehnte getan, er hat 1987 auch eine wichtige Debatte angestoßen, nämlich die über die Rolle der Polen beim Judenmord im Zweiten Weltkrieg und über Antisemitismus, eine Debatte, die ja in Polen bis heute erbittert geführt wird. Eine Würdigung Błońskis gleich am Anfang von Kultur heute.

    Über Witold Gombrowicz, Bruno Schulz und Czesław Miłosz hat er wichtige Studien veröffentlicht und diesen Autoren zu mehr Anerkennung verholfen. Mit Sławomir Mrozek, der als Immigrant in Frankreich und Mexiko lebte, unterhielt er einen jahrzehntelangen Briefwechsel über Literatur, Philosophie und Politik. Die Briefe gehören heute zum Kanon der polnischen Literatur. Die Rede ist vom polnischen Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler Jan Błoński. Er lehrte an der Universität Krakau und stieß auch zahlreiche politische und soziale Diskussionen an. Am Dienstag ist Błoński im Alter von 78 Jahren in Krakau gestorben. Jan Błoński hat Verdienste auf verschiedensten Gebieten, Frage zunächst an die Historikerin Helga Hirsch: Welche Bedeutung hatte Jan Błoński für den polnischen Literaturbetrieb?

    Helga Hirsch: Ich denke, dass sich wahrscheinlich alle einig sind, dass Błoński der bedeutendste Literaturwissenschaftler der letzten 50 Jahre in Polen war. Er war wirklich sehr, sehr vielseitig, er war nicht nur der Professor an der Universität – übrigens ein unglaublich beliebter, zu dem sehr viele Leuten kamen, die gar nicht Polonistik studierten –, er hat auch übersetzt aus dem Französischen, er hat sehr viele Artikel geschrieben in populärwissenschaftlichen und sogar in Zeitungen, die bei uns auf dem Frauenmarkt erscheinen würden, er war literarischer Leiter vom alten Theater in Krakau, also er war ein sehr, sehr vielseitiger Mann. Und er hat sich etwas erhalten bis ins hohe Alter, das dann seine Freunde sagen ließ, er sei nie alt geworden, weil er sich immer die Unschuld des Fragens erhalten hat. Und – ich glaube, das ist für Polen sehr wichtig gewesen – er hat sich nie der sozialistischen Interpretationsweise angeschlossen, er hat eigentlich immer gegen marxistische und auch weitgehend soziologische Interpretationsweisen geredet, und deswegen hat er schon eine sehr, sehr lange Zeit der Anerkennung, ganz abgesehen von dem, was Sie auch genannt haben, was ein Extrathema ist, sein bahnbrechender Artikel 1987 zum jüdisch-polnischen Verhältnis.

    Netz: Darüber reden wir gleich noch weiter, ich würde gern noch kurz bei der Literatur bleiben. Die FAZ hat Błoński mal "Literaturpapst" genannt. Ist er der Reich-Ranicki von Polen gewesen?

    Hirsch: Nein, alles andere. Er war auch scharf, aber er hatte einen Humor, er hatte immer einen Enthusiasmus. Er fragte nach Werten. Er wollte auch immer beurteilen, aber bei Reich-Ranicki ist vielleicht der Wunsch zum Urteilen und Verurteilen manchmal sehr hoch angesetzt, während bei Błoński es sehr stark darauf ankam, das Positive aufzuzeigen. Sie haben ja selber die Schriftsteller genannt, Zbigniew Herbert, ein absoluter Moralist, Bruno Schulz, Andrzejewski, der übrigens mit der Karwoche auch das Verhältnis von Warschauern angesichts des brennenden Ghettos im Roman verarbeitet hat. Also – die positiven, moralischen Werte waren ihm sehr, sehr wichtig und insofern ist das, glaube ich, mehr auf dem Gebiet der Moral als auf dem Gebiet der Literaturkritik, was ihn auszeichnete.

    Netz: Damit sind wir dann schon bei dem Thema, was Sie selber gerade schon angeschnitten haben. Er hat 1987 den Artikel in einer katholischen Wochenzeitung veröffentlicht, der überschrieben war: "Die armen Polen schauen auf das Ghetto", und er hat damit sozusagen die Aufarbeitung des polnisch-jüdischen Verhältnisses im Zweiten Weltkrieg in Polen angestoßen. Das Thema wurde dann so was wie sein Lebensthema. Wie wichtig war dieser Aufsatz für die Beschäftigung mit diesem Thema in Polen?

    Hirsch: Dieser Aufsatz war wirklich bahnbrechend. Der Titel stammt von einem Gedicht von Czesław Miłosz und beschreibt, wie sich ein Karussell neben dem brennenden Ghetto zu diesen Osterfeiertagen – als der Aufstand war, 1943 –, gedreht hat. Und diese Frage, was haben wir gemacht, als die anderen kämpften und getötet wurden, und warum konnten wir weiter in dieses Karussell gehen, das ist also die Fragestellung von Czesław Miłosz, die greift Błoński auf und geht dann sehr, sehr viel weiter. Er greift eigentlich alle Selbstrechtfertigungen der Polen auf. Wir konnten nicht mehr tun, weil wir selber unser Leben riskiert hätten, was stimmt. Wir haben so viele Bäume in Yad Vashem, also als Retter von Juden, wie kein anderes Volk, was auch stimmt. Und dann hat er aber trotzdem gesagt: Selbst wenn das alles stimmt, warum gehen wir nicht von der anderen Seite heran? Warum müssen wir uns so beschönigend darstellen, warum sagen wir nicht – das ist so ein zentraler Satz in diesem Aufsatz von damals –, ja, wir sind schuldig, und zwar Mitschuld durch Unterlassen. Er sagt nicht, wir sind auf der Seite der Mörder gewesen, was ja auch nicht stimmte, aber: Haben wir, wie im Fall zum Beispiel der Karussells, genügend getan um denen, die entweder kämpften oder die sich versteckten oder die geflohen waren, wirklich zu helfen? Und das war für Polen empörend, dass ein Volk, was selber gelitten hat, was selber unterdrückt wird, was alles stimmt, dass diesem Volk auch Mitschuld zugeteilt wird. Und ich denke, das war insofern wichtig, weil die Debatten, die dann anschließend folgten, die gingen dann ja noch mal einen Schritt weiter. Das war ja das große Drama jetzt der Diskussion der letzten acht Jahre, sie haben auch während des Zweiten Weltkrieges unter Duldung der Deutschen selbst getötet, wie im Fall von Jedwabne, wo es bewiesen ist, es gibt auch andere Beispiele, und sie haben selbst nach dem Krieg noch getötet. Man schätzt, dass zirka gut 1000 Juden noch nach dem Krieg von Polen umgebracht wurden, als sie aus den Verstecken oder nach der Flucht aus der Sowjetunion zurückkamen.

    Netz: Frau Hirsch, war Błoński neben dem, was er an literarischen Leistungen vollbracht hat, so eine moralische Instanz für Polen? Könnte man ihn vergleichen mit Susan Sontag zum Beispiel?

    Hirsch: Er war für Polen, denke ich mal meinem spontanen Empfinden nach, wichtiger als Susan Sontag, denn das war eine heilige Kuh. Der hat sich unglaublich weit aus dem Fenster gelehnt und er hat dazu gestanden und hat das in einer Weise verteidigt, die dann anderen den Mut gegeben hat, nicht nur gleichzuziehen, sondern das ... Er war auch eine sehr wichtige Stütze zum Beispiel für Juden, die in diesem Land, wo ihnen der Antisemitismus doch recht häufig begegnete, unter polnischem Namen lebten und nicht den Mut hatten über lange Zeit, sich als Juden zu outen, würden wir heute modern sagen, oder die es gar nicht wussten, weil ihre Eltern ihnen das nicht mitgeteilt hatten. Błoński, denke ich, war also ein Bezugspunkt dafür, dass man sich mit den Schattenseiten – auch wenn sie sehr dunkel sind – der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss und dass man die eigene Identität nicht verleugnen darf aus Angst, unter dem Antisemitismus zu leiden.

    Netz: Einer, der immer hinguckte, auch auf die ganz dunklen Seiten – die Historikerin Helga Hirsch erinnerte an den Literaturwissenschaftler, Publizisten, Übersetzer und vieles mehr Jan Błoński.