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Untergehende Reiche, begrabene Hoffnungen

In Anton Tschechows Theaterstück "Der Kirschgarten" siecht das zaristische Russland seinem Untergang entgegen. Besonders Nina Hoss kann in Stephan Kimmigs Inszenierung am Deutschen Theater Berlin in der Rolle der Andrejewna Ranjewskaja überzeugen.

Von Karin Fischer | 25.02.2012
    "Vor dem Unglück war es genauso."
    "Vor welchem Unglück?" –
    Vor der Freiheit."

    Es geht also um Umbruch. Die Freiheit als Bedrohung, die an stelle des alten Systems von Abhängigkeiten tritt. Der alte Diener Firs spricht den wichtigsten Satz der Inszenierung lakonisch aus. Auch Lopachin, der Bauer, dessen Großvater noch Leibeigener war auf dem Gut, und der mit seinem vielen Geld den Kirschgarten zum Schluss kaufen wird, um der neuen Zeit Raum zu schaffen, indem er das dann abgeholzte Grundstück für Datschen und Sommergäste parzelliert, auch Lopachin weiß:
    "Ja, früher war das sehr schön. Da wusste man genau warum man schimpft und wen man schlagen will."

    Und der ewige Student sagt, Lopachin sei vom Bauer zum Ausplünderer geworden, und legt analytisch über den "homo oeconomicus" nach.

    "Eine Gesellschaft, in der jeder sein eigener Unternehmer sein soll, jeder wachsen und sich verschulden muss auf Teufel komm raus. Und zur selben Zeit haben immer mehr Leute nichts zu essen."

    Die Gegenwart klingt also ganz deutlich durch. Eine saturierte, aber völlig überschuldete Gesellschaft geht sehenden Auges dem Untergang entgegen, weil sie verstockt an alten Privilegien fest hält, nicht "reif" für das Neue ist oder keine Flexibilität für die notwendigen Veränderungen aufbringt. Stephan Kimmig verstärkt diese Bedeutungsebene an mehreren Stellen durch ein dumpf vibrierendes Dröhnen, das ganz am Ende sogar die Beleuchtung im Saal klirren lässt. Ob das ein Erdbeben, anrollende Panzer oder nur die Bagger für den Kirschgarten sind, bleibt offen.

    Diesem Gefühl des Bedrohtseins, der dauernden Explosionsgefahr begegnet jeder mit anderen Übersprungshandlungen, was dem Regisseur die Gelegenheit gibt, das Stück komödiantisch auszutarieren. Nicht alles wirkt dabei motiviert.

    Felix Goesers Lopachin kriegt als Erstes Nasenbluten und später, als er von der Versteigerung kommt, eine Flasche über den Kopf gezogen. Buchhalter Jepichodow stolpert eins ums andere Mal über die Schwelle oder fuchtelt mit einer Pistole herum. Meike Droste als Adoptivtochter Warja übt sich mit jungenhaftem Charme im Luftboxen, die Reisegesellschaft kommt mit einer Stummfilmpantomime ins Haus, und Jürgen Huth als Gutsbesitzer Simjonow muss nach der Pause eine Dauerlauf-Pantomime hinlegen, bevor er auf der Party tanzen darf.

    Es ist ein Spiel am Rand der Verzweiflung, das vor allem im Vordergrund der Bühne von Katja Haß statt findet, auf einer hohen lichtgrauen Veranda, die Türen und Seitenwände der drei hohen Räume dahinter haben ein filigranes Lochmuster und sind mit drei Stahlrohrstühlen nur spärlich möbliert. Kleider und Koffer sind von heute, und natürlich die Psychologie der Figuren.

    So wenig zentriert die Inszenierung dabei wirkt, weil sie keine Botschaft hat, sondern nur haltlose Menschen zeigt, so deutlich steht doch die Ranjewskaja im Mittelpunkt, Nina Hoss. Sie ist keine amüsierwillige Hysterikerin und keine Matrone aus einer vergangenen Zeit. Sie ist eine unglückliche, ja fast gebrochene Frau, in deren Gesicht sich das Ganze Drama ihres Lebens abspielt und die wie keine andere den Druck, die Verwirrung, die Schuld – denn Schulden haben ja immer etwas mit Schuld zu tun – in kleinen Gesten ausagiert. Zum Beispiel, wenn sie aus ihrem letzten Geldschein einen Papierflieger formt. Das ist hinreißend. Nina Hoss legt, indem sie schuldbewusst agiert, einen anderen Kern des Stücks frei. Sie ist verwurzelt im Alten und verkörpert eine Erinnerungskultur, die gegen den zukunftsversessenen Fortschrittsglauben aber schon verloren hat.

    " "Versetzen Sie sich doch in meine Lage. Ich bin doch hier geboren. Ohne den Kirschgarten würde ich mein ganzes Leben nicht verstehen". "

    Und dann kommt natürlich noch die Liebe ins Spiel, der Mann in Paris, der sie ausgebeutet hat und der Mühlstein um ihren Hals ist. Auch diese Liebe ist unrein, aber rein zu sein bedeutet feig zu sein, erklärt Andrejewna Ranjewskaja dem Studenten. Und damit hat sie nicht nur eine persönliche Einsicht, sondern auch ein Muster aller Umbrüche, auch der Revolutionen von heute, feinsinnig formuliert. Ein Glück, dass und wie diese Schauspielerin solche Zwischentöne sichtbar macht.

    Am Ende steht sie mit ihrem Bruder vor dem Kirschgarten wie vor einem Grab. So wird aus einem großen Tschechow-Stück ganz zum Schluss noch ein kleines von Beckett. Alle sind unglücklich. Vielleicht, aber nur vielleicht, werden die Urenkel eine neue Welt vorfinden. Man weiß nur nicht, ob man sich das wirklich wünschen soll.