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Unseren täglichen Kanon gib uns heute

Spätestens seit Nick Hornbys vorzüglichem Roman "High Fidelity" weiß man, dass das Anlegen solcher Listen ein genuines Ritual des Popkonsums ist, und wundert sich dementsprechend nicht, wenn einem in Musik-Zeitschriften allenthalben mitgeteilt wird, worauf die Redaktion sich mit gemeinsamem Enthusiasmus und individueller Enttäuschung einigen konnte.

Von Walter Grasskamp |
    In der Welt der Kunstzeitschriften ist diese Listeritis dagegen eine eher unbekannte Abschweifung vom normalen Geschäft der Monografien, Reportagen und Ausstellungsbesprechungen. Ist die Kunstzeitschrift "art" inzwischen womöglich auch ein Organ des Popkonsums geworden? Ist der listenreiche Nick Hornby der Pate dieser Liste, weil er in seinem Roman bewiesen hat, welches Lusterlebnis der Streit um die höchste Konsumkompetenz auch in der Hochkultur darstellen kann?

    Oder wollte "art" der Kommerzliste von "Capital" eine unabhängige Orientierung entgegensetzen, sozusagen als Dienstleistung einer seriösen Kunstkritik? Letzteres käme nicht überraschend, wenn man die gegenwärtige Lage in der Literaturkritik betrachtet. Denn mit nichts anderem scheinen Deutschlands führende Literaturkritiker momentan intensiver beschäftigt, als solche Orientierungen zu lancieren oder zu verwerfen: Marcel Reich-Ranicki hat gerade einen Kanon der wichtigsten Bücher des 20.Jahrhunderts für Suhrkamp zusammengestellt, wo Fritz J. Raddatz schon vor Jahren "Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher" herausgegeben hatte; Hellmuth Karasek setzt im "Reader’s Digest" seinen Kanon gegen den des einstigen Partners im "Literarischen Quartett", und Joachim Kaiser veröffentlichte bei Harenberg gleich "Das Buch der 1000 Bücher".

    Woher kommt diese Kanonseligkeit der Gegenwart, für die sich auch die "Schülerbibliothek" anführen ließe, welche die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" seit wenigen Wochen zusammenstellt? Ein ähnlicher Hang zum Kanon grundierte ja auch regelrechte Bestseller wie zum Beispiel des Buch "Bildung. Alles was man wissen muss" von Dietrich Schwanitz, die sich mit einer offenbar gefährdeten Allgemeinbildung in einer Weise beschäftigen, dass der Leser anschließend weiß, was er wissen und kennen muss und was nicht oder nicht mehr.

    Alle diese Kompilatoren werden von ihren Kollegen erfahrungsgemäß auch für alles gescholten, was sie dabei über- oder unterbewertet haben, denn sie beanspruchen mit ihren Listen die Protokollhoheit in Fragen der kulturellen Etikette. Wie selbstbewusst die Programmgestalter der Bildung sich dabei auch immer streiten mögen, ihre Dispute sind eher Indiz für eine Krise als deren Lösung.

    Denn die Konsumgesellschaft lebt vom Überangebot und fordert von ihren Kunden eine enorme Arbeitsleistung an Orientierung, wenn sie nicht nur als Marionetten der Supermärkte agieren wollen, sondern sich als Konsumauten so souverän durch die Milchstraße der Offerten und Sonderange-rote navigieren, dass ihre jeweilige personal choice zu einer individuellen Konsumbiografie wird.

    Vorbei sind allerdings die Zeiten, als sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine kulturelle Elite über ihre gemeinsamen Konsumbiografien als "führende Geschmacksträgerschicht" etablieren konnte, wie sie der Literaturhistoriker Helmut Kreuzer in den 1960er Jahren im Nachhinein genannt hat. Diesem vergangenen Phänomen einer homogenen kulturell tonangebenden Schicht hat Manfred Fuhrmann vor zwei Jahren mit seinem Buch "Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters" ein eindrucks-tolles Denkmal gesetzt.

    Heute ist die hohe Kanonemsigkeit dagegen ein Beleg dafür, dass solche Verbindlichkeiten einer Geschmacksführerschaft lange dahin sind, auch und gerade in der Hochkultur. Die attraktive Rolle wird zwar immer noch besetzt, aber das dazugehörige Spiel wird nicht mehr gegeben. Die Empfehlungen von Kulturwaren ist nämlich längst selbst zur Ware geworden.

    Die grassierende Kanonitis verrät ein letztlich nur ein gewisses Heimweh nach einer kulturellen Verbindlichkeit, welche die Moderne lustvoll unterminiert hat. Aber Heimweh schafft bekanntlich keine Heimat, sondern zeigt nur ihren Verlust an. Und wie sollte erst ein seriöser Kanon für die unmittelbare Gegenwart aussehen, die doch noch im Fluss ist? Unterscheidet sich die Favoritenliste von "art" letztlich wirklich gravierend vom "Capital-Kunstkompass", außer darin, dass die Kriterien eher subjektiv sind und nicht so präzise genannt werden können wie im kompliziert errechneten Kunst-Kompass?

    Aufschlussreicher und verdienstvoller wäre es vielleicht gewesen, eine Liste jener zeitgenössischen Künstler zu erstellen, die man für unterbewertet oder unterschätzt hält, die - aus welchen Gründen auch immer – im Ausstellungswesen und Galerienbetrieb marginalisiert sind, sich daraus zurückgezogen haben oder erst gar nicht darin vorkommen wollen. Eine solche Liste könnte nur noch subjektiver sein und damit überhaupt kein Kanon, aber spannender wäre sie allemal.

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