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Unter Schmerzen geschrieben

Die großen Literaturpreise hat Siegfried Lenz nicht bekommen, dennoch ist er zurzeit der anerkannteste deutsche Schriftsteller. Seine Romane sind Schullektüre: "Brot und Spiele", "So zärtlich war Suleyken" oder "Deutschstunde" gehören zum Pflichtkanon der deutschen Nachkriegsliteratur. Jetzt hat der inzwischen 83-Jährige die Novelle: "Landesbühne" veröffentlicht.

Von Annemarie Stoltenberg | 30.11.2009
    Es ist ein Buch, das gewiss unter Schmerzen geschrieben wurde. Mit Fleiß und Disziplin gestemmt gegen die Malaisen, die Siegfried Lenz fest im Griff haben. Vermutlich gelindert durch das, was die Pharmakologie beseitigen kann. Aber es bleibt der Eindruck, dass der Autor dieser Geschichte sich in Schonhaltung bewegt, in einer Art Schmerzvermeidungsstrategie.

    Die Passagen in der Erzählung, die eigentlich mühsam, anstrengend, nervenzehrend sein müssten, werden einfach ausgespart. Man kann sich dann schon vorstellen, wie das gewesen sein wird. Beweglichkeit macht ursprünglich Freude, das Nicht-Sagbare erzeugt Schmerz, dazwischen bewegt sich diese Geschichte in vorsichtigen Schwüngen, selbst wenn es - wie Lenz einmal Alfred Polgar zitiert - auf den Versuch hinaus läuft, das Meer zu pflügen.

    Zwei Männer im Gefängnis Isenbüttel. Der eine hat lange Zeit auskömmlich leben können durch den Besitz einer Polizeiuniform und einer Kelle, mit der er an einer Autobahnabfahrt erstaunlich bußfertige Raser abkassiert hat. Bis zu dem Tag, an dem er eine Streife in Zivil herauswinkt. Der andere Häftling ist Professor für Literatur, Fachgebiet "Sturm und Drang", und hat besonders schönen Studentinnen zu ebensolchen Prüfungsergebnissen verholfen - so sie ihm gefällig waren.

    Die beiden beobachten durchs Zellenfenster, wie ein LKW mit der Aufschrift "Landesbühne" in den Hof rollt. Wenig später werden die beiden Insassen in eben diesem Gefährt das Gefängnis verlassen. Etwa ein amerikanischer Autor hätte diese Flucht zu einem atemberaubenden, minutiös geschilderten Coup ausgemalt, nach der Lektüre wüssten wir alles, aber auch alles über Sicherheitsvorkehrungen, was der fleißige Autor recherchiert hätte. Anders bei Siegfried Lenz, er nutzt die elegante, kleine Form der Novelle, seine Helden überwinden ebenso schmerz- wie geräuschlos Mauern. Lenz ist zum Fabulieren seiner Kindheit zurückgekehrt. Er erzählt gern Geschichten.

    "Meine Großmutter hatte eine Neigung, immer dann zu unserer kleinen Kirche zu gehen, wenn Trauungen stattfanden. Und sie nahm mich an die Hand und legte mir manchmal sehr versonnen, wie es masurische Großmütter an sich haben, die Hand auf den Kopf und wenn sich dann das Brautpaar zeigte, das aus der Kirche kam, geschmückt und lachend und so weiter, und fröhlich. Dann wurde meine Großmutter ganz ernst und sagte: 'Jungchen, das jeht nicht jut aus...'. Und das als antizipatorisches Urteil über ein strahlendes Liebespaar! Sie hatte recht, verdammt noch mal."

    Nach 57 Jahren Ehe ist Lieselotte, Siegfried Lenz' geliebte Frau und Gefährtin 2006 gestorben, so hatte es die Großmutter eben auch geahnt. Er hatte das große Glück, sich mit einer Freundin seiner Frau zusammenfinden zu können: Ulla, sie hütet ihn und pflegt ihn, begleitet ihn zu notwendigen Operationen. Über eine Augenoperation erzählt Siegfried Lenz, er sei zu einem dänischen Spezialisten gegangen, der ihn operieren wollte:

    "Er machte es und sagte: 'So, jetzt werde ich Ihnen eine schwedische Linse einsetzen, damit Sie Ihre eigenen Buchstaben auch lesen können. Eine schwedische. Aber weil ich Ihre Anhänglichkeit an das Königreich Dänemark kenne, werde ich der schwedischen Linse unten rechts einen kleinen Danebrog imprägniert'. Er hat operiert. Dann sagte er: 'Sehen Sie jetzt etwas?' 'Ja'. 'Sind sie bereit zu sagen, was sie sehen?' Ich sagte: 'Ja.' 'Und was ist es?' Ich sagte: 'Schwedische Elche. Schwedische Elche, die kopfschüttelnd auf mich zukommen.' Er war glücklich: Operation geglückt."

    In dieser kleinen Geschichte verbirgt sich viel vom Erzähler Lenz heute. Abgeneigt, jedem Ding, jedem Ereignis einen Sinn zu unterlegen, skeptisch gegenüber Mystifizierung, argwöhnisch gegenüber Feierlichkeiten, ist er auch nicht mehr bereit, alles als ein Unheil zu betrachten. Mit gelassener Aufmerksamkeit erfindet er seine Wahrheit und schätzt die tröstlichen Möglichkeiten der Fantasie. Der Spielort der Landesbühne "Grünau" soll zwar in Schleswig-Holstein liegen, oben an der Ostsee, zwischen Kappeln und Glücksburg. Aber in Wirklichkeit ist es ein Ort, den Siegfried Lenz uns als Vision anträgt.

    In Grünau wird gerade das traditionelle "Nelkenfest" gefeiert, als der Wagen der Landesbühne dort ankommt. Die Grünauer sind begeistert über die Ehre des Besuchs der Schauspielertruppe zum Festtag. Es wird gesungen, Pläne für die kulturelle Zukunft von Grünau werden in den rosigsten Farben entworfen. Unter den angereisten Zuschauern aus Pinneberg, Itzehoe oder Bad Segeberg ist auch der Gefängnisdirektor aus Isenbüttel.

    Wie wäre es denn, wenn eben nicht eine wuchtige, einschüchternd vermummte Polizeieinheit anrückte, um die beiden Ausbrecher wieder einzufangen, die sich in der Provinz als Kulturschaffende nützlich machen? Wenn eben kein Einsatzleiter in sein Walkie-Talkie "Zugriff!" zischt, sondern der Gefängnisdirektor sich in aller Ruhe eine Aufführung seiner entwichenen Häftlinge ansieht und davon ausgeht, dass sie schon noch ins Gefängnis Isenbüttel zurückkehren werden? Wer weiß schon, wo die wahren Schurken sind? Siegfried Lenz hat mit der "Landesbühne" die Tradition des Schelmenromans neu belebt. Don Quijote, der unsterbliche Kämpfer gegen Windmühlen und Schafherden, der einen sonderbaren Schmerz im Leser zurücklässt; der liebenswürdige Schwejk oder der Hochstapler Felix Krull haben Pate gestanden.

    "Man versucht sich anzunähern. Schreiben ist ja immer auch eine Annäherung an den Konflikt, keine Lösung, das wäre zu viel zu hochtrabend, aber eine Annäherung an den Konflikt."

    Auf die Frage nach seinen Wünschen antwortet er, er wünsche sich mehr Stabilität seines Beines. Er fällt sehr oft. Siegfried Lenz Lebensgefährtin Ulla kann ihn aufheben, sie sei stark, erzählt er. Und dann betastet er, so zutraulich und sorgsam wie die dänischen Nachbarn in einer seiner Erzählungen im Haus der zugezogenen Fremden herumliegende Tomaten befühlen, den Oberarm der Interviewerin: "Sie könnten das auch", stellt er fest. Ein Schelm auch er. Charmant, flirtend, fabulierend – so zärtlich wie Suleyken.

    Siegfried Lenz: Landesbühne.
    Erschienen bei Hoffmann und Campe. 128 Seiten. 17,- Euro.