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Unter die Haut und ins Hirn

Der Dichter Thomas Brasch war schon zu Lebzeiten eine berüchtigte Figur. Bekannt wurde er durch seine Übersiedelung in den Westen, um seine Bücher unzensiert veröffentlichen zu können. Als stärkste Begabung gilt bei ihm das Gedicht. In "Die nennen das Schrei" lässt sich das nun nachprüfen.

Von Insa Wilke | 08.09.2013
    Im Januar hat ein Berliner Club mit dem schönen Namen "Club der Polnischen Versager" unter dem Motto "Die Liebe und ihr Gegenteil" eine Revue für den 2001 verstorbenen Dichter Thomas Brasch veranstaltet. Der Andrang war so groß, dass ein verzweifelter Journalist heimlich durchs Hinterfenster einstieg. Kurze Zeit später folgten ihm auf gleichem Weg zwei weitere Brasch-Fans – und eine Katze. DAS hätten mal die Leute sehen sollen, die hartnäckig behaupten, Thomas Brasch sei zwar in den 80er Jahren als Stimme seiner Generation und literarisches Ausnahmetalent gefeiert worden, heute aber vergessen. Selbst Katzen wissen offenbar, dass Klänge wie diese kein Verfallsdatum haben:

    Dornröschen und Schweinefleisch

    Wer geht wohin weg
    Wer bleibt warum wo
    Unter der festen Wolke ein Leck
    Alexanderplatz und Bahnhof Zoo

    Abschied von morgen Ankunft gestern
    Das ist der deutsche Traum
    Endlich verbrüdern sich die Schwestern
    Zwei Hexen unterm Apfelbaum

    Wer schreibt der bleibt
    Hier oder weg oder wo
    Wer schreibt der treibt
    So oder so


    Was scheinbar so einfach klingt, ist ein Wort für Wort genau gefügtes Sprachkunstwerk. "Dornröschen und Schweinefleisch" ist um 1971 entstanden, gehört zu den bekanntesten Gedichten von Thomas Brasch und wurde schon vielfach nachgedichtet, fortgeschrieben und auch parodiert. Das Gedicht formuliert eine vielschichtige Kritik an der rückwärtsgewandten politischen Utopie eines vereinigten Deutschland. Veröffentlicht wurde es 1980 in dem Gedichtband "Der schöne 27. September". Endlich sei die Lyrik zurück in Deutschland, rief Marcel Reich-Ranicki damals aus. Dabei war gerade dieses Buch, das einen Tag in Deutschland besingt, durchaus umstritten. Die einen ärgerte Brasch mit derben Gedichten wie "Drei Wünsche, sagte der Golem", in dem sich das über den "Gestank der Demokratie" spottende Ich wünscht, auf "einer Atombombe über dem Bahnhof Frankfurt" zu reiten. Andere, wie der Journalist Michael Schneider, beschwerten sich über mangelndes Engagement und das asoziale Ich im Geiste von Brechts Baal. Im Untergrund dieser Verse aber, und das hatte Marcel Reich-Ranicki wohl erkannt, drohte jemand einsam zu ersticken am "Ansturm der Windstille" und verschaffte sich brutal, radikal und skrupellos Luft.

    Thomas Brasch setzte sich glücklicherweise weiter "zwischen alle Stühle". Seine große Begabung war seine intellektuelle Scharfsinnigkeit, sein melancholischer Witz und sein zärtliches Gehör für die Macht des spielerischen poetischen Klangs. Er scheute sich nicht zu reimen, liebte den Rhythmus und Formen wie die Ballade und das Lied. Er beherrschte den Zeilenbruch, selbst hinter dem durchaus mal kalauernden Wortspiel lauert bei ihm bitterer Ernst. Trotz aller Gegenwartsbezüge in seinen Versen - sie altern nicht. Thomas Brasch schrieb immer persönlich, ohne privat zu werden. Seine Verse vermitteln eine Dringlichkeit, der man sich auch zwei Generationen später nicht entziehen kann. Sich verletzlich machen, heißt die Devise, wenn man Brasch liest, auf dem Messer gehen wie Braschs Wahlverwandte Heine, Büchner, Brecht und Shakespeare, den er übersetzte und fortschrieb. Sein "Ringen um einen poetischen Begriff von Gegenwart", wie der Literaturwissenschaftler Thomas Wild es formuliert, provozierte und provoziert noch heute, weil Brasch seine Leser mit in dieses Ringen hineinzieht. Braschs Gedichte sind keine Monaden, sondern heftige Aufforderungen sich zu beteiligen an der Auseinandersetzung mit der Welt und der Frage nach der eigenen Existenz in ihr.

    Anfang der 1990er Jahre dichtete er für den Prolog seiner "Romeo und Julia"-Bearbeitung "LIEBE MACHT TOD" folgende Rede an das Publikum. Sie ist der mehr als tausendseitigen, nun erschienenen Gedicht-Sammlung "Die nennen es Schrei" vorangestellt.

    Vorspiel II
    Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.
    Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.
    Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.
    Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-

    versuch, jaja, ich weiß. Auch der macht Spaß,
    weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,
    denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.
    Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint

    in dem Verein, der richtet und der henkt.
    Ich will, daß ihr euch hier zu Tode lacht,
    voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,
    ersauft in Tränen mitten in der Nacht.

    Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.
    Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt.


    Ist das ein Selbstporträt? Eine spielerische Anverwandlung der Sprache und des schillernden Humors William Shakespeares? Ein beißender Kommentar zur Zeit kurz nach dem Mauerfall? – "Thomas Brasch zu lesen ist das Gegenteil von gemütlich", schreibt sein Kollege Uwe Kolbe. Und der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, sagte über Thomas Brasch, sein ganzes Leben sei "ein wüster Roman, ein Roman über Ost und West". In jedem Finger habe er mehr Begabung als 95 Prozent seiner Kollegen, fügte Peymann hinzu. Eine Begabung, die ihren Preis hatte.

    Thomas Braschs Leben spielte sich entlang der Bruchlinien der deutschen Geschichte ab. Im Neigungswinkel des Jahres 1945 im englischen Exil geboren, wuchs er als ältester Sohn jüdisch-kommunistischer Remigranten in der DDR auf. Es war vor allem der Vater, der am Aufbau des neuen deutschen Staates mitwirken wollte. Er machte Karriere in Partei und Politik, seine Kinder Thomas, Peter, Klaus und Marion Brasch wurden Künstler. Wie tragisch das Familienleben durch die deutsche Politik und Geschichte geprägt wurde, erzählt Marion Brasch in ihrem Roman "Ab jetzt ist Ruhe", der 2012 erschienen ist.

    In Thomas Braschs Leben haben sich vor allem zwei fundamentale Brüche eingeschrieben. Der erste Bruch ereignete sich 1956. Während in Ungarn die Revolution ausbrach, willigte der Zwölfjährige von Versprechungen Gelockte ein, an ein Elite-Internat, die Kadetten-Schule der Nationalen Volksarmee zu wechseln. Nach ungefähr einem Jahr schrieb er seinem Vater von dort, er wolle Schriftsteller werden und bat ihn, die Anstalt, in der sich die Selbstmordversuche der Jungen bis zu ihrer Schließung häufen sollten, dafür verlassen zu dürfen. Aber Horst Brasch antwortete ihm, die Kadettenschule werde ihm nicht schaden und riet ihm, zu lernen und das Kollektiv zu nutzen, um die Menschen besser kennenzulernen. Sein Sohn sollte ausharren und später fest auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Weltanschauung stehen. Thomas Brasch dichtete später:

    WEIL ICH DAS EIGENE VERLOREN HABE
    kann ich nichts mehr schreiben. Jeder
    meiner Gedanken ist mir ganz fremd
    und unnütz. Deshalb lasse ich ihn
    gleich versinken, wenn er auftaucht.
    Zuviel geredet.
    Zu selten geschwiegen.
    Und Angst immer: Vor allem und vor jedem.
    Vor dem Verlassen und dem Verlassenwerden.
    Vor der Gesellschaft und vor der Einsamkeit.
    Vor meiner unnachgiebigen Verteidigung einer
    unwürdigen Unabhängigkeit.
    Und immer der Gedanke ans Sterben.
    Als meine Mutter meine Hand nahm im Auto
    am Tag bevor ich ins Internat abfuhr und
    ich wußte im gleichen Moment, daß ich
    in einen Weg einbog, der mich wegtrieb und
    wollte zurück aber da ging es nicht mehr.


    Auch der zweite Bruch im Leben Thomas Braschs ereignete sich an der Schnittstelle biografischer und historischer Ereignisse. Als Brasch 1968 mit Freunden Flugblätter gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verteilte, wurde er – unter Mithilfe des Vaters, der trotzdem später degradiert wurde – verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Beide Erfahrungen prägten nicht nur Braschs Leben, sondern subtil und doch wesentlich sein Schreiben. Er hatte die Widersprüche der Gesellschaft erfahren und wollte sie nun schreibend aushalten und verschärfen, wie er 1982 in seiner provokanten Dankesrede für die Verleihung des Bayerischen Filmpreises für seinen Film "Engel aus Eisen" sagte. Nach seiner Ankunft im Westen wehrte Thomas Brasch sich gegen die Vereinnahmung als Dissident. Der Kritik an der DDR hielt er entgegen:

    "Ich mache hier die für mich enorm wichtige Erfahrung, dass viele der Erscheinungen, die ich in der DDR für DDR-typisch gehalten habe oder für spezifisch sozialistisch, mir jetzt wiederbegegnen: der Drang zur Perfektion etwa, der Mangel an Humor, die Abwehr gegen vieles, was den allgemeinen Normen nicht entspricht. Das hat offensichtlich mit deutscher Geschichte zu tun und mit Verdrängungen."

    Grundlegend politisch ist die Haltung von Thomas Braschs Gedichten, deren Autor nicht zum "politischen Fall" werden wollte. Denn beim Schreiben sei der Schreiber die Welt, nicht die Landkarte, wie er 1977 der Wochenzeitung DIE ZEIT entgegnete. In seinem Nachwort zu dem Nachlass-Band "Was ich mir wünsche" schreibt Thomas Wild von einer Haltung des "Wünschens und des Fürchtens, des Hoffens und des Verzweifelns, des Schaffens und des Zerstörens". Braschs Gedichte seien in Heines Sinne politische Gedichte aus Liebe, "Texte eines unstillbaren Fragens nach dem Woher und Wohin der eigenen künstlerischen Existenz". Ein Schreiben, so Thomas Wild weiter, das dem Wünschen ebenso unbedingt die Treue halte wie der Wirklichkeit, jener alltäglichen Form von Leben und Liebe, Politik und Kunst, "in der sich die Träume brechen".

    Seine Person im Schreiben riskieren, aber keine "autobiografische Nummer" abziehen, lautete die Aufgabe, der Thomas Brasch sich stellte. Oder, wie der Untertitel von "Kargo" es formuliert: "auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen" ohne in den rückgratlosen rechten Winkel zu fallen wie Thomas Braschs August von Kotzebue-Figur in dem späten Theaterstück "Stiefel muß sterben". Sich verstecken und sich entdecken im Schreiben, darum ging es ihm immer wieder. Nicht, weil er kokettierte, nicht weil er sich wichtig nahm. Sondern weil die Welt erst durch einen Menschen hindurch müsse, so Thomas Brasch, um beschrieben werden zu können. Eines der wenigen Gedichte, das Braschs Haft-Erfahrung direkt verarbeitet, heißt in Anlehnung an Georg Büchner:

    Friede den Wächtern

    An den Wänden Drähte,
    auf dem gebohnerten Fußboden Teppich gegen
    den harten Tritt der Stiefel
    in deinem Rücken. Tür an Tür die Einzelzellen
    der neuen Gesellschaft. Wessen Straße ist die Straße.

    Die Stille ist die Schwester des Wahnsinns.
    Zwischen Hocker und Tür fünf Schritte und
    der Herzschlag zwischen den Schläfen.
    Die Posen:
    Widerstand/Härtetest/Selbstmitleid/Jammer/Gelächter
    sind verbraucht: Leitartikel im eigenen Zentralorgan.

    Schreie im Flur nach zehn Wochen oder zwölf: Ihr
    Verbrecher. Das hastige Tappen der Füße über
    den Teppich. Dein Ohr an der Tür.
    No man is an island. Friede den Wächtern.
    Der Schädel ist kein keimfreies Schlachthaus.


    Die Verbrechen des 20. Jahrhunderts und ihre politischen und sozialen Konsequenzen deformierten die Kriegs- und Nachkriegsgeneration und verbannten viele von ihnen, nicht nur Thomas Brasch, ins finstre "Schädelhaus". Als Künstler aber zwang Brasch sich selbst in sein so von ihm bezeichnetes "Wörtergefängnis", von dem aus er auf der Suche nach immer neuen und genaueren Formen in der Lyrik, aber auch mit der Filmkamera, als Übersetzer, Theater- und Romanschriftsteller rücksichtslos gegen sich und andere in die Welt sprach. In den Traditionen der Romantik und der historischen Avantgarden arbeitete er daran, Leben und Kunst zu verzahnen und nach dem tieferen Zusammenhang von Eigenem und der Gesellschaft, der Politik und Geschichte zu fragen und doch bei dem zu bleiben, was er 1977 dem "Spiegel" sagte: "Ich stehe für niemand anders als für mich."

    Hamlet gegen Shakespeare

    Das andere Wort hinter dem Wort.
    Der andere Tod hinter dem Mord.
    Das Unvereinbare in ein Gedicht:
    Die Ordnung. Und der Riß, der sie zerbricht.


    "Hier wird Brot nicht mit dem Messer geschnitten, sondern mit dem Beil abgehauen", hieß es 1975 in einem begleitenden Kommentar zu Braschs erster und einziger Veröffentlichung in der DDR bis 1988. Der Lyriker Bernd Jentzsch hatte damals frühe lyrische Texte wie das Oratorium "Hahnenkopf", die frühe Fassung der Ballade "Mörder Ratzek weißer Mond" und die Collage "Papiertiger" in seiner Reihe "Poesiealbum" herausgegeben. Das Heft mit den Illustrationen von Einar Schleef kostete damals 90 Pfennige und ist heute mit Glück noch als Sammlerstück für ein Vielfaches mehr antiquarisch zu bekommen. Vergleicht man diese frühen Texte mit den späteren Fassungen in "Kargo" und "Der schöne 27. September" wird die Tendenz zur Verknappung deutlich und Braschs unermüdlicher Versuch, genauer, schärfer zu formulieren, beweglich zu bleiben und unabhängig.

    "Ich gebe alles zu: Ich bleibe nicht beim Thema: Ich beziehe nicht Stellung: Ich kratze mir nur den Dreck weg zwischen den Zehen."

    Es ist den Herausgeberinnen der Gesammelten Gedichte, Martin Hanf, und der Literaturwissenschaftlerin Kristin Schulz zu verdanken, dass man nun auch anhand der Gesammelten Gedichte verfolgen kann, wie Brasch gearbeitet hat. Martina Hanf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv der Akademie der Künste Berlin und betreut Thomas Braschs Nachlass. Unter dem Titel "Die nennen das Schrei" haben Hanf und Schulz die bereits veröffentlichten, allerdings zum Teil vergriffenen Gedichtbände sowie verstreut und entlegen veröffentlichte Gedichte wieder abdrucken lassen. Vor allem aber stammt fast die Hälfte der Gedichte aus dem Nachlass. Nicht alle davon sind erstmals veröffentlicht, da es bereits zwei Nachlassbände gibt. Aber der Anteil der bisher unveröffentlichten Texte ist enorm. Da Brasch seine Gedichte selten datierte, sie teilweise auf Bierdeckel, Hotelrechnungen oder Servietten aus Berliner Kneipen schrieb, bietet ihre chronologische Anordnung ebenso wie der Kommentar, der zu jedem Text Informationen zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte, zur Rezeption und teilweise auch zu inhaltlichen Kontexten liefert, ein umfassendes Bild des lyrischen Lebenswerks eines der wichtigsten Dichter des 20. Jahrhunderts. Wichtig, weil er wie wenige das Spiel mit den Formen beherrschte und sich seine Lust an der Sprache auf den Leser überträgt. Wichtig aber auch, weil er im Sinne der Philosophin Hannah Arendt literarisch und ohne Geländer dachte. Seine Gedichte, Theaterstücke, seine Prosa und seine Filme werfen Fragen an unsere Gesellschaft und jeden Einzelnen in ihr auf. Fragen, die auch ins 21. Jahrhundert noch Unruhe bringen. Man lernt viel in dieser Hinsicht, wenn man Brasch liest. Und wer nicht mehr lernen kann, kann sterben, hat er selbst einmal gesagt. Dabei darf der Spaß allerdings nicht zu kurz kommen.

    Liebeslied

    O, wie ist das schön,
    so mit Seufz und Stöhn,
    so die Beine breit,
    wird der Himmel weit.
    Was man alles kann,
    ist der Mann ein Mann.

    Geh ich auf die Knie
    frag nicht wer noch wie
    frag nicht Zeit noch Sinn
    leg mich einfach hin
    so mit Zart und Rauh
    fühl ich mich als Frau.

    Schließ die Augen zu
    sag nicht ICH nicht DU
    weiß nicht, wer wir sind
    wird zum Sturm der Wind
    wird die Lust zur Gier
    und das Mensch endlich zum Tier


    Unter editorischen Gesichtspunkten könnte man an dieser ersten Ausgabe von Thomas Braschs Gesammelten Gedichten kritisieren, dass der Collage-Band "Kargo" geschlossen aufgenommen wurde, obwohl er auch Prosa, szenische Texte und Fotografien enthält. Zwar stimmt es, dass Braschs Schaffensprinzip die – auch formale – Grenzüberschreitung war, und es ist ehrenwert, dieses literaturgeschichtlich wichtige Buch aus dem Jahr 1977 wieder zugänglich zu machen. Aber Brasch war auch ein genauer Komponist und Arrangeur gerade dann, wenn es um Gedichtbände ging. Um eine Vorstellung von dieser Seite seines Arbeitens zu bekommen, wäre es sicher hilfreich gewesen, das Inhaltsverzeichnis der letzten, von ihm geplanten Gedichtsammlung "Sprechsaal" im Anhang abzudrucken, wie vielleicht auch das Konzept für den Lyrikband "Weltunglück geistert durch den Nachmittag. Gedichte der Zwanziger – Vorläufer und Nachfahre", den Brasch einmal herausgeben wollte, aber dann doch nicht realisierte.

    Aber das sind Kleinlichkeiten angesichts der Leistung, diese Gedichte aus vierzig Jahren zu versammeln und uns die Lektüre von ebenso zärtlichen wie schmerzlichen Liebesgedichten, politischen Liedern, verzweifelten Balladen und lyrischen Auseinandersetzungen mit dem eigenen Dichten und seinen Vorläufern und Nachfahren zu ermöglichen. Insbesondere Martina Hanf hat sich nach der Herausgabe der Interviews und Filme von Thomas Brasch ein weiteres Mal um die Pflege seines Werkes verdient gemacht. Ein Werk, das lyrische Schätze wie diesen birgt:

    Halb Schlaf
    Für Uwe Johnson

    Und wie in dunkle Gänge
    mich in mich selbst verrannt,
    verhängt in eigne Stränge
    mit meiner eignen Hand:

    So lief ich durch das Finster
    in meinem Schädelhaus:
    Da weint er und da grinst er
    und kann nicht mehr heraus.

    Das sind die letzten Stufen,
    das ist der letzte Schritt,
    der Wächter hört mein Rufen
    und ruft mein Rufen mit

    aus meinem Augenfenster
    in eine stille Nacht;
    zwei rufende Gespenster:
    eins zittert und eins lacht.

    Dann schließt mit dunklen Decken
    er meine Augen zu:
    Jetzt schlafen und verstecken
    und endlich Ruh.


    "Der Schreiber muß sich davon lösen, dem Glanz der ‚einfachen’ Erkenntnis nachzujagen", schrieb Thomas Brasch 1971 in sein Tagebuch. Und: "Die Welt, in der wir uns aufhalten, muß vorsichtig mit den Fingerspitzen neu begriffen werden (...)."

    UND WENN WIR NICHT AM LEBEN SIND
    dann sterben wir noch heute.
    Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind
    Die Mädchen werden Bräute.

    Ach, wenn ihr mich gestorben habt,
    lebt ihr mich weiter heute,
    gemeinsam wird 1 Land begrabt
    und einsam sind die Leute.



    Thomas Brasch: Die nennen das Schrei
    Hrsg. v. Martina Hanf und Kristin Schulz
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
    1029 Seiten, 49,95 Euro
    ISBN: 978-3518423455