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Unter Nachbarn

Vielleicht liegt es an dem zweifelhaften Privileg der Stadt, nach 1945 für lange Zeit die größte Ruine der Bundesrepublik gewesen zu sein. Vielleicht liegt es an der Geschichte der deutschen Teilung, die die in zwei Hälften getrennte Stadt Berlin zur Allegorie der Wohnungsnachbarschaft machte - auf alle Fälle spielt das Wohnen in der Berlin-Literatur der letzten 20 oder 30 Jahre eine große Rolle. Wie und in welchem Stadtteil man wohnt, wieviel Stockwerke man zu seine Wohnung hochklettern muss, ob sie mit Kohle oder Gas beheizt wird, ob man lieber in Wohngemeinschaften, zu zweit oder al-lein wohnt, wie man mit dem Vermieter zurechtkommt, all diese Fragen gehören späte-stens seit der Erzählung "Lenz" von Peter Schneider bis heute zum Stoffundus der in Berlin spielenden Romane und Erzählungen. Vor zwei Jahren erschien der Roman "Die Schattenboxerin" von Inka Parei, der von einer allein lebenden Frau und ihrem imaginierten Double in der Nebenwohnung erzählte. Vor kurzem erschien ein neuer.Berliner Wohn-Roman, ebenfalls, wie bei Inka Parei, ein Debüt. Sein Titel heißt "Nach-barn", seine Autorin ist Unda Hörner, die -selbstredend- in Berlin lebt.

Ursula März |
    Unda Hörners Roman "Nachbarn" ähnelt im Aufbau einem Mietshaus. Hinter jedem der locker verknüpften Kapitel verbirgt sich die Geschichte eines Menschen, mit dem die Ich-Erzählerin im Laufe ihres Berliner Lebens Kontakt hatte. Zufallskontakt, wie er nur unter Nachbarn zustande kommen kann. Da ist die Geschichte von Wolf-gang, ein an sich unspektakulärer junger Mann, an dem allerdings drei Dinge bemer-kenswert sind, die aber nichts miteinander zu tun haben. Erstens arbeitet Wolfgang be-reits Anfang der 80er mit einem Computer, was damals ungewöhnlich war. Zweitens kümmert er sich um vernachlässigte Kinder. Drittens hat er das seltsame Hobby, Frauen zu vernaschen, dabei ist Wolfgang kein genießender Casanova, eher ein Handwerker, der an keinem schiefen Regal vorbeigehen kann, ohne es gerade zu rücken. Oder die Geschichte der alternden Pianistin., der die Erzählerin in die Fänge geht, denn ihr musi-kalischer Idealismus entpuppt sich mehr und mehr als schiere soziale Impertinenz. Es ist ein seltsames, leicht schräges und bizarres Völkchen, das Unda Hörner - vermutlich aus vielen autobiographischen Kenntnissen erschafft. Dabei beschreibt sie kein bestimmtes Milieu, keine spezifische Gesellschaftsschicht, ihre Nachbarn kommen aus ganz ver-schiedenen Milieus, Schichten und Berufen, sondern sie beschreibt einen Sozialtypus, der in modernen Großstädten immer stärker vertreten ist: den Typus des allein lebenden und allein wohnenden Menschen.

    Zwar sind Wohnungsnachbarn der Ich-Erzählerin deren literarische Spiegelbilder, denn sie führen wie sie eine Einzelexistenz, dennoch dieser Debütroman von Unda Hörner weit entfert von jeder modischen Ego-Pflege. Die Erzählerin nimmt zu sich und ihren Lebensangewohnheiten ein erstaunlich lakonisches, untemperiertes und unnarzistisches Verhältnis ein. Auf den ersten Blick scheint Unda Hörners Debüt auf der Welle neuer, deutscher und vor allem weiblicher Berlin-Literatur zu schwimmen, auf den zweiten Blick wird aber klar, dass ihre Prosa mit deren kühlen Gewässern nicht das Geringste zu tun hat. Bei der Lektüre ihres Buches erinnert man sich daran, daß die fast 40j ährige Unda Hörner ihre Autorenlaufbahn als Verfasserin von Biographien und biographischen Essays begonnen hat. Das erklärt ihr Interesse an Menschen, an fremden Lebensläufen und sozialen Welten. Für den Leser ist dieses Interesse eine Wohltat.

    Was Unda Hörners Roman aus der Menge der Berlin-Prosa der letzten Jahre heraushebt, sind sein Ton und die Haltung, die sich darin ausdrückt; ein Ton aus ironischer Anteil-nahme und freundlicher Skepsis. Die Ich- Erzählerin ist, soviel wird, bei all ihrer Dis-kretion klar, zwar eine klassische Großstadterimitin, aber sie ist weder zynisch noch voyeuristisch. Immer wieder läßt sie sich von den Nachbarn in deren Dramen und Bur-lesken verwickeln. Dem Computerpionier Wolfgang kann sie nicht widerstehen der Pianistin ist sie trotz besseren Wissen zu Diensten, eine alleinerziehende Mutter von nebenan macht sie zur Babysitterin ihrer Tochter, um für Stunden zu verschwinden und nicht wiederzukehren. Lauter undeutliche, seht oft verfahrene, aber auf unvergleichbar berlinische Weise herzliche Verhältnisse. Ihre Vorraussetzung ist, was Unda Hörner und die Soziologie Nischenexistenz nennen.