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Unterm Strich zähl' nur ich?

"Die Kunst, ein Egoist zu sein", nannte Josef Kirchner eines seiner Lebensberatungs-Bücher. , nannte Richard David Precht seine Replik darauf. Was zählt denn nun unterm Strich, das Ich oder das Wir? Diese Frage wurde am Wochenende bei den Ulmer Denkanstößen gestellt.

Von Cajo Kutzbach |
    Umfragen gehören zum Handwerkszeug des Hamburger Zukunftsforschers Professor Horst Opaschowski. Und da erfährt er Erstaunliches:

    "Rund 90 Prozent der Deutschen sind mittlerweile der Meinung: Egoismus hat in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr und wir müssen zusammenhalten. Also die Zeit der Ich-AGs, der Egokulturen und der Egomanien geht langsam aber sicher zu Ende."

    Das Umdenken scheint vom Attentat auf die Türme des World-Trade-Centers in New York ausgelöst worden zu sein:

    "Wenn sie sich zum Beispiel die modernen Jugendstudien ansehen. Bis dahin sozusagen "ich bin ich", ich mix mir meinen Werte-Cocktail selber", "ich erkennen keine Autoritäten an", "einen Wertehimmel gibt es für mich nicht", jeder lebte so nach Belieben. Und nach dem 11. September setze das Umdenken, das Nachdenken, das neu denken an. Die Menschen stellten fest: Nichts ist mehr sicher mit der Ausbreitung des weltweiten Terrorismus. Wir müssen mehr zusammenhalten. Wir müssen mehr zusammenrücken. Und das geschieht natürlich auf den verschiedensten Ebenen, in der Familie, in der Nachbarschaft und im Gemeinwesen im weitesten Sinne bis hin zur Bürgerbeteiligung."

    Die Statistiken weisen auf einen Wertewandel hin, der sich am stärksten bei den jungen Menschen beobachten lässt. Im letzten Jahrzehnt stieg die Bedeutung von Freundschaften bei den Befragten um über 40 Prozent. Vertrauen in Mitmenschen, Beschäftigung mit der Familie, Unterstützung von Familienmitgliedern, Freude an der freiwilligen Mitarbeit in sozialen Organisationen, sie alle steigen um 20 Prozent oder mehr. Horst Opaschowski sieht die Zukunft so:

    "Wir erleben bei der jungen Generation eine Leistungsexplosion, wie wir sie schon lange nicht mehr erlebt haben. Dann will die junge Generation eine neue Lebensbalance: Sie will im Leben etwas leisten. Sie will natürlich auch das Leben genießen. Aber bemerkenswert hoch ist der Wunsch in der jungen Generation ausgeprägt anderen Menschen helfen zu wollen. Also Leistungsorientierung, Genussorientierung und Sozialorientierung, das ist die neue Balance des Lebens."

    Wunsch und Realität klaffen aber noch erheblich auseinander. Die Familie, das war eine Großfamilie, später die Kleinfamilie und schließlich Alleinerziehende; all das sieht nach einem andauernden Schrumpfen aus. Dieter Thomä, Philosophieprofessor an der Universität St. Gallen:

    "Wir sind beim Individuum angekommen, beim Single. Und in dem Sinne ist die Familie fast so etwas, wie eine bedrohte Art. Die Bedrohung kommt daher, dass man irgendwie Schwierigkeiten hat, diese Lust am Ausspielen des Generationenspiels, am Auskosten der Unterschiede zwischen den Generationen wirklich zu genießen und zu suchen. Es gibt eben starke Anreize in unserer Gesellschaft, die gerade zu dem Schluss bringen, dass es so etwas gibt wie eine strukturelle Familienfeindlichkeit in unserer Gesellschaft ..."

    ... allen gegenteiligen Bemühungen zum Trotz. Die Sehnsucht nach Familie und Kindern liegt über alle Altersstufen hinweg andauernd bei um 90 Prozent. Das Problem ist die Umsetzung des Wunsches in die Wirklichkeit. Ein Grund könnte sein, dass immer weniger Kinder in einer vollständigen Familie lernen, wie Familie funktioniert:

    "Wir haben immer weniger Familien und wir haben Familie als so eine Art kleine Schule des Lebens. Das ist schon so. Das ist ja nicht nur so, dass man da in der Familie "Familie" lernt, für die spätere eigene Familie, sondern man lernt Aushalten von Unterschieden, man lernt sich zu arrangieren, man erfährt so was, wie Rückhalt. Und ich glaube, dass wir, was die Zukunft betrifft, vor einem offenen Rennen stehen, denn es gibt diese starken Sehnsüchte nach Rückhalt, nach Zusammengehörigkeit und es gibt diese starken Anreize und Zugkräfte, die davon wegziehen."

    Manche, die in einer Beziehung scheitern, versuchen es immer wieder. Dabei können die entstehenden zusammengeflickten Patchwork-Familien hilfreich sein, müssen es aber nicht, wie Dieter Thomä betont:

    "Das Patchwork ist schon so ein Ersatz, aber was natürlich gefordert ist von denen, die an diesem Patchwork mitstricken, ist ein hohes Verantwortungsgefühl und da gibt es natürlich glückliche und unglückliche Fälle."

    Der Wunsch nach einer dauerhaften belastbaren Beziehung, einem "Wir" braucht, davon sind viele Psychologen überzeugt, zwei reife selbstständige "Ichs". Das kann daran scheitern, dass einer oder beide unter einer Beziehungsstörung leiden.
    Ein Kind muss, um Erwachsen zu werden, auf drei Gebieten reifen, die man mit Körper, Seele und Geist beschreiben kann, wobei die Seele hier vor allem für Gefühl und die Fähigkeit zur Beziehung steht. Dazu gehört als Erstes, dass der Säugling bei Hunger sofort gestillt wird. Dadurch bildet sich ein Urvertrauen; du bist willkommen, geliebt, für Dich wird gesorgt. Ohne Urvertrauen wird es schwer.
    Der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Dr. Michael Winterhoff beobachtet seid etwa 1990 neue Ursachen für Beziehungsstörungen:

    "Als Kinderpsychiater war ich also bislang nur befasst mit Kindern, die nicht beziehungsfähig waren auf dem Boden, dass sie eben frühe Vernachlässigung erlebt haben. Wir haben jetzt eine neue Qualität, das heißt aufgrund dessen, dass Eltern sich in einer Beziehungsstörung befinden, die ihnen nicht bewusst ist - und die modernste ist da die Symbiose - kann das Kind sich nicht mehr entwickeln, weil das Kind ein Teil der Eltern ist, also die Eltern nicht erlebt außenstehend als Gegenüber. Und von daher verbleiben diese Kinder in sehr frühen Phasen und in sehr frühen Phasen ist ein Kind nicht beziehungsfähig ..."

    ...eben weil es die nötige Reife noch nicht erwerben konnte.
    Dabei hat es Winterhoff in seiner Praxis oft mit gebildeten, wohlsituierten und engagierten Eltern zu tun. Sie verhindern unabsichtlich, dass das Kind seelisch reift. Dazu gehört, dass das Kind andere Menschen erkennt und Mitgefühl entwickelt:

    "Die Wahrnehmung, dass es ein Gegenüber gibt, ist so Ende zwei, eher Anfang drei und man erkennt das auch daran, dass man ab dann Einfluss hätte auf das Verhalten des Kindes. Also wenn sie eine dreijähriges Kind haben, dass ein Fehlverhalten, das sie stört, sagen wir mal ne Knatschphase hat, und sie würden das deutlich machen, würde das Kind dann beginnend für sie dieses Verhalten einstellen."

    Damit wäre eine wichtige Grundlage für Beziehungen, aber auch für das Lernen gelegt.
    Woran liegt es, wenn Eltern heute Kinder falsch behandeln, was sie früher meist intuitiv richtig machten? Michael Winterhoff meint, dass die moderne Gesellschaft mit ständiger Erreichbarkeit, medialem Dauerfeuer und hohen Leistungsansprüchen an Männer und Frauen die Allermeisten überfordert:

    "Und aufgrund dieser Überforderung, die wir haben, besteht die Gefahr, dass man unbewusst über Kinder kompensiert, also so unter dem Motto: Wenn mich da draußen keiner mehr orientiert - uns fehlt ja sehr viel Orientierung - dann soll das eben mein Kind leisten; wenn mich keiner mehr mag und liebt, soll das mein Kind tun. Das betrifft aber nicht nur Eltern, das betrifft auch Großeltern, das betrifft auch Lehrer, das betrifft auch Erzieher."

    Eltern brauchen die nötige Ruhe und Muße, damit sie ihre eigene Beziehung gut gestalten können und auch ihre Intuition wieder wahrnehmen können, die normalerweise für eine gute Beziehung zum Kind sorgt. Stattdessen fühlen sich viele Eltern wie im Hamsterrad.

    "Diese Getriebenheit haben viele Eltern, die zu mir kommen, aber sie ist behebbar, dadurch, dass sie einem bewusst wird."