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"Unsere Schuld ist unermesslich groß und schreit nach Sühne"

Es mag am schrecklichen 20. Jahrhundert liegen und dem zweifachen Bruch mit einem verordneten Erinnerungskodex, dass sich die Bundesrepublik mit der Pflege von Vorbildern so schwer tut. So kommt es, dass Andreas Hermes heute ein weithin vergessener Name ist. Dieser Mann geriet zuerst mit den Nazis, dann mit den Kommunisten in Konflikt. Umso sehr muss man die Autobiographie seines Sohnes Peter Hermes begrüßen, die zugleich das Leben des Vaters mit widerspiegelt.

01.09.2008
    Peter Hermes, lange Jahre Staatssekretär im Auswärtigen Amt, auf vielen Auslandsmissionen darunter Washington, war einer der herausragenden Diplomaten der alten Bundesrepublik. Lesenswert ist der Teil der Lebensschilderung, der sich mit den Stationen seiner Laufbahn beschäftigt. Er kommt einem Kaleidoskop von fünfunddreißig Jahre Bonner Außenpolitik nahe und ist besonders eindrucksvoll dort, wo der Autor Einblicke in den keineswegs immer glamourösen Alltag des Diplomaten zulässt.

    Der historisch interessierte Leser wird größeren Gewinn aus dem ersten Teil der Autobiographie ziehen. Peter Hermes wird 1922 geboren. Die Welt, in die er eintritt, ist auch die Welt des politischen Katholizismus. Die Eltern sind Rheinländer, der Zusatz katholisch hat hier Bedeutung: Der Vater, Andreas Hermes, vertritt bis zum bitteren Ende den Wahlkreis Köln-Aachen. Zusammen mit dem ebenfalls katholisch geprägten Wahlkreis Koblenz-Trier ist dieser bei der letzten demokratischen Wahl am 5.März 1933 der einzige, in dem die Nazis nicht stärkste Partei sind.

    Andreas Hermes wird am ominösen Tag von Potsdam in sogenannte Schutzhaft genommen. So beginnen die politischen Schikanen der Nazis üblicherweise. Der nachfolgende Strafprozess wegen angeblicher Veruntreuung von Bauernverbandsgeldern ist unfair, natürlich. Plötzlich gilt der junge Peter seinen Lehrern und Mitschülern als Sohn eines Sträflings.

    "Ich war fest von der Unschuld meines Vaters überzeugt, für die meisten anderen aber galt, wie bis dahin auch für mich, dass ins Gefängnis nur Schuldige gesperrt werden. Wie hätte ich Elfjähriger meine Mitschüler auch davon überzeugen können, dass mein Vater ohne Schuld im Gefängnis war? Ich litt an diesem Unvermögen, meinen Vater rechtfertigen zu können, und fühlte mich selbst stigmatisiert. So erfuhr ich früh, was es heißt, abgestempelt zu sein durch einen Namen, durch Zugehörigkeit zu einer Familie"."

    Der alte Hermes nimmt, amnestiert aber nicht freigesprochen, keine Arbeit in Deutschland mehr an, angewidert von den politischen Verhältnissen. Mit seiner Frau geht er für drei Jahre als landwirtschaftlicher Berater nach Kolumbien. Anfang 1939 kommen die Eltern Hermes zurück. Wenige Monate später ist Krieg. Nur noch ein paar Monate bleiben Peter bis zum Abitur. Es folgt der Reichsarbeitsdienst. Der Krieg beginnt. Peter Hermes glaubt, dass Hitler aufgrund seiner Maßlosigkeit den Krieg verlieren wird. Er wünscht auch keinen Sieg, träumt von einer Beseitigung der Nazis und einen Frieden, der keine Katastrophe ist.

    Es kommt anders. Peter Hermes befindet sich als Flaksoldat in Oberschlesien, als sein Vater im Zusammenhang mit dem Attentat des 20.Juli verhaftet wird. Andreas Hermes ist keiner der Protagonisten des Putschversuchs. Zum aktiven Widerstand habe ihm die Tollkühnheit gefehlt, schreibt der Sohn. Allerdings hat Andreas Hermes in Verbindung mit führenden Verschwörern wie Carl Goerdeler gestanden. Adenauer hielt Goerdeler für geschwätzig und wahrte Abstand. Was gab Goerdeler in der langen Haft vor seiner Hinrichtung preis? Der heute 85jährige Sohn Hermes sieht Fragen:

    "Die Rolle Goerdelers in der Zeit nach seinem Todesurteil bis zu seiner Hinrichtung ist sicher noch nicht völlig geklärt, aber bei den Gefangenen, die in Verbindung mit dem 20. Juli in den Gefängnissen und Konzentrationslagern saßen, gab es eine weit verbreitete Meinung, dass Goerdeler sehr viel ausgesagt hätte über die Personen und die Umstände, die zum 20. Juli 1944 geführt haben."

    Das Todesurteil gegen Andreas Hermes verhängt der Volksgerichtshof unter Freisler am 11. Januar 1945. In Erwartung des Todes schreibt Andreas Hermes seinem Sohn einen Abschiedsbrief. Er gelangt nach draußen auf dem Boden eines mehrstufigen Kochgeschirrs, in dem die Mutter dem Vater hin und wieder Essen in die Haft bringen darf.

    ""In tiefer Traurigkeit richte ich diese Zeilen an Dich mit meinem letzten Segen und letzten Lebewohl, ehe ich zu unserem Schöpfer zurückkehre". "

    Mit diesen Worten beginnt der Brief. Klarsichtig bildet Andreas Hermes die Summe der Hinterlassenschaft des Dritten Reiches:

    ""Unsere Schuld ist unermesslich groß und schreit nach Sühne für die zahllosen gemordeten Menschenleben, für das tausendfach verletzte Recht, für die Entsittlichung unseres Volkes, besonders der Jugend, für die in unmenschlicher Unbarmherzigkeit über unser Volk und andere Völker verhängten namenlosen Leiden und Qualen."

    Nach dem Zusammenbruch werde es darauf ankommen, dass sich das deutsche Volk seiner Schuld stelle.

    "Nur wenn unserem Volk die furchtbare Bilanz der Herrschaft des Verbrechertums nackt und vollständig vor Augen geführt wird, darf eine nachhaltige innere einkehrt und Genesung erhofft werden."

    Nach Monaten in der Todeszelle kommt Andreas Hermes in den Wirren der letzten Kriegstage am 23.April frei.

    Sein Sohn Peter ist im März in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Abermals verknotet sich sein Schicksal mit dem des Vaters. Als Nazi-Gegner wird Andreas Hermes Vorsitzender der neuen CDU in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Konflikt mit der kommunistischen Besatzungsmacht lässt nicht auf sich warten. Der CDU-Chef soll seine Unterschrift unter die Bodenreform setzen. Er weigert sich. Man versucht es mit Erpressung, stellt ihm die Entlassung seines Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft in Aussicht. Andreas Hermes weigert sich. Darf man das als Vater? Andere bürgerliche Politiker wie Wilhelm Külz, Vorsitzender der LDPD, erreichen durch Wohlverhalten die Rückkehr ihrer Söhne. Sind sie die besseren Väter?

    Am 29.Mai 1946 schreibt Peter Hermes, damals 23, in dem Bewusstsein, sich in Sippenhaft zu befinden, dem inzwischen von Marschall Shukow als CDU-Chef abgesetzten Vater diese Zeilen:

    "Mein Leben und meine Zukunft stehen in Gottes Hand. Ich will mit gleicher Treue meinen Überzeugungen anhängen, wie Du es, lieber Vater, in Deiner unerschütterlichen Haltung bis zum Schafott mir vorgelebt hast. Gehe Deinen Weg weiter, als wenn ich nicht existierte. Habe mich, als hättest Du mich nicht."

    Peter Hermes verläßt am 26.Dezember 1949 mit dem letzten Heimkehrerzug Rostow am Don.
    Wenigstens ihn kann Andreas Hermes, zu diesem Zeitpunkt bereits im Westen, in die Arme schließen. Die beiden anderen Söhne hat er im Krieg verloren. Im Westen wird Andreas Hermes für einen kurzen historischen Moment zum Widerpart Konrad Adenauers. Die Berliner CDU-Gründung ist die früheste. Doch Adenauer setzt sich durch. Nicht ohne Grund, sagt Peter Hermes:

    "Diese Durchsetzungskraft und diese zum Teil auch sehr trickreiche Art, in der Politik an die Spitze zu kommen und an ihrer Spitze zu bleiben, die lag meinem Vater wahrscheinlich nicht. Ich würde sagen, da es ja im Wesentlichen hier darum geht, Adenauer oder Hermes im Jahr 1946: Adenauer war im Politischen die stärkere Figur."

    Eine Heldengeschichte wollte Peter Hermes nicht schreiben. Seine Erzählung ist nüchtern, streckenweise gleicht sie einem Rapport. Der Verzicht auf Stilisierung und Pathos ist gewinnbringend vor allem dort, wo die Autobiographie zur Biographie wird, zur Biographie von Andreas Hermes, der zwei totalitären Regimen widerstand.

    Peter Hermes: Meine Zeitgeschichte 1922-1987
    2007, 342 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, EUR 44.90 / CHF 71.00, ISBN: 978-3-506-76464-5