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Unser Slum gehört uns

Der indisch-britische Oscar-Triumph "Slumdog Millionaire" hat nicht nur Freunde: Prominentester Kritiker des Films ist der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdi. Die Handlung sei "zum Davonlaufen", wettert Rushdie unter anderem in der "FAZ", der Film strotze vor "neokolonialem Kitsch" und liefere "touristische Bilder".

Von Rüdiger Suchsland | 18.03.2009
    Erinnert sich noch jemand an den Streit um "Schindlers Liste"? Als Steven Spielbergs, mit allen Kunstgriffen Hollywoods inszeniertes Shoah-Drama 1994 ins Kino kam, reagierten viele deutsche Intellektuelle gekränkt - nicht nur, weil sie selbst fast 50 Jahre lang nicht gewusst hatten oder wissen wollten, wer Oskar Schindler war. Sondern vor allem, weil plötzlich ihr Alleinvertretungsanspruch in Frage stand. Darf ein Amerikaner einfach kommen und uns unseren Holocaust wegnehmen?

    Eine ähnliche Polemik gab es schon zehn Jahre zuvor von Seiten tschechischer Emigranten und in der CSSR verbliebener Dissidenten, als Philip Kaufmann Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" verfilmt hatte - das gehe ja wohl nicht, hieß es, wie könne einer den "Prager Frühling" verstehen, der nicht dabei gewesen ist? Und eine Französin wie Juliette Binoche könne doch wohl nicht einfach ein tschechisches Mädchen spielen ...

    An derartige kulturnationalistische Attacken fühlt man sich erinnert, wenn man jetzt hört und liest, was Salman Rushdie über "Slumdog Millionaire" denkt.

    In der "FAZ" polemisierte Rushdie auf einer ganzen Doppelseite gegen Danny Boyles Film, lästerte über "neokolonialen Kitsch", "touristische Bilder" und schloss: "'Slumdog Millionär' ist zum Davonlaufen".

    Interessant daran ist die grundsätzliche Haltung, für die Rushdies Attacke nur ein prominentes Beispiel bildet. Schon nach der Oscar-Verleihung hatte die Berliner "Taz" gegen die "global vereinheitlichte Ästhetik" des Films gelästert - als dürfe sich ein Film, weil er von Indien erzählt, ja nicht allzu sehr den Sehgewohnheiten des westlichen Publikums anpassen.

    Es sind die altbekannten Fetische der Postmoderne, die hier noch einmal aufgekocht werden. Damals, vor inzwischen auch schon über 20 Jahren, hatte alles "mit sich identisch", "authentisch" zu sein.

    Das hatte seinerzeit gute Gründe: Die Postmoderne wollte dem "Anderen", dem "Unterdrückten" eine Stimme geben. Es galt: Wer nicht selbst betroffen ist, hat zu schweigen: Weiße können nicht über Schwarze reden, Heteros nicht über Schwule und Männer nicht über Frauen.

    Nach dieser Logik kann ein Film nicht authentisch und glaubwürdig sein, den ein Engländer über Indien dreht. Aber dies ist eine rein politische Logik, die auf die Kunst, auch zu Hochzeiten der Postmoderne kaum gepasst hat. Ihre Ursache ist ein verengtes Verständnis von Identität, das diese nur als homogene, geschlossene begreifen kann.

    Als Logik der Kunst ist das borniert. Denn dort waren Identitäten noch nie homogen. Unter den Bedingungen einer globalisierten Kultur hat jeder das Recht - und die Chance -, auch über Fremdes Filme zu drehen oder Bücher zu schreiben, ohne Vorschriften der Political Correctness beachten zu müssen. Und schon Charles Dickens und Emile Zola haben im 19. Jahrhundert über das Lumpenproletariat ihrer Zeit geschrieben. War das auch Voyeurismus oder Slumtourismus? Oder ging es etwa in Mozarts Oper über die "Entführung aus dem Serail" um dokumentarische Korrektheit? Wie diese Klassiker oder wie zuletzt der britisch-indische Booker-Prize-Gewinner Aravind Adiga, dessen Indien-Roman "Der weiße Tiger" ähnliche Vorwürfe gemacht werden, belegt auch Danny Boyles Film vielmehr die Macht der Fiktion.

    In der Kunst ist Authentizität immer eine Frage der Phantasie. Und Globalisierung bedeutet in ihr das Vermischen, bedeutet, dass keiner mehr ein alleiniges Recht auf ein kulturelles Erbe hat. Auch nicht Salman Rushdie.