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Unter den Augen des Ödipus

In diesem Jahr gibt es in Avignon gleich drei neue Produktionen französischer Regisseure. Der über 60-jährige Joel Jouanneau, Regisseur und Autor von über 20 Stücken, setzt sich mit der Ödipus-Geschichte auseinander. Christophe Honoré kommt vom Film und widmet sich Victor Hugo. Und Claude Régy, der französische Regisseur für Gegenwartsdramatik, inszeniert die "Ode Maritime" von Fernando Pessoa.

Von Eberhard Spreng |
    Joël Jouanneaus "Sous l'Oiel d'Oedipe" will Thebens Untergang, den allmählichen Verfall einer Stadt und ihrer Herrscher als einen großen Verblendungszusammenhang erzählen, als ein Drama des Nichts-Sehens. Und so als solle uns all das, was die Figuren untereinander nicht begreifen, überdeutlich vor Augen gestellt werden, blickt der Zuschauer von zwei parallelen Arenarängen auf den breiten Spielfeldstreifen, wo es ein Verbergen in Kulissen und ein Spiel mit Requisiten und anderem Beiwerk nicht geben kann.

    Ein stolzer König Ödipus bekommt hier von einem alten Mann Besuch. Es ist der Stadtgründer Kadmos, der Gründervater Thebens, der hier, in der gut dreistündigen Aufführung als mythologische Allegorie, immer wieder ins Spiel eingreift. Schnell begreift Ödipus seine Blutschande, schnell blendet er sich und streift als Penner durch die Welt, begleitet von der Tochter Antigone. An ihr ist es nun, den Machtkampf der Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes zu schlichten.

    Als die beiden Brüder tot sind und Polyneikes vor Thebens siebtem Tor dem Herrscherwort zufolge unbestattet im Staube liegen bleiben soll, geraten die beiden Ödipus-Töchter Antigone und Ismene in Streit über inneres und äußeres Gesetz, Herrscherwort und Traditionspflege. Die Tragödien "König Ödipus" und "Ödipus auf Kolonos", ein wenig "Sieben gegen Theben" und "Antigone", verdichtet zur Chronik, zur flotten Zeitreise. Verwirrte Körper in unwillkürlichen Zuckungen, laute Anrufungen, Jouanneau bebildert seinen auf Aischylos und Sophokles basierenden und teilweise vom griechischen Dichter Jannis Ritsos inspirierten Text mit pädagogischer Deutlichkeit.

    "Wenn ich heute Sophokles und Euripides lese, kann ich nicht mehr alles erschließen, weil die alten Worte von ihrer Wahrnehmungsgeschichte infiziert wurden. Als ein Mensch des 21. Jahrhunderts habe ich diesem Mythos gegenüber meine Unschuld verloren. Denn wir wissen ja schon vorher, dass Ödipus als ein Schuldiger auf die Welt kommt. Jemanden die Unschuld zu nehmen, ihm einen Fluch aufzuerlegen, ihn zum Paria zu machen, kann in unserer heutigen Gesellschaft, in der sich die Parias zu Millionen vervielfältigt haben, nicht mehr als Tragödie erzählt werden."

    Wo Jouanneau in seiner sehr freundlich aufgenommenen, klaren und strengen Inszenierung im Fahrwasser klassischer Antikeninszenierungen verbleibt, hat der Filmregisseur Christophe Honoré in seiner Realisation des frühen Victor-Hugo-Stücks "Angelo, Tyran de Padou" in einer milde postmodernen Inszenierung melodramatische, burleske und expressionistische Elemente gemischt. Eine übergreifende Idee ist in der Arbeit des Filmregisseurs und Schriftstellers Christophe Honoré allerdings nicht erkennbar. Vollends ärgerlich war "Le livre de JAN" des Hubert Colas um die verstreuten Erinnerungen, die die Freunde eines verstorbenen Künstlers und Exzentrikers austauschen.

    Wie gut, dass es neben der französischen 30+ Generation beim diesjährigen Avignon-Festival der Erzählformen noch einen 86-Jährigen gibt, der all das, was man dem französischen Theater immer vorhält - Vernarrtheit ins literarische, statuarische Aufsagetheater, hehre Rhetorik - als sinnmächtige formvollendete Kunst präsentiert.

    Eineinviertel Stunden steht Jean-Quentin Châtelin im bläulichem Dämmerlicht völlig bewegungslos auf einem Steg vor einer neblig schimmernden Wand und spricht Fernando Pessoas "Meeres-Ode", Tagtraum und Reise einer von ihren erotischen Fantasien geplagten Seele hin in das Unendliche des Meeres und seiner unkontrollierbaren eigenen Gesetze. Nichts wird gezeigt, aber alles tritt dem Zuschauer auf der Bühne der eigenen Imagination vor Augen, so als sähe er, während er auf die fahle Bühne mit dem Erzähler blickt, in die Fantasiewelten des berühmen Autors. Dessen Anderssein ist denn auch für den zornigen Altersregisseur Garant für ein Theater abseits der herrschenden Wirklichkeit und die Schaffung eines eigenen autonomen Erlebens.

    "Mich fasziniert die Arbeit mit der Literatur eines Mannes, der wie kein anderer die Fundamente unseres Lebens erschüttert hat. Pessoas Literatur ist eine fundamentale Ablehnung des entfremdeten Lebens, das uns die Mächte und Herrschenden aufzwingen."

    Mit Standing Ovations bedankte sich das Publikum in Avignon für eine Arbeit, die dem Raum dessen, was der französischen Sprache auf einer Theaterbühne möglich ist, neue Räume erschließt.