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Unsere allzu kurzen Sommer

Erinnerung und Neugierde sind zwei Schlüsselwörter sowohl in den Kindheitserinnerungen, die Jorge Semprun nun unter dem Titel Unsere allzu kurzen So»mr veröffentlichte, als auch in seinem gesamten Werk. Im Unterschied aber zu den anderen Büchem des 1923 in Madrid geborenen Schriftstellers spart er hier die Zeit im Konzentrationslager Buchenwald aus, berichtet vom Ende seiner Kindheit, als die Familie 1936 vor dem spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich fliehen mußte, gewährt erstmals Einblick in die Vertreibung aus dem Paradies seiner Heimat. "Je mehr ich schreibe, desto deutlicher kommt mir die Erinnerung zurück", äußerte Semprun einmal in einem Gespräch, und fügte hinzu, er könne jetzt jedes Mal mehr sagen.

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Und so ist denn der nun vorliegende autobiographische Band, der auch erst letztes Jahr im französischen Original erschien, eine Frucht dieser Erinnerungsarbeit, ein Leitfaden der Neugierde. Der Titel des ersten Kapitels "Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt ..." wirkt wie eine stolze Selbstbehauptung am Ende eines langen Weges von Schreiben und Erinnern.

    Das Erinnern aber ist erst einmal mit den Gefühlen der Scham und Ohnmacht verbunden, Gefühle, an die Semprun zuallererst denkt, wenn er sich die Zeit des Gymnasiums wieder verlebendigt, als zwei Nonnen seine Unterwäsche inspizierten. Assoziativ und in fließenden Übergängen wechselt er nun beständig die Ebenen: rekonstruiert aus alltäglichen Handlungen, Gesten und Situationen, aus der Konfrontation mit Macht und Autorität seine erstmals erfahrenen Gefühle von Traurigkeit, Verlassenheit und Verzweiflung; spricht im selben Atemzug vom politischen Geschehen: Er zählte gerade mal fünfzehn Jahre, als der spanische Krieg verloren ging. -Am 23. Februar 1939 Truppen, in Paris eingetroffen. Jetzt erinnert er sich einer peinlichen Situation während der Fahrt nach Belgien, taucht dann wieder ein die Gefühle, die er im Gymnasium hatte, spricht in teilweise sich wiederholenden Wendungen von Verzweiflung und Haß, von der Vergewaltigung seiner Intimität der "Gewißheit eines radikalen Endes. Oder eines absoluten Beginns", in jedem Fall: dem Ende der Kindheit dem Beginn des Mannesalters, der Entdeckung der Geheimnisse von Paris und der Weiblichkeit und der Aneignung der französischen Sprache:

    "Keine Bindungen, kein Gewicht: dieses offenkundige Unglück war auch eine Chance. Ich trieb in der belebenden Ungewißheit der Entwurzelung. In der bangen Zuversicht meines wild pochenden Herzens. Ich war voller Neugier."

    Nichts mehr habe er besessen. Nur noch sich selbst und seine Erinnerungen. Uend hinter den Gesichtern der Wäscheprüferin sieht er die Gesichter der belgischen Polizisten und den eisigen Blick eines holländischen Priesters. Damit leitet Semprun über zu seiner Beziehung zu seinem Vater. In einem immer neue Kreise bildenden fragenden Reflektieren und einem sich der damaligen Sinneseindrücke und Empfindungen Vergewissern wird auch für den Leser geradezu schmerzlich erfahrbar, wie sich hier der Glaube an die Kindheit auflöst, sich dieser Glaube bloß als ein "kultisches und kulturelles Schnurren" erweist. Aber diese Ende hat auch etwas Erlösendes an sich, denn eine Berufung, die zum Schriftsteller, wartet nur darau£ angenommen zu werden. Für alle Beteiligten - Vater, Mutter und Sohn - gilt die Bestimmung ohne jeden Zweifel, höchstens noch Präsident der Republik schien als Alternative in Frage zu kommen.

    Semprun wird schließlich beides- Schriftsteller und Politiker, nicht Präsident, aber spanischer Kulturminister, und diese spätere Lcbensphase sowie die Zeit danach werden jetzt als perspektivische Ebenen der Erinnerung eingeführt: "... die Erinnerungen strömen herbei, in ineinander verflochtenen Büscheln, in Strudeln."

    Im Anblick alter Fotografien überschneiden sich Konkretes, Faßbares und Imaginäres, Rekonstruiertes und Konstruiertes - und manchmal ist es, als sei das jetzt wieder betretene Zimmer nur eine Kopie desjenigen im Gedächtnis. In schönen und eindringlichen Passagen schildert dann Semprun, wie dieses Wechselspiel von Realität und Erfundenem seine Bücher bestimmt, wie die geschaffenen literarischen Doppelgänger sein Leben bestimmten; die fiktiven Tode, die er seine Personen sterben ließ, waren

    "Köder, die ich vor dem Maul des schwarzen Stiers meines eigenen Todes schwenkte, dem ich seit jeher bestimmt bin. (...) Seither habe ich meine Reserven ausgeschöpft. Ich habe keine fiktiven Personen mehr, die ich an meiner Stelle könnte sterben lassen. Alle meine Pseudonyme, alle meine Kriegsnamen sind benutzt worden, verstreut im Wüstenwind des Todes."

    Nunmehr stehe er, so sein Fazit, einsam und nackt vor dem Tod. Jetzt könnten auch zum ersten Mal, abgelöst von den alten Masken, intime Erinnerungen an die Kindheit in ein Buch einfließen.

    "Unsere allzu kurzen Sommer" ist ein Buch der Rückbesinnung auf die großen Leseerfahrungen - auf Baudelaire, Rimbaud, Gide und Hegel, Nizan, Sartre, Malraux und Leiris und deren einzigartige Sprachformen und ein Buch des beginnenden Lebens als Schriftsteller, mit essayistischen Passagen Ober die Sprache und die Literatur, ein Erinnerungsbuch der Zeit vor Buchenwald - und doch ist diese "Erfahrung der manchmal grauenhaften, manchmal strahlenden Gewißheit des Todes" als Schatten gegenwärtig. Bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr sei seine ganze erzählerische Phantasie geradezu magnetisch von dieser "ausdörrenden Sonne", der "Flamme des Krematoriums" angezogen worden:

    "Selbst in den Erzählungen, die von der persönlichen Erfahrung am weitesten entfernt waren, in denen alles stimmte, weil ich es erfunden hatte, und nicht, weil ich es erlebt hatte, war der alte Brandherd am Werk, glühend oder unter der Asche glimmend. Ich habe alles versucht, um dieses Los zu bannen, um zu vermeiden, daß dieses todbringende Gedächtnis dasjenige meiner Figuren belastet."

    So manche "erzählerische Maschinerie" habe er nur erfunden, um seine Figuren einzufangen und sie mit diesem schweren Gewicht des Erlebten zu belasten. Aber schließlich wollte er nicht gezwungen sein, auf immer in und von diesem Gedächtnis und dessen Schätzen und Trübseligkeiten zu leben. Er habe dann angefangen, sich Ober die Hindernisse zu ärgern, die dieses Gedächtnis vor seine erzählerische Phantasie aufbaute. In gewisser Weise habe er nur in Auflehnung gegen diese alles beherrschende und blindmachende Erfahrung Schriftsteller werden können. Nur so habe er das Territorium des "Anders-Seins" und des "Ein-anderer-Sein" künstlerisch neu erobern und erfinden können. Als er "Unsere allzu kurzen Sommer" schrieb, habe er das Gefühl gehabt, eine verlorene Freiheit wiederzufinden, so, als entrisse er sich selbst einer schicksalhaften Abfolge von ZufäIlen und Entscheidung. Nahezu unbemerkt spielt dann die Erfahrung von Buchenwald doch wieder in diese Auflehnung und Aussparung in, etwa in den das Buch mitbestimmenden Reflexionen über die Sprache, vor allem die französische, aber auch die deutsche, deren Kenntnis ihm eines Tages genutzt habe. Und hier nun der gereadezu unscheinbare Hinweis: "es sollte noch weitere Male geben." Keine weiteren Informationen. Aber der Leser von Sempruns Buch "Was für ein schöner Sonntag" weiß, welch ausschlaggebende Bedeutung für seine Zeit in Buchenwald die Kenntnis des Deutschen und der deutschen Literatur hatte: Weil er Goethes Werk kannte, erscheint er einem Hauptsturmführer als ein menschliches Wesen, als Teil der Kultur und Zivilisation.