Katja Lückert: Die Diskussion um die Unterschicht ist nicht ganz neu, schon 2004 hatte der Historiker Paul Nolte mit seinem Buch: "Generation Reform" die Klassengesellschaft ins Visier genommen. Harald Schmidt sprach fast zeitgleich vom "Unterschichtenfernsehen". An den Medientheoretiker und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz geht die Frage: Bei all der Aufregung um diesen Begriff - gab es nicht zu allen Zeiten eine Unterschicht?
Norbert Bolz: Nun, natürlich gab es immer Menschen, die mit Modernisierungsprozessen nicht Schritt halten konnten und die durch die Maschen der sozialen und politischen Netze hindurch gefallen sind, aber natürlich nicht in der Massierung, die wir heute wieder antreffen, denn wir haben doch in einer modernen, wie es so schön heißt, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gelebt, wo prinzipiell jeder Zugang zu jedem Sozialsystem hat und natürlich prinzipiell auch Zugang zur Arbeit.
Heute haben wir es also offensichtlich mit einer Situation zu tun, in der systematisch eine große Gruppe von Menschen aus all diesen Systemen und Arbeitszusammenhängen ausgeschlossen ist, und insofern ist da gar nicht mehr hilfreich, von sozialen Klassen zu reden, denn das ist keine Klasse, sondern das sind Deklassierte, und das ist ein Effekt, den Sie in der modernen Welt überall beobachten können.
Soziologen nennen so etwas übrigens Abweichungsverstärkung, zu Deutsch: Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer, die Klugen werden immer klüger, die Dummen immer dümmer, die einen werden immer besser integriert in die moderne Gesellschaft, und die anderen werden immer deutlicher ausgeschlossen. Es ist eine tragische Struktur, und alle, die glauben, sie hätten ein Patentrezept, sind Scharlatane.
Lückert: Ja, was gibt es für Rezepte? Also wenn Fahrräder in Indien gebaut werden und Kleider in China genäht werden, dann bleibt da nicht mehr viel für diejenigen, die früher mit der Hand gearbeitet haben.
Bolz: Genau das ist das Problem. Alle Jobs, die nicht intellektuell sind, sind tendenziell gefährdet. Da gibt es im Grunde nur eine Strategie, die ist natürlich sehr langfristig und die lässt sich sehr schnell formulieren, aber schwer durchführen, nämlich tatsächlich die Deutschen, zumindest die Europäer darauf vorzubereiten, dass sie im Grunde nur noch in wissensintensiven Berufen irgendeine Chance haben, sich weltweit gegen die Konkurrenz durchzusetzen.
Lückert: Aber Sie würden schon sagen, das ist ein reales Phänomen, also das ist nicht nur ein Medienphänomen, dass man jetzt wieder über diese Unterschicht diskutiert, wo ja früher von sozial Schwachen die Rede war, also wieso jetzt diese Unterschichtshysterie im Grunde auch sofort, denn dieser Begriff scheint ja die Leute in besonderer Weise zu brandmarken?
Bolz: Normalerweise bin ich als Medienwissenschaftler oft geneigt, etwas als Medienhysterie abzutun oder als Erfindung der Medien, aber in diesem Fall der neuen Unterschichten haben wir es tatsächlich mit einem realen Phänomen zu tun, das weiß jeder, der mit offenen Augen durch eine Großstadt geht, und das kann man ja auch, wie Sie selbst gesagt haben, zahlenmäßig sehr genau belegen. Wir dürfen aber eines immer auch noch im Auge behalten, Armut ist ein statistischer Begriff, lässt sich genau berechnen. Wenn man unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens lebt, ist man arm. Arm sein in Deutschland heißt aber natürlich noch nicht, dass man tatsächlich nicht mehr existieren kann, sondern die Würde des Menschen wird durch die Armut geraubt. Es ist nicht so, dass die Subsistenz gefährdet ist, das Überleben in Frage gestellt, sondern man lebt in nicht mehr menschenwürdigen Bedingungen, und das ist die eigentliche Katastrophe.
Lückert: Aber es geht da eigentlich nicht nur um finanzielle Dinge. Also es geht bei dieser Unterschichtsdiskussion auch darum, wie jemand von der Gesinnung her ist, so wie ich das verstehe, oder?
Bolz: Das meine ich eben auch. Es geht nicht nur um Finanzielles. Wie gesagt, wenn jemand in Deutschland arm ist, dann heißt es nicht, dass sein Überleben tatsächlich gefährdet ist, dass seine Subsistenz gefährdet ist, sondern was tatsächlich gefährdet ist, ist seine Menschenwürde, und Menschen, die viele, viele Jahre unter solchen Bedingungen leben, wo sie wirklich jede gesellschaftliche Anerkennung vermissen müssen, die verwahrlosen dann auch in der Tat, das heißt, sie bringen nicht mehr die innere Selbstdisziplin und den inneren Stolz auf, um sich noch gegen ihre Situation zu wehren, und fallen dann vollends in die Netze der sozialen Solidarität zurück, und die haben dann kaum eine Entwicklungschance, und ich denke, das meint man auch mit neuer Unterschicht. Das sind Menschen, die für sich gar keine Perspektive mehr sehen, also nicht nur Leute, die im Moment nicht genug Geld haben, sondern das sind Leute, die überhaupt keine Existenzentwürfe mehr riskieren können, die schlechterdings für sich keine andere Zukunft sehen.
Norbert Bolz: Nun, natürlich gab es immer Menschen, die mit Modernisierungsprozessen nicht Schritt halten konnten und die durch die Maschen der sozialen und politischen Netze hindurch gefallen sind, aber natürlich nicht in der Massierung, die wir heute wieder antreffen, denn wir haben doch in einer modernen, wie es so schön heißt, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gelebt, wo prinzipiell jeder Zugang zu jedem Sozialsystem hat und natürlich prinzipiell auch Zugang zur Arbeit.
Heute haben wir es also offensichtlich mit einer Situation zu tun, in der systematisch eine große Gruppe von Menschen aus all diesen Systemen und Arbeitszusammenhängen ausgeschlossen ist, und insofern ist da gar nicht mehr hilfreich, von sozialen Klassen zu reden, denn das ist keine Klasse, sondern das sind Deklassierte, und das ist ein Effekt, den Sie in der modernen Welt überall beobachten können.
Soziologen nennen so etwas übrigens Abweichungsverstärkung, zu Deutsch: Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer, die Klugen werden immer klüger, die Dummen immer dümmer, die einen werden immer besser integriert in die moderne Gesellschaft, und die anderen werden immer deutlicher ausgeschlossen. Es ist eine tragische Struktur, und alle, die glauben, sie hätten ein Patentrezept, sind Scharlatane.
Lückert: Ja, was gibt es für Rezepte? Also wenn Fahrräder in Indien gebaut werden und Kleider in China genäht werden, dann bleibt da nicht mehr viel für diejenigen, die früher mit der Hand gearbeitet haben.
Bolz: Genau das ist das Problem. Alle Jobs, die nicht intellektuell sind, sind tendenziell gefährdet. Da gibt es im Grunde nur eine Strategie, die ist natürlich sehr langfristig und die lässt sich sehr schnell formulieren, aber schwer durchführen, nämlich tatsächlich die Deutschen, zumindest die Europäer darauf vorzubereiten, dass sie im Grunde nur noch in wissensintensiven Berufen irgendeine Chance haben, sich weltweit gegen die Konkurrenz durchzusetzen.
Lückert: Aber Sie würden schon sagen, das ist ein reales Phänomen, also das ist nicht nur ein Medienphänomen, dass man jetzt wieder über diese Unterschicht diskutiert, wo ja früher von sozial Schwachen die Rede war, also wieso jetzt diese Unterschichtshysterie im Grunde auch sofort, denn dieser Begriff scheint ja die Leute in besonderer Weise zu brandmarken?
Bolz: Normalerweise bin ich als Medienwissenschaftler oft geneigt, etwas als Medienhysterie abzutun oder als Erfindung der Medien, aber in diesem Fall der neuen Unterschichten haben wir es tatsächlich mit einem realen Phänomen zu tun, das weiß jeder, der mit offenen Augen durch eine Großstadt geht, und das kann man ja auch, wie Sie selbst gesagt haben, zahlenmäßig sehr genau belegen. Wir dürfen aber eines immer auch noch im Auge behalten, Armut ist ein statistischer Begriff, lässt sich genau berechnen. Wenn man unter der Hälfte des Durchschnittseinkommens lebt, ist man arm. Arm sein in Deutschland heißt aber natürlich noch nicht, dass man tatsächlich nicht mehr existieren kann, sondern die Würde des Menschen wird durch die Armut geraubt. Es ist nicht so, dass die Subsistenz gefährdet ist, das Überleben in Frage gestellt, sondern man lebt in nicht mehr menschenwürdigen Bedingungen, und das ist die eigentliche Katastrophe.
Lückert: Aber es geht da eigentlich nicht nur um finanzielle Dinge. Also es geht bei dieser Unterschichtsdiskussion auch darum, wie jemand von der Gesinnung her ist, so wie ich das verstehe, oder?
Bolz: Das meine ich eben auch. Es geht nicht nur um Finanzielles. Wie gesagt, wenn jemand in Deutschland arm ist, dann heißt es nicht, dass sein Überleben tatsächlich gefährdet ist, dass seine Subsistenz gefährdet ist, sondern was tatsächlich gefährdet ist, ist seine Menschenwürde, und Menschen, die viele, viele Jahre unter solchen Bedingungen leben, wo sie wirklich jede gesellschaftliche Anerkennung vermissen müssen, die verwahrlosen dann auch in der Tat, das heißt, sie bringen nicht mehr die innere Selbstdisziplin und den inneren Stolz auf, um sich noch gegen ihre Situation zu wehren, und fallen dann vollends in die Netze der sozialen Solidarität zurück, und die haben dann kaum eine Entwicklungschance, und ich denke, das meint man auch mit neuer Unterschicht. Das sind Menschen, die für sich gar keine Perspektive mehr sehen, also nicht nur Leute, die im Moment nicht genug Geld haben, sondern das sind Leute, die überhaupt keine Existenzentwürfe mehr riskieren können, die schlechterdings für sich keine andere Zukunft sehen.