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Unter der Oberfläche

Bereits in seinen Romanen "Nachtfahrt" und "Eismond" ließ Jan Costin Wagner seine Protagonisten in die Abgründe der menschlichen Seele stürzen. Mit seinem neuen Roman "Schattentag" erweist sich der 1972 in Langen bei Frankfurt am Main geborene Autor einmal mehr als Experte für Extremsituationen.

Von Ralph Gerstenberg | 22.12.2005
    Eine Frau und ein Mann auf einer Insel. Der Mann ist blind, die Frau seine Jugendliebe, die zu ihm zurückgekehrt ist - genau an dem Tag, an dem er sein Augenlicht verloren hat. Eine Begegnung im Krankenhaus. Zufall? Dann geschieht ein Verbrechen. Jemand stürzt von einer Klippe. Wurde er hinunter gestoßen? Und wieso verdächtigt der Kommissar ausgerechnet den blinden Mann? Jan Costin Wagners Bücher haben Plots wie Kriminalromane. Es geschehen Verbrechen. Jemand will die Wahrheit herausfinden. Für sein Romandebüt "Nachtfahrt" erhielt Wagner 2002 den Marlowe-Preis für den besten Krimi.

    "Im Prinzip schafft das Verbrechen, im schlimmsten Fall der Mord, die Extremsituationen, die ich suche. Der Ausgangspunkt, die Triebfeder für mich zu schreiben, ist die Extremsituation und die Frage, wie Menschen damit umgehen, was in ihnen vorgeht, wie sie sie bewältigen oder nicht bewältigen. Und da liegt das Verbrechen dann nahe, weil es eine besonders extreme Situation schafft. Insofern ist das aber keine Genrefixierung. Ich schreibe auch das Genre, ich will auch das Genre schreiben, aber eben nicht in dem Sinne, dass man sagt: Das ist jetzt ein Kriminalroman. Diese ganz starren Muster, die kann ich nicht nachempfinden."

    Dabei kann man Wagners neuesten Roman "Schattentag" durchaus als Kriminalroman lesen, allerdings als einen, der sich selbst ad absurdum führt. Und wie bei einem echten Krimi darf man das überraschende Ende selbstverständlich nicht verraten.

    Der blinde Mann ertastet sich seine Umgebung. Mara, seine Geliebte, beschreibt ihm die Farben der Insel, die er nie wieder verlassen will. Den Rest ergänzt die Vorstellungskraft. Nach und nach dringen Erinnerungen ins Bewusstsein, vermischen sich mit surrealen Situationen, Sätzen, Sentenzen, Splittern von Träumen. Dinge, die Verwirrung stiften und Klarheit schaffen! Ein ganz normales Leben gewinnt an Konturen. Ein Leben mit einer Frau, einer Tochter, einem Haus, einem Pferd, einem Kompagnon, einer Prostituierten …

    In "Schattentag" schildert Jan Costin Wagner die unspektakuläre Alltagswelt eines Mannes, in der ein vom Blatt fallender Regentropfen ebenso bedeutungsvoll ist wie der Tod der Eltern.

    "Die Triebfeder in dem Fall war die Frage: Was spielt sich ab einen Schritt unterhalb der Oberfläche des Lebens eines Mannes, wie er heute lebt, in unserer Lebenswelt? Im Prinzip wollte ich in "Schattentag" das Spektakuläre im Alltäglichen abbilden, also die ganz normale Katastrophe, also keine von außen kreierte Katastrophe zugrunde legen, sondern einfach, was in diesem Mann vorgeht, und deutlich machen, wie extrem die Normalität sein kann. Die Katastrophe eines Menschen, der begreift, dass er sich selbst nicht auf den Grund gehen kann und der zu einem bestimmten Zeitpunkt gezwungen ist, sich selbst auf den Grund zu gehen, der dorthin getrieben wird: Auf den Grund seines Lebens."

    Bereits für seine früheren Romane "Nachtfahrt" und "Eismond" wählte Jan Costin Wagner Schauplätze, die mit seinem unmittelbaren Lebensumfeld im Rhein-Main-Gebiet nur wenig zu tun haben. Orte in Finnland oder Frankreich, die geografisch unkonkret und abstrakt bleiben, Seelenlandschaften wie aus Träumen oder Filmen, die eine Grundatmosphäre schaffen und die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten widerspiegeln. Abstrakter als in "Schattentag" könnte die Umgebung kaum sein: Eine Insel mit einem Holzhaus, wahrgenommen von einem Mann, der blind ist. Warum?

    "Weil es mir um das geht, was im Menschen abläuft und nicht außerhalb in irgendeiner bestimmten Stadt, in einer bestimmten Straße, in einer bestimmten Hausnummer. Ich wollte eigentlich die extremste mögliche Konstellation, um diesen Protagonisten wirklich bei Null beginnen zu lassen und in diesen Roman sich hineinzutasten wie der Leser."

    Der Leser ist mit dem Ich-Erzähler gewissermaßen auf Augenhöhe, soweit man das mit einem Blinden sein kann. Der Blick geht nach innen. Man taucht ein in ein getrübtes Bewusstsein, das darum bemüht ist, Gedanken und Erinnerungen zu ordnen.

    Jan Costin Wagner collagiert und rhythmisiert höchst kunstvoll poetische Bilder, Dialogfetzen, Alltagssituationen; er arbeitet mit Wiederholungen und Textüberlagerungen, um den Zustand einer aus den Fugen geratenen Lebenswelt in eine aufs Essentielle reduzierte Sprache zu bringen. Knapp und wahrhaftig, zärtlich und traurig erzählt er von der geistigen Grenzerfahrung eines Mannes, dem die Wirklichkeit entglitten zu sein scheint. Kein Wort zuviel, kein falscher Ton. Und dass es Wagner gelingt, bei aller sprachlichen Experimentierfreudigkeit den Leser bei der Stange zu halten, liegt vor allem daran, dass er es versteht, eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte mit einem Spannungsbogen.

    "Das ist mir sehr wichtig. Man kann es eigentlich so sagen: Ich will einen spannenden Roman schreiben. Ich will, dass der Leser es gerne liest. Und ich kann Autoren nicht begreifen, die das nicht wollen. Denn wenn ich nach außen schreibe - für mich, aber auch für Leser -, dann will ich doch, dass sie das mögen. Und das tun sie nur, wenn in ihnen eine Spannung entsteht. Spannung ist ja nicht Kriminalliteratur oder Mord und Totschlag, sondern eine Spannung entsteht, wenn der Leser merkt, das fesselt mich. Und das will ich unbedingt."

    Jan Costin Wagner "Schattentag", Eichborn Berlin, 186 Seiten, 17,90 Euro