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Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien

Jedes Nachdenken über medientheoretische Fragen vollzieht sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Dominanz der sogenannten 'Neuen Medien’. Auch Boris Groys Untersuchung 'Unter Verdacht' kann und will sich dem nicht entziehen. Sein Ansatz-ist jedoch umfassender und sein Medienbegriff daher offener. Medien, das sind zunächst Zeichenträger, sie erlauben den Zeichen, sich zu zeigen. Insofern ist das eigene oder fremde Gesicht ebenso ein Medium wie der Fernsehapparat oder der Computermonitor. So wenig man aus der Mimik auf den dahinter liegenden Geist exakt schließen kann, so wenig zeigt die Oberfläche des Fernsehgeräts von seiner Funktionsweise. Dessen Rückwand ist allerdings leichter zu öffnen, und man kann sich eine technische Erklärung geben lassen. Dazu Groys:

Joachim Büthe |
    "Diese Art, die Frage nach dem Medium zu beantworten, halte ich für falsch. Denn eigentlich erfassen und untersuchen wir das Medium dann in einem Zustand, in dem dieses Medium eben nicht als Medium funktioniert. Wenn wir uns -fragen, was passiert eigentlich hinter dem Fernsehbild, dann ist es nicht nur das Fernsehgerät, sondern das ganze kulturelle, soziale System, das ganze technische System, dessen Teil das Fernsehgerät ist. D.h., im Moment des Funktionierens ist es nicht nur ein technisches Gerät, sondern Element in einem sehr komplizierten Netz. Was ich versuche, ist zu fragen, welche Erkenntnisse wir über diesen verborgenen Medienträger gewinnen können."

    Diesen verborgenen Medienträger nennt Boris Groys den submedialen Raum. Das ist zunächst eine Metapher. Der submediale Raum läßt sich nicht endgültig definieren und ist dennoch evident. Wir alle, die wir das Fernsehen nicht naiv mit der Realität gleichsetzen, wissen, daß etwas hinter ihm stecken muß. Groys:

    "Die eigentliche Frage, der ich nachgehe, ist die Frage: Wie können wir das, was wir vermuten, das dahinter steckt, sei es ein Raum, sei es etwas anderes; wie können wir bestimmte Erkenntnisse gewinnen darüber, wenn das Medium läuft, wenn es arbeitet. Und meine vorläufige Antwort ist, daß wir es im Grunde nur mit einem Verdacht zu tun haben, nur mit einer Vermutung, daß es so was gibt. Dieser Verdacht ist aber nicht zufällig, ist zwingend und hat eine lange Vorgeschichte der Verdächtigungen verschiedener Art. Und wir können mit diesem Verdacht umgehen, müssen es tun und tun es tatsächlich. Und so ist diese Untersuchung nicht die Untersuchung dessen, was tatsächlich hinter der medialen Oberfläche geschieht, sondern vielmehr die Untersuchung unserer Reaktion auf die Vermutung. Wie wir damit umgehen."

    Der Verdacht, daß etwas dahinter stecken muß, läßt sich weder ausräumen noch bestätigen. So eröffnet er einen Raum, der buchstäblich bodenlos ist, unabschließbar. Boris Groys ist auf ihn gestoßen, als er der Frage nachging, was den Bildern Dauer verleiht, was sich unserem kulturellen Gedächtnis einprägt:

    "Meine Antwort ist, daß wir bestimmte Bilder aussuchen und unsere Aufmerksamkeit auf diese Bilder konzentrieren, weil wir vermuten, daß hinter diesen Bildern etwas Besonderes steckt. Wir haben Interesse an den Bildern, die diesen 'suspense' in unserer Imagination erzeugen, das Gefühl, mit dem Hitchcock sehr gut gespielt hat. Wir können eine sehr, sehr lange Konzentration auf ein Bild im Film aushalten, wenn wir vermuten, daß hinter diesem, vielleicht sehr alltäglichen und nichtssagenden Bild, sich etwas verbirgt, das sich dann später zeigt. Meine Vermutung ist, daß die ganze Kultur so funktioniert."

    Diese Vermutung könnte auch die Beliebtheit des Genres 'Kriminalfilm’ erklären. Und sie gäbe Aufschluß darüber, warum es gerade die leeren, die unbedeutenden Zeichen sind, an denen sich unsere Phantasie so häufig entzündet.

    "Das ist wirklich eine sehr große Lekre aus dem Krimifilm. Der richtige Detektiv, der richtige 'private eye' beginnt immer damit, wenn er eine Untersuchung macht, daß er zu einem Mülleimer geht und beginnt sich zu fragen, was sich in diesem Müll verbirgt. Was verbirgt sich hinter diesen Zeichen oder Bildern oder Gegenständen, die uns zunächst einmal, ihrem expliziten Inhalt oder ihrer Form nach, als völlig belanglos erscheinen. Sie sind es, die die interessantesten Wahrheiten hinter sich verbergen."

    Zeigen und Verbergen sind bei Groys zwei Aspekte der selben Bewegung. Und es ist gerade der mediale Müll, der eine Wahrheit verbirgt, die uns Angst macht. Wir fürchten verloren zu gehen im Meer der seichten Unterhaltung auf der Oberfläche unserer Bildschirme:

    "Diese Klage ist ja sehr verständlich und sofort überzeugend. Sie erinnert mich an die Theorie des Sublimen, bei Kant z.B. Wo Kant beschreibt wie wir fasziniert sind durch den Anblick des Sees im Sturm. Wenn wir auf dem Schiff sind und im nächsten Moment untergehen können. Dort haben wir das Gefühl, mit der Wahrheit des Lebens konfrontiert zu sein. Und so würde ich sagen, daß wir in unserer Kultur, die ja für uns eine zweite Natur geworden ist, wir befürchten keinen Schneesturm, keinen Sturm auf See, aber diese auflösende Banalität der Medien. Ich möchte darauf hinaus, daß die Banalität der Medien für uns als eine Erhabene zu verstehen ist, gerade weil sie für uns als eine solche Bedrohung für unsere Subjektivität und unsere Kultur begriffen wird."

    'Unter Verdacht' ist keine Theorie der Medien. Das Buch bietet weniger und zugleich viel mehr. Der Verdacht wird zu einer Art meta-physischem Generalschlüssel zum Verständnis unserer Kultur und -innerhalb dessen- der Medien. Boris Groys' intelligenter Querschläger könnte die medientheoretische Debatte aus ihrer Fixierung auf die Technikgeschichte lösen und sie wieder öffnen. Z.B. für das Medium der Kritik, das unsere Kultur untergräbt und trägt:

    "Wir beschäftigen uns ständig mit der Kritik in unserer Gesellschaft. Wir kritisieren unsere Tradition, wir kritisieren unsere Autoren, wir kritisieren Platon in der Philosophie, wir kritisieren Kant usw. Wir widerlegen sie ständig. Und so vergehen die Jahrhunderte,' und wir widerlegen Platon, widerlegen Kant und kritisieren unsere Kultur. Und so frage ich mich, warum kritisieren wir immer diese Autoren und keine anderen? Warum verschwinden sie nicht, nachdem sie einmal kritisiert worden waren? Diese Frage führt mich zu der Annahme, daß es Autoren sind, die einen gewissen Verdacht verkörpern und besser als alle anderen in uns evozieren. Wir kritisieren sie gerade, weil sie einen Raum bieten, wo sich unsere Kritik entfalten kann. Und die Autoren, die diesen Raum des Verdachts nicht öffnen, die kritisieren wir auch nicht, aber die vergessen wir gleichzeitig. Und zwar restlos.